Dr. iur. Berthold Hilderink, Prof. Dr. Martin Becker
Rz. 354
Das Erfordernis einer Abmahnung vor Ausspruch einer Kündigung in Ausprägung des Gedankens eines abgestuften Vorgehens bei Leistungsstörungen ist keine Besonderheit des Arbeitsrechtes, sondern entspricht dem im Schuldrecht allgemein verwurzelten Prinzip, bei Leistungsstörungen zunächst die Möglichkeit der Abhilfe einzuräumen und erst dann zu einer Kündigung des Vertragsverhältnisses zu schreiten (sog. Übermaßverbot, vgl. §§ 314 Abs. 2, 541, 543 Abs. 3, 643 und 651e Abs. 2 BGB; ausführlich hierzu v. Hoyningen-Huene, RDA 1990, 193 ff.). Bei der Kündigung eines Dauerschuldverhältnisses aus wichtigem Grund bestimmt § 314 Abs. 2 BGB, dass die Kündigung bei einer Vertragspflichtverletzung erst nach erfolglosem Ablauf einer zur Abhilfe bestimmten Frist oder nach erfolgloser Abmahnung zulässig ist. Im Fall des Rücktrittes wegen nicht vertragsgemäß erbrachter Leistungen ist das Abmahnungserfordernis in § 323 Abs. 3 BGB ausdrücklich verankert.
Rz. 355
Im KSchR wird dieser Gedanke noch verstärkt durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Arbeitgeber darf nach dem Ultima-Ratio-Prinzip erst dann zum äußersten Mittel der Kündigung greifen, wenn er dem Arbeitnehmer zuvor eine Chance gegeben hat, sich wieder vertragstreu zu verhalten. Mit dem Erfordernis einer Abmahnung vor Ausspruch einer verhaltensbedingten Kündigung soll der mögliche Einwand des Gekündigten ausgeräumt werden, er habe nicht gewusst oder nicht damit rechnen müssen, dass der Arbeitgeber sein Verhalten als pflichtwidrig ansehe und deswegen zu kündigungsrechtlichen Konsequenzen greifen werde (BAG v. 18.11.1986, NZA 1987, 418).
Rz. 356
Allerdings ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit insoweit auch nur i.R.d. normierten Kündigungsschutzes von Bedeutung (BAG v. 21.2.2001 – 2 AZR 579/99, NZA 2001, 951). Die Wirksamkeit einer Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen setzt außerhalb des Anwendungsbereiches des KSchG grds. nicht voraus, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zuvor vergeblich eine Abmahnung erteilt hat (BAG v. 21.2.2001 – 2 AZR 579/99, NZA 2001, 951; BAG v. 28.8.2003, NZA 2004, 1296).
Rz. 357
Hinweis
Es ist daher auch nicht zu empfehlen, in den ersten sechs Monaten des Bestehens eines Arbeitsverhältnisses bei einem Vertragsverstoß eine Abmahnung auszusprechen. Vielmehr dürfte in solchen Fällen i.d.R. eine Beendigungskündigung das Mittel der Wahl sein.