Rz. 105

Der Rechtsmittelführer, der sich auf neue Angriffs- und Verteidigungsmittel beruft, kann dies nur dann mit Erfolg tun, wenn die Zulassungsvoraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO vorliegen. Angriffs- und Verteidigungsmittel sind die zur Begründung des Sachantrages oder zur Verteidigung vorgebrachten tatsächlichen und rechtlichen Behauptungen, Einwendungen und Einreden, sämtliches Bestreiten und alle Beweisanträge.[149] Neu ist das Vorbringen, wenn es bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der ersten Instanz nicht vorgetragen worden oder im Falle verspäteten Vortrages gem. § 296a ZPO bei der erstinstanzlichen Entscheidung unberücksichtigt geblieben ist.[150] Neu sind auch solche Angriffs- und Verteidigungsmittel, die die Partei zwar zunächst vorgebracht, dann aber fallengelassen hat.[151] Wird ein erstinstanzlich substantiierter Vortrag mit der Berufung konkretisiert oder erläutert, ist das Vorbringen nicht neu.[152] Dies ist etwa anzunehmen, wenn der erstinstanzliche Vortrag in der Berufungsinstanz durch ein Privatgutachten untermauert wird.[153] Anders verhält es sich, wenn der in erster Instanz unsubstantiierte Vortrag erstmals in der Berufungsinstanz substantiiert wird.[154]

 

Rz. 106

Unstreitiges Vorbringen ist in der Berufungsinstanz in jedem Fall zu berücksichtigen. Dies gilt auch dann, wenn dies eine Beweisaufnahme zu anderen tatsächlichen Feststellungen notwendig macht.[155] Für die Einrede der Verjährung hat der große Senat für Zivilsachen entschieden, dass die erstmals im Berufungsrechtszug erhobene Verjährungseinrede unabhängig von den Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 1–3 ZPO zuzulassen ist, wenn die Erhebung der Verjährungseinrede und die den Verjährungseintritt begründenden tatsächlichen Umstände zwischen den Prozessparteien unstreitig sind.[156]

 

Rz. 107

Die Zulassungsgründe des § 531 Abs. 2 ZPO sind

vom Erstgericht übersehener oder für unerheblich gehaltener Gesichtspunkt, § 531 Abs. 2 Nr. 1 ZPO
verfahrensfehlerhaft nicht berücksichtigter Gesichtspunkt, § 531 Abs. 2 Nr. 2 ZPO
neuer Vortrag, der ohne Nachlässigkeit in erster Instanz unterblieben ist, § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO
 

Rz. 108

§ 531 Abs. 2 Nr. 1 ZPO gestattet neues, d.h. in erster Instanz noch nicht geltend gemachtes Vorbringen zu tatsächlichen oder rechtlichen Gesichtspunkten, die von dem Standpunkt des Berufungsgerichts aus betrachtet entscheidungserheblich sind, von dem Eingangsgericht jedoch erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten wurden und aus einem von diesem mit zu verantwortenden Grund in erster Instanz nicht geltend gemacht worden sind. § 531 Abs. 2 Nr. 2 ZPO betrifft insbesondere den Fall, dass nach § 139 ZPO gebotene Hinweise des Eingangsgerichts unterblieben sind, die zu entsprechendem Vorbringen in erster Instanz Anlass gegeben hätten. Der Fall des § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO liegt nur dann vor, wenn der Rechtsmittelführer tatsächliche Umstände in der ersten Instanz nicht vorgebracht hat, und ihm diese Umstände und deren Bedeutung für den Ausgang des Rechtsstreits bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz weder bekannt waren noch hätten bekannt sein müssen.[157] Der Rechtsmittelführer muss zu diesen Voraussetzungen vortragen.

 

Rz. 109

Angriffs- und Verteidigungsmittel, deren materiell- rechtlichen Voraussetzungen erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung entstanden sind, sind zuzulassen. Das Vorbringen kann nicht mit dem Einwand zurückgewiesen werden, der Berufungsführer hätte die materiellen Voraussetzungen schon zu einem früheren Zeitpunkt schaffen können.[158] In Bausachen ist dies etwa bei der Erstellung neuer Schlussrechnungen in der Berufungsinstanz von Bedeutung. Hat das Erstgericht eine Forderung mangels prüfbarer Schlussrechnung abgewiesen, ohne ausreichend auf diesen Mangel der Rechnung hinzuweisen, liegt ein Verstoß gegen die Hinweispflicht vor und die neue Schlussrechnung ist gem. § 531 Abs. 2 Nr. 2 ZPO in der Berufungsinstanz zuzulassen. Ist in erster Instanz ein ausreichender Hinweis erfolgt, so ist zu prüfen, ob die sonstigen Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 ZPO vorliegen. Ein besonderer Fall liegt vor, wenn die prüfbare Abrechnung Fälligkeitsvoraussetzung ist, weil dann durch die neue Abrechnung erst die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Vergütungsanspruchs geschaffen werden. Dies betrifft die Abrechnung nach § 14 VOB/B und nach § 8 HOAI.[159] Derartige Abrechnungen, die die Voraussetzungen des Anspruchs materiell-rechtlich erst schaffen, sind zuzulassen. Dieselben Erwägungen gelten für die einer Partei nach materiellem Recht zustehenden Gestaltungsrechte, sodass ein erst nach Schluss der erstinstanzlichen mündlichen Verhandlung ausgeübtes Gestaltungsrecht bei der Entscheidung des Berufungsgerichts grundsätzlich zu berücksichtigen ist.[160] Auch besteht keine generelle Verpflichtung der Parteien, tatsächliche Umstände, die ihnen nicht bekannt sind, erst zu ermitteln.[161]

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