Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 42
Statt in die Säumnis könnte eine Partei auch erwägen, in die Berufungsinstanz fliehen, um den endgültigen Ausschluss ihres Vorbringens zu vermeiden. Allerdings sind in der Berufungsinstanz neue Angriffs- und Verteidigungsmittel nur zugelassen, wenn dies die in § 531 Abs. 2 ZPO aufgeführten besondere Gründe rechtfertigen. Dadurch wird die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit der "Flucht in die Berufung" ganz erheblich eingeschränkt. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass es seit dem Zivilprozessreformgesetz im Berufungsrechtszug unerheblich ist, ob die Berücksichtigung neuer Angriffs- oder Verteidigungsmittel die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würden. Die "Flucht in die Berufung" hat deswegen als taktisches Mittel ganz erheblich an Bedeutung verloren. Die mit einer "Flucht in die Berufung" verbundenen (Präklusions-)Risiken sind aufgrund der Umwandlung der Berufungsinstanz in ein Instrument der Fehlerkontrolle und Fehlerkorrektur massiv gestiegen. Deswegen ist – von besonders gelagerten Ausnahmefällen ggf. abgesehen – von einer "Flucht in die Berufung" dringend abzuraten.
Rz. 43
Mit Blick auf die erheblichen Folgen einer Präklusion hat der BGH entschieden, dass das Berufungsgericht nicht befugt ist, einen bereits im erstinstanzlichen Verfahren erhobenen Vortrag nachträglich gemäß §§ 296 Abs. 1, 282 Abs. 1 ZPO als verspätet zurückzuweisen.
BGH BeckRS 2014, 15333:
Zitat
Ein bereits im erstinstanzlichen Verfahren erhobener Vortrag des Geschädigten über die unterlassene Durchführung einer Operationsalternative kann im Berufungsverfahren nicht auf der Grundlage des § 531 Abs. 2 ZPO als verspätet zurückgewiesen werden. […] § 531 Abs. 1 ZPO erlaubt es nach seinem klaren Wortlaut dem Berufungsgericht lediglich zu überprüfen, ob eine Zurückweisung von Vorbringen in erster Instanz zu Recht vorgenommen worden ist. Die Entscheidung darüber, ob im ersten Rechtszug vorgetragene Angriffs- und Verteidigungsmittel als verspätet zurückgewiesen werden können, obliegt allein dem Richter dieses Rechtszuges und kann deswegen nicht vom Rechtsmittelgericht nachträglich vorgenommen werden. […]
Rz. 44
Nach ständiger, seit Langem gefestigter Rechtsprechung des BGH darf das im Rechtszug übergeordnete Gericht mithin weder eine von der Vorinstanz unterlassene Zurückweisung nachholen noch die Zurückweisung auf eine andere als die von der Vorinstanz angewandte Vorschrift stützen; das gilt unterschiedslos, ob den Gerichten bei der Entscheidung über die Präklusion ein Ermessen eingeräumt ist oder nicht, sie also bei Vorliegen der Voraussetzungen zwingend ist. Ein Wechsel der Präklusionsbegründung durch das Rechtsmittelgericht kommt grundsätzlich nicht in Betracht.