Rz. 12
Anlässlich der Lokomotivführerstreiks ist es vermehrt zu Diskussionen darüber gekommen, ob das Recht zum Arbeitskampf, insb. das Streikrecht, durch das Gemeinwohl begrenzt wird. Das BAG hat einmal angenommen, dass das Gemeinwohl nicht offensichtlich verletzt werden darf (BAG GS v. 21.4.1971, AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Bayreuther, NZA 2008, 12). Solche Aussagen enthalten keinen klaren und festen Kerngehalt (ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn 126). Ob eine Begrenzung durch das Gemeinwohl deswegen zu unterbleiben hat, weil dies sonst zu einer Tarifzensur führen könnte, wird vermehrt angenommen (BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, AuR 1992, 29). Dennoch ist es dazu gekommen, dass bei unerwünschten tarifpolitischen Aktivitäten von Gewerkschaften auch das Gemeinwohl als Streikschranke ins Spiel gebracht wurde (ErfK/Linsenmaier, GG, Art. 9 Rn 126 f.; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 34 Rn 45). Insgesamt gilt es aber festzuhalten, dass ein Streik betriebswirtschaftliche Schäden bei den Arbeitgebern oder Unternehmen herbeiführen kann und soll, die Höhe des wirtschaftlichen Schadens zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Streiks nicht relevant ist, es für die Bewertung eines Streikgeschehens auch unbeachtlich ist, wie es sich auf Dritte auswirkt oder ob später ein Zusammenhang mit der Beeinträchtigung der Konjunktur auszumachen ist. Wenn es darum geht, dass die Bevölkerung mit lebensnotwendigen Diensten oder Gütern versorgt werden muss, so ist dies mit Notdienstvereinbarungen sicherzustellen.
Rz. 13
Besondere Aktualität und Brisanz hat die Diskussion um die Begrenzung des Streikrechtes durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohles bei Streiks von Funktionseliten wie Ärzten, Piloten, Lokführern und Fluglotsen gefunden. Teilweise wird in diesem Zusammenhang angenommen, dass aufgrund der damit verbundenen Belastungen der Allgemeinheit und der damit einhergehenden Verletzungen des Gemeinwohles das Streikrecht im Bereich der Daseinsvorsorge eingeschränkt werden müsse. Zu denken ist an Ankündigungsfristen, weitgehende Notdienstpflichten und einen obligatorischen Schlichtungsversuch (Einzelheiten bei Berg, AuR 2020, 450, 452). Auch das ArbG Nürnberg verbot unter diesem Gesichtspunkt die Streiks der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) (ArbG Nürnberg v. 8.8.2007 – 13 Ga 65/07, AuR 2007, 320). Auch das ArbG Chemnitz sah in den Streiks der Lokführer gar eine unerträgliche Gemeinwohlbeeinträchtigung (ArbG Chemnitz v. 5.10.2007 – 7 Ga 26/07, AuR 2007, 393). Diese Rspr. ist kritisiert worden. Das LAG Sachsen hat deshalb die Entscheidung des ArbG Chemnitz aufgehoben und zutreffend ausgeführt, dass ein gerichtliches Streikverbot vor dem Hintergrund des Art. 9 Abs. 3 GG nur dann in Betracht kommt, wenn der Streik offensichtlich ungeeignet und unverhältnismäßig ist. Dies war im Fall der GDL nicht anzunehmen (LAG Sachsen v. 2.11.2007, NZA 2007, 59). Die Tatsache, dass von Streiks in der Daseinsvorsorge in vielen Fällen nicht allein bestreikte Arbeitgeber, sondern mittelbar mehr oder weniger stark auch Dritte betroffen sind, macht diese Streiks nicht unzulässig (Hess. LAG v. 7.11.2014 – 9 SaGa 1496/14; LAG Baden-Württemberg v. 31.3.2009 – 2 SaGa 1/09; LAG Sachsen v. 2.11.2007 – 7 SaGa 19/07). Allein ein mit der Durchführung eines Streiks verbundener Eingriff in Grundrechte Dritter oder andere Rechte mit Verfassungsrang, etwa von Patienten in der Gesundheitsversorgung, kann eine einzelfallbezogene Einschränkung des Streikrechts rechtfertigen. Dies erfolgt in der arbeitskampfrechtlichen Praxis i.d.R. durch von den Parteien des Arbeitskampfs autonom vereinbarte Notdienstvereinbarungen (BAG v. 31.1.1995 – 1 AZR 142/94).