1. Die hier vom OLG entschiedene Frage ist eine der "heiligen Kühe" der OLG bzw. eine der Fragen, die von den OLG und ihnen folgend einige LG immer wieder falsch entschieden werden (vgl. a. noch die Nachweise bei Burhoff, in: Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl., 2021, Nr. 4124 VV Rn 29). Dazu habe ich schon manches geschrieben. Aber: Es nutzt nichts. Die h.M. in der Rspr. hält an ihrer falschen Auffassung fest. So jetzt auch das OLG Stuttgart, das dann gleich auch noch mit einem falschen amtlichen Leitsatz aufwartet. Denn natürlich ist die Verfahrensgebühr Nr. 4124 VV entstanden (dazu 2.). Das OLG übersieht – wie viele andere OLG auch – und vermischt die Frage des Entstehens der Gebühr mit der Frage der Erstattungsfähigkeit.
2. Nochmals: Die Verfahrensgebühr Nr. 4124 VV ist entstanden. Dabei kommt es auf die Frage der Beratung des Mandanten über das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und den weiteren Verfahrensgang – entgegen der Auffassung des OLG – gar nicht an. Denn der Pflichtverteidiger hat die Berufungsschrift der Staatsanwaltschaft entgegengenommen und an den Mandanten weiter geleitet, entsprechendes gilt für die Rücknahmeerklärung. Damit sind Tätigkeiten nach Einlegung der Berufung des Gegners – das übersieht das OLG – erbracht, die zur Verfahrensgebühr führen. Sie entsteht nach Vorbem. 4 Abs. 2 VV – das OLG sollte dort einmal nachlesen – für jede (!) Tätigkeit des Rechtsanwalts. Ich empfehle dem OLG i.Ü. in dem Zusammenhang auch die Lektüre der Entscheidung des LG Detmold AGS 2021, 78.
3. Etwas anderes gilt übrigens auch dann nicht, wenn man mit dem OLG auf die Beratung des Verurteilten abstellt. Denn der hat – entgegen der Auffassung des OLG – Beratungsbedarf. Davon ist früher auch das OLG Stuttgart ausgegangen (vgl. StV 1998, 615). Warum man das jetzt anders sieht, begründet das OLG nicht. Vielleicht liegt das daran, dass man das auch nicht begründen kann. Denn warum soll der Verurteilte, dem eine zu seinem Nachteil eingelegte Berufung der Staatsanwaltschaft ins Haus steht, darüber nicht beraten werden dürfen? Etwas anderes folgt nicht aus der vom OLG zitierten Fundstelle bei Müller-Rabe, in: Gerold-Schmidt (a.a.O.) zur Kommentierung von § 19 RVG. Denn die vom OLG herangezogene Rn 123 bezieht sich auf eine "Beratung vor der Rechtsmitteleinlegung". Damit hat man es in diesen Fällen aber überhaupt nicht zu tun. Vielmehr handelt es sich um die "Beratung nach der Rechtsmitteleinlegung", und zwar durch den Gegner. Und für den Fall vertritt Müller-Rabe bei Rn 124 (!) genau das Gegenteil von dem, was das OLG entschieden hat.
4. Ist die Verfahrensgebühr Nr. 4124 VV aber entstanden, dann hat sie in diesen Fällen die Staatskasse auch zu erstatten. In meinen Augen ist es einfach falsch, wenn das OLG schreibt: "Grds. ist dem Angeklagten ein Zuwarten auf die Rechtsmittelbegründung zumutbar, um sodann mit seinem Verteidiger die notwendigen Maßnahmen zur Verfolgung seiner Interessen zu ergreifen. Rechtsstaatliche Interessen des Angeklagten werden hierdurch nicht beeinträchtigt." Das ist m.E. nicht nur nicht zumutbar, sondern sicherlich auch nicht mit dem Rechtsgedanken der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung im Jahr 2019 in Umsetzung der sog. PKH-Richtlinie zu vereinbaren. Deren Ziel war es ja, möglichst umfassenden rechtlichen Beistand zu gewähren. An der Stelle soll es ihn dann aber nicht geben? Zudem: Was das OLG hier mal wieder propagiert, ist Verteidigung zum "Nulltarif". Sie gibt es aber nicht, bzw. warum muss man das "Sonderopfer", das man dem Pflichtverteidiger mit der Pflichtverteidigung gebührenrechtlich auferlegt, eigentlich noch erhöhen. Auch hier hätte vielleicht LG Detmold AGS 2021, 78 geholfen.
Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg
AGS 4/2021, S. 171 - 173