Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 456
Der Arbeitnehmer ist im Fall seiner Erkrankung gem. § 5 Abs. 1 S. 1 EFZG verpflichtet, dem Arbeitgeber seine Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 Abs. 1 BGB), mitzuteilen (Anzeigepflicht). Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage, hat der Arbeitnehmer gem. § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG spätestens an dem darauffolgenden Arbeitstag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen (Nachweispflicht).
Rz. 457
Ein einmaliger Verstoß gegen die Anzeigepflicht rechtfertigt grundsätzlich weder eine ordentliche noch eine außerordentliche Kündigung (Schaub/Linck, ArbRHB, § 133 Rn 16; KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 476).
Rz. 458
Die Verletzung der Anzeige- und Nachweispflicht kann jedoch im Wiederholungsfall nach vorheriger vergeblicher Abmahnung einen Grund für eine ordentliche Kündigung darstellen (BAG v. 31.8.1989 sowie BAG v. 16.8.1991, AP Nr. 23 und 27 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung; LAG Hamm v. 9.11.1994 – 2 Sa 1168/94; LAG Hamm v. 11.12.1996 – 2 Sa 445/96, n.v.). Dies gilt auch, wenn es nicht zu einer konkreten Betriebsstörung kommt (BAG v. 23.9.1992, RzK I 5i Nr. 79; BAG v. 16.8.1991, AP Nr. 23 zu § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung). Betriebsablaufstörungen sind erst bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen (BAG v. 23.9.1992, RzK I 5i Nr. 79). In der betrieblichen Praxis hat die Verletzung der Anzeigepflicht i.d.R. ein höheres Gewicht als die nicht rechtzeitige Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Die Anzeigepflicht berührt nämlich das Dispositionsinteresse des Arbeitgebers. Er muss rechtzeitig wissen, ob der Arbeitnehmer zur Arbeit erscheint, um ggf. für eine Vertretung zu sorgen.
Rz. 459
Durch Vereinbarung im Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung, Aushang oder Weisung des Arbeitgebers kann der Arbeitnehmer verpflichtet sein, seine Verhinderung bereits vor oder bei Arbeitsbeginn mitzuteilen. Voraussetzung ist, dass der Arbeitnehmer gesundheitlich dazu in der Lage ist, seine Anzeige- und Nachweispflicht zu erfüllen. Da es sich bei der Anzeigepflicht nicht um eine höchstpersönlich zu erfüllende Pflicht des Arbeitnehmers handelt, kann die Benachrichtigung des Arbeitgebers aber auch durch einen Arbeitskollegen oder Familienangehörigen geschehen. Sucht der Arbeitnehmer morgens einen Arzt auf, weil er sich nicht wohlfühlt, kann er deshalb verpflichtet sein, den Arbeitgeber zu informieren, dass er an diesem Tag nicht zur Arbeit erscheint. Stellt der Arzt nach seiner Untersuchung Arbeitsunfähigkeit fest, tritt die unverzügliche Anzeigepflicht gem. § 5 Abs. 1 S. 1 EFZG ein.
Rz. 460
Hinweis
Da in der Praxis nicht immer genau zwischen Anzeigepflicht einerseits und Nachweispflicht andererseits unterschieden wird, sollten die Arbeitnehmer durch klare Hinweise auf die Bedeutung der Anzeigepflicht aufmerksam gemacht werden.
Rz. 461
Die Anzeigepflicht gilt auch bei Fortsetzung der Erkrankung (BAG v. 7.5.20 – 2 AZR 619/19, Rn 17). Der Arbeitnehmer muss den Arbeitgeber unverzüglich darüber informieren, dass der Arzt seine Arbeitsunfähigkeit verlängert hat (zu § 3 Abs. 1 S. 1 LFZG vgl. BAG v. 16.8.1991 – 2 AZR 604/90, zu III 1 a der Gründe). Daran hat sich mit dem insofern gegenüber § 3 Abs. 1 S. 1 LFZG unveränderten Wortlaut von § 5 Abs. 1 S. 1 EFZG nichts geändert (BAG v. 7.5.20 – 2 AZR 619/19, Rn 17). Die "voraussichtliche Dauer" der Arbeitsunfähigkeit verlängert sich bei ihrer Fortdauer über die zunächst mitgeteilte Dauer hinaus und bedarf daher einer erneuten Information des Arbeitgebers (BAG v. 7.5.20 – 2 AZR 619/19, Rn 17). Nur dies entspricht Sinn und Zweck von § 5 Abs. 1 S. 1 EFZG. Die Anzeigepflicht soll den Arbeitgeber in die Lage versetzen, sich auf das Fehlen des arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers möglichst frühzeitig einstellen zu können (zu § 3 Abs. 1 S. 1 LFZG vgl. BAG v. 31.8.1989 – 2 AZR 13/89, zu II 1 b der Gründe). Dieses Bedürfnis besteht auch bei einer Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit über den zunächst mitgeteilten Zeitraum hinaus und grundsätzlich auch unabhängig davon, ob der Arbeitgeber noch zur Entgeltfortzahlung verpflichtet ist (BAG v. 7.5.20 – 2 AZR 619/19, Rn 17, vgl. im Hinblick auf die Nachweispflicht Rdn 464). Im Hinblick auf Ausführungen in der Vergangenheit, nach denen § 5 Abs. 1 S. 1 EFZG für die Fortdauer einer Arbeitsunfähigkeit "entsprechend" gelte (BAG v. 3.11.2011 – 2 AZR 748/10, Rn 30), hat das BAG klargestellt, dies bedeute nicht, es bedürfe in diesem Fall einer analogen Anwendung der Bestimmung (BAG v. 7.5.20 – 2 AZR 619/19, Rn 17). Diese umfasse vielmehr bereits nach ihrem Wortlaut sowie dem Normzweck die entsprechende Verpflichtung auch bei Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit (BAG v. 7.5.20 – 2 AZR 619/19, Rn 17).
Eine schuldhafte Verletzung der sich aus § 5 Abs. 1 S. 1 EFZG ergebenden (Neben-)Pflicht zur unverzüglichen Anzeige der Fortdauer einer Arbeitsunfähigkeit ist grundsätzlich geeignet, die Interessen des Arbeitgebers zu beeinträchtigen, und kann daher – je nach den Umständ...