Der Umstand, dass das OLG Hamburg den schon am 4.11.2022 verkündeten Beschluss den Zeitschriften erst im Februar 2024 zur Veröffentlichung angeboten hat, ist wohl darauf zurückzuführen, dass der für Kostensachen nunmehr zuständige 4. Zivilsenat des OLG die Kostensachen erst im Jahr 2022 von den bisher langjährig zuständig gewesenen 8. Zivilsenat übernommen hatte.
1. Zusatzgebühr
Der Entscheidung des OLG Hamburg zum Anfall der Zusatzgebühr ist zuzustimmen. Das OLG neigt zu Recht der wohl überwiegenden Auffassung zu, dass der besondere Umfang der Beweisaufnahme dadurch gesetzlich indiziert wird, als es sich um mindestens drei gesetzliche Termine handeln muss, in denen Sachverständige oder Zeugen vernommen worden sind. Hierfür spricht die erstaunlicherweise nur drei Sätze umfassende Gesetzesbegründung (s. BT-Drucks 11/11471(neu) v. 14.11.2012, 272):
Zitat
"Die vorgeschlagene Zusatzgebühr soll den besonderen Aufwand bei sehr umfangreichen Beweisaufnahmen ausgleichen. Durch diese Gebühr sollen aber keine Fehlanreize gesetzt werden, die dazu animieren könnten, zusätzliche Beweisaufnahmetermine zu provozieren. Die Hürde bis zu einem dritten Beweistermin erscheint hierfür ausreichend."
Schon die Hürde von drei Beweisterminen soll somit ausreichen, um die Zusatzgebühr, die in einem Zivilprozess immerhin einen Gebührensatz von 0,3 hat, verdienen zu können. Dass der Gesetzgeber noch eine weitere Hürde, nämlich einen besonderen Umfang der Beweisaufnahme, aufstellen wollte, ist nicht ersichtlich.
Da es sich bei der Zusatzgebühr Nr. 1010 VV um eine anwaltliche Gebühr handelt, ist – wenn überhaupt – darauf abzustellen, ob es sich für den Rechtsanwalt um eine "besonders umfangreiche Beweisaufnahme" gehandelt hat. Richter und Rechtspfleger übersehen immer wieder, dass sich die hauptsächliche anwaltliche Tätigkeit nicht in den Prozessakten widerspiegelt und damit auch nicht in den Sitzungsniederschriften über Beweisaufnahmen. Die Hauptarbeit des Prozessbevollmächtigten liegt vielmehr in deren Vorbereitung, und damit auch in der Vorbereitung einer Vernehmung eines Sachverständigen oder Zeugen. Dieser Aufwand lässt sich den Prozessakten nicht entnehmen. Der mit dem Kostenfestsetzungsverfahren befasste Rechtspfleger müsste somit erst einmal durch Nachfrage bei dem betreffenden Rechtsanwalt im Einzelnen ermitteln, welchen Aufwand dieser für die Beweisaufnahme betrieben hat. Dann müsste er prüfen, ob es sich im Ergebnis um eine besonders umfangeiche Beweisaufnahme gehandelt hat. Diese Prüfung müsste durch den Rechtspfleger erfolgen, der im Zivilprozess mit der Beweisaufnahme nun gar nichts zu tun hat und somit keinerlei praktische Erfahrungen oder empirische Erkenntnisse hat, wann eine Beweisaufnahme umfangreich ist oder nicht.
Soweit N. Schneider in AnwK RVG, 9. Aufl., 2021, Nr. 1010 VV Rn 7 die Hoffnung äußert, entsprechende Kriterien zu einer besonders umfangreichen Beweisaufnahme werde die Rspr. sicherlich noch herausarbeiten, hat er sich getäuscht. In den noch nicht einmal eine Hand voll umfassenden Gerichtsentscheidungen, die sich mit der Zusatzgebühr befasst haben, wird zu diesem Kriterium nicht Stellung genommen. Vorliegend hat das OLG Hamburg nur allgemeine Kriterien angeführt und hauptsächlich darauf hingewiesen, dass die Sitzungsniederschrift vom 8.1.2021 einen erhöhten Aufwand und Umfang der Beweisaufnahme belege.
2. Einigungsgebühr
Auch insoweit halte ich die Entscheidung des OLG Hamburg für zutreffend. Die Einigungsgebühr ist sowohl dem Terminsvertreter als auch dem Hauptbevollmächtigten angefallen. Beide Einigungsgebühren, die zu der gesetzlichen Vergütung des jeweiligen Rechtsanwalts zählen, sind gem. § 91 Abs. 2 S. 1 ZPO erstattungsfähig. Anhaltspunkte dafür, dass ausnahmsweise die zum Anfall der Einigungsgebühr führenden Tätigkeiten der Rechtsanwälte nicht notwendig gewesen sein sollten, sind nicht erkennbar. Zwar hat die Klägerin den durch Mitwirkung des Terminsvertreters geschlossenen Vergleich widerrufen. Dies war jedoch ihr gutes Recht, hat sie nämlich lediglich von dem Widerrufsvorbehalt Gebrauch gemacht. Dass der Widerruf nur deshalb erfolgt wäre, um die Einigungsgebühr in der Person des Hauptbevollmächtigten ein zweites Mal auszulösen, ist bei der Prozessgeschichte abwegig.
VorsRiLG a.D. Heinz Hansens, Berlin
AGS 5/2024, S. 218 - 221