Rz. 46
Das BVerfG sieht in Arbeitskampfmaßnahmen eine koalitionsgemäße Betätigung und bezieht sie auf den Paritätsgrundsatz. Dies wiederum wird angenommen, um eine funktionierende Tarifautonomie sicherzustellen (BVerfG v. 26.6.1991, AP Nr. 117 zu § 9 GG Arbeitskampf; ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn 70). Offen geblieben ist damit in dieser Rspr. die Bewertung, ob der nicht tarifbezogene Arbeitskampf rechtmäßig ist oder nicht. Auch das BAG nimmt an, dass vor allem die Gewerkschaften auf das Streikrecht angewiesen sind, um ein annäherndes Gleichgewicht ggü. den machtmäßig überlegenen Unternehmern herzustellen. Das BAG beschränkt aber Arbeitskämpfe auf das Ziel des Abschlusses eines Tarifvertrages. Nur dies sei durch Art. 9 Abs. 3 GG gerechtfertigt. Die Funktion des Arbeitskampfes bestimme die Grenzen seiner Zulässigkeit. Der Arbeitskampf ist wegen seiner Hilfsfunktion für die Tarifautonomie gewährleistet und zulässig. Er dient dem Ausgleich sonst nicht lösbarer tariflicher Interessenkonflikte. Er ist ein Hilfsinstrument zur Sicherung der Tarifautonomie. Deshalb darf er auch nur als Instrument zur Durchsetzung tariflicher Regelungen eingesetzt werden (BAG v. 5.3.1985, AuR 1986, 220; BAG v. 7.6.1988, DB 1988, 2102; BAG v. 27.6.1989, DB 1989, 2228; BAG v. 10.12.2002, NZA 2003, 734; BAG v. 24.4.2007, DB 2007, 1924; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 24). Die tarifliche Regelbarkeit ist also eine Grenze des Arbeitskampfrechtes, vor allem des Streikrechtes. Denn es bedeutet: was tariflich nicht regelbar ist, ist auch nicht erstreikbar. Daraus folgt, dass etwa der nicht gewerkschaftlich geführte Streik, der politische Streik und der Streik zur Durchsetzung von Rechtsansprüchen nicht zulässig sein sollen. Diese Sichtweise ist die Folge der inzwischen beim BVerfG nicht mehr vertretenen sog. Kernbereichslehre (BVerfG v. 14.11.1995 – 1 BvR 601/92, AuR 1996, 151). Vor diesem Hintergrund ist das Streikziel Abschluss eines Tarifvertrages sicher ein entscheidendes, aber nicht das einzige Instrument zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Die ESC kennt die Instrumentalisierung des Streikrechtes bezogen auf den Tarifvertrag nicht (ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn 71). Hier könnte in Zukunft eine Änderung bevorstehen, zumal die Menschenrechtskonvention keinerlei Beschränkungen für die Streikforderungen enthält. Dabei ist auch für die Bundesrepublik festzuhalten, dass die Reichweite der tariflichen Regelbarkeit nicht auf das Normprogramm des § 1 Abs. 1 TVG beschränkt ist. Dies bedeutet zugleich, dass auch Tarifverträge mit lediglich schuldrechtlichen Inhalten erstreikt werden können. Gleiches gilt für Vereinbarungen ohne Tarifvertragscharakter, sofern sie vom Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 3 GG – Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen – erfasst werden (BAG v. 19.10.1976, AP Nr. 6 zu § 1 TVG: Form zu einem Vorvertrag; LAG Bremen v. 5.5.1998, AiB 1998, 537; ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn 114.
Rz. 47
Aus der Voraussetzung, dass sich ein Arbeitskampf auf die Durchsetzung tarifvertraglich regelbare Ziele beziehen muss, folgt gleichzeitig, dass der Tarifvertrag, der kampfweise durchgesetzt werden soll, einen rechtmäßigen Inhalt haben muss. Ein Arbeitskampf, der auf eine gesetzwidrige tarifliche Regelung bezogen wäre, ist unzulässig und rechtswidrig (BAG v. 4.5.1955, AuR 1955, 315; BAG v. 21.3.1978, DB 1978, 1647; BAG v. 10.12.2002, NZA 2003, 734; ErfK/Linsenmaier, GG Art. 9 Rn 115). Maßgeblich für die Bestimmung der Streikziele und der Rechtmäßigkeitsprüfung ist ausschließlich die vom dafür zuständigen Organ der Gewerkschaft beschlossene Streikforderung (BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, DB 2007, 1924). Sollte es an einer tariflichen Regelbarkeit einer Tarifforderung fehlen oder sollte die Tarifforderung einen rechtswidrigen Inhalt haben, so darf ein Streik nicht geführt werden. Geschieht dies dennoch, kann der von dem Streik betroffene Arbeitgeberverband oder der einzelne Arbeitgeber Unterlassung verlangen (BAG v. 24.7.2007, DB 2007, 1924; BAG v. 27.6.1989, NZA 1989, 969; BAG v. 26.4.1988, NZA 1988, 775). Des Weiteren kann dem Arbeitnehmer aus einem rechtswidrigen Streikgeschehen auch ein Schadensersatzanspruch nach § 823 BGB zustehen, wobei ein unzulässiger Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb zu fordern ist.
Rz. 48
Vor dem Hintergrund der tariflichen Regelbarkeit und damit Erstreikbarkeit von Tarifverträgen ist im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um die Standortpolitik ein neuer Streit im Arbeitskampfrecht entstanden. Es geht dabei um den Verzicht auf Betriebsschließungen und Standortverlagerungen, um den Verzicht der Ausgliederung oder Privatisierung. Das BAG hat inzwischen klargestellt, dass jedenfalls Streiks für einen Tarifvertrag zur Regelung der Folgen einer geplanten Betriebsstilllegung (sog. Sozialtarifvertrag) zulässig sind (BAG v. 24.4.2007 –1 AZR 252/06, DB 2007, 1924). In solchen Tarifverträgen werden Kündigungsfristen, Qualifizierungsmaßnahmen oder Abfindungen geregelt...