Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 746
Das Lebensalter stellt eine ambivalente Größe dar (BAG v. 21.1.1999 – 2 AZR 624/98, NZA 1999, 866; KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 674; ErfK/Oetker, § 1 KSchG Rn 332). So hat das BAG bereits 1983 festgestellt, dass die entscheidende Bedeutung, die dem Lebensalter i.R.d. Sozialauswahl früher beigemessen wurde, nur vor dem Hintergrund einer Hochkonjunktur zu verstehen sei. In einer solchen Wirtschaftsphase hätten es regelmäßig nur "im Arbeitsprozess verbrauchte Arbeitnehmer" schwer gehabt, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Das Auswahlkriterium des Lebensalters habe aber durch die Massenarbeitslosigkeit, die auch viele jüngere Arbeitnehmer betreffe, an Bedeutung verloren (BAG v. 24.3.1983, AP Nr. 12 zu § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung).
Rz. 747
Eine Kündigung kann auch für jüngere Arbeitnehmer schwerwiegende Folgen haben, insb. wenn diese aus dem Arbeitseinkommen eine Familie zu versorgen haben und wegen familiärer Bindung nur eingeschränkt örtlich flexibel sind (Schaub/Linck, ArbRHB, § 135 Rn 31). Ältere Arbeitnehmer haben demgegenüber oftmals nur noch einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum bis zum Renteneintritt vor sich und können diesen ggf. durch die Inanspruchnahme von Alg oder die Vereinbarung von Altersteilzeit überbrücken können (vgl. hierzu LAG Nds. v. 28.5.2004, LAGE KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 44a; LAG Nds. v. 23.5.2005, NZA-RR 2005, 584; beachte aber a.A. LAG Düsseldorf v. 13.7.2005, ArbUR 2006, 69 f., wonach es die nach § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG gebotene positive Berücksichtigung der vier Grundkriterien grds. ausschließt, einem Arbeitnehmer wegen "Rentennähe" eine geringere soziale Schutzwürdigkeit aufgrund seines – höheren – Lebensalters zuzugestehen sowie LAG Köln v. 2.2.2006, LAGE KSchG § 1 Soziale Auswahl Nr. 51a, wonach es sich nicht mit § 1 Abs. 3 1 KSchG vereinbaren lässt, die "Rentennähe" zulasten des Arbeitnehmers in die Sozialauswahl einzubeziehen).
Rz. 748
Schließlich hat das BAG darauf hingewiesen, dass ein Unterschied des Lebensalters von 10 Jahren in der Altersgruppe der 25- bis 35-Jährigen grds. nicht erheblich sei. Dies gelte namentlich bei Frauen, weil je nach den Umständen und der Einstellung des betreffenden Arbeitgebers die Chancen einer 35-jährigen Arbeitnehmerin am Arbeitsmarkt günstiger zu beurteilen sein könnten als diejenigen einer 25-jährigen Arbeitnehmerin (BAG v. 19.1.1999, NZA 1999, 866). Dem Altersunterschied zwischen 40- und 50-jährigen Arbeitnehmern dürfte tendenziell wiederum mehr Gewicht beizumessen sein (vgl. v. Hoyningen-Huene/Linck, § 1 KSchG Rn 935 und APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 721). Hingegen kann bei Berufen, in denen es auf eine besondere körperliche Konstitution ankommt, bereits ein mittleres Alter zu Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt führen (Wiedemann/Thüsing, NZA 2002, 1234).
Rz. 749
Vor diesem Hintergrund ist auch die Diskussion um die Vereinbarkeit des Kriteriums des Lebensalters mit dem Verbot der Altersdiskriminierung zu sehen, welches aus der Rahmenrichtlinie 2000/78/EG folgt. Der nationale Gesetzgeber hat nach Art. 6 Abs. 1 I der RL 2000/78/EG die Befugnis, eine sachgerechte unterschiedliche Behandlung wegen des Alters zuzulassen. Nach Art. 6 RL 2000/78/EG sind Ungleichbehandlungen aufgrund des Alters dann keine unmittelbare Diskriminierung, wenn sie durch ein legitimes, insb. beschäftigungs- oder arbeitsmarktpolitisches Ziel, objektiv gerechtfertigt sind und das Mittel zur Erreichung des Zweckes angemessen und erforderlich ist.
Rz. 750
Der deutsche Gesetzgeber hat in diesem Sinn zunächst versucht, mit § 10 S. 3 Nr. 6 AGG den Bedenken gegen das Kriterium Lebensalter Rechnung zu tragen. Nach dieser Regelung durfte das Alter bei der Sozialauswahl anlässlich einer betriebsbedingten Kündigung berücksichtigt werden, soweit diesem Merkmal kein genereller Vorrang ggü. anderen Auswahlkriterien zukam, sondern die Besonderheiten des Einzelfalles und die individuellen Unterschiede zwischen den vergleichbaren Arbeitnehmern, insb. die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, entschieden.
Rz. 751
Die Vorschrift schränkte daher das Beurteilungsermessen des Arbeitgebers i.R.d. § 1 Abs. 3 KSchG ein. Das Lebensalter konnte zwar als Kriterium weiterhin abstrakt berücksichtigt werden. Der Arbeitgeber musste aber abwägen, ob und ggf. inwieweit im Einzelfall zugunsten von jüngeren Arbeitnehmern von dem allgemeinen Erfahrungssatz abzuweichen war, nach dem ältere Arbeitnehmer schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben (vgl. Waltermann, NZA 2005, 1265, 1269; Hahn/Heinrich, NZA 2005, 1270, 1275; Bayreuther, DB 2006, 1842, 1845; APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 718). § 10 S. 3 Nr. 6 AGG ist allerdings durch Art. 8 Abs. 1 Nr. 1 des "Gesetzes zur Änderung des Betriebsrentengesetzes und anderer Gesetze" zum. 2.12.2006 mit Wirkung v. 12.12.2006 wieder aufgehoben worden.
Rz. 752
Das BAG hat mittlerweile entschieden, dass die Diskriminierungsverbote des AGG (§§ 1–10 AGG) i.R.d. Prüfung der Sozialwidrigkeit von Kündigungen zu beachten sind (BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 523/07, NZA 2009, 361). Eine Kündi...