Leitsatz (amtlich)

1. Die Regelung des § 85 Abs. 2 ZPO zur Zurechnung anwaltlichen Verschuldens ist auf die Versäumung der Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG im Rahmen der nachträglichen Klagezulassung nach § 5 KSchG nicht anzuwenden (Abweichung von BAG 11. Dezember 2008 – 2 AZR 472/08BAGE 129, 32 = AP § 4 KSchG 1969 Nr. 68 = NZA 2009, 692).

2. Schlaglichter zu historischen Hintergründen der Zurechnung anwaltlichen Verschuldens an Fristversäumnissen im allgemeinen Zivilprozess und deren teleologisch geprägter Unterscheidung von den Verhältnissen bei erstmaliger Eröffnung gerichtlichen Rechtsschutzes als Ziel der Kündigungsschutzklage.

 

Tenor

I. Die Kündigungsschutzklage wird nachträglich zugelassen.

II. Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.

III. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 7.384,95 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Es geht – vorab – um nachträgliche Zulassung (§ 5 Abs. 1 Satz 1 KSchG[1]) einer verspäteten (§ 4 Satz 1 KSchG[2]) Kündigungsschutzklage. – Vorgefallen ist dies:

I. Die (heute[3]) 59-jährige Klägerin steht seit August 1983 in den Diensten des beklagten Vereins, der mit regelmäßig mehr als zehn Arbeitspersonen eine Privatschule betreibt. Hier war die Klägerin bis zu den Ereignissen, die den Hintergrund des Rechtsstreits bilden, seit Januar 2004 gegen eine Vergütung von monatlich 2.461,65 Euro in Vollzeit als Küchenhilfe und Reinigungskraft beschäftigt[4].

II. Mit besagten „Ereignissen” hat es folgende Bewandtnis:

1. Die Klägerin hatte eine Tochter, deren Lebensgefährte sie am 29. Mai 2010 mit Messerstichen tötete. Es war die Klägerin, die ihre Tochter seinerzeit verblutet auffand[5].

2. Nach diesem Erlebnis war sie zunächst nicht mehr in der Lage, ihren Arbeitsaufgaben im Hause des Beklagten nachzukommen[6]. Daher befand sie sich etwa ein Jahr lang in ärztlicher Behandlung[7].

3. Welche Begegnungen oder Kontakte sich während dieser Zeit zwischen den Parteien ergaben, ist nicht im Einzelnen festgestellt[8]. Angaben der Klägerin zufolge, beabsichtigte sie jedoch „Mitte Mai 2011”, „den Beklagten aufzusuchen und ihn darüber zu informieren, dass sie wieder gesund” sei und ihre Arbeit aufnehmen wolle[9]. Unstreitig ist, dass in einem insoweit zur Terminabsprache vonseiten des Beklagten geäußert wurde, „die Klägerin am 18.05.2011 aufsuchen zu wollen”[10]. Unstreitig ist weiter, dass es zur Wiederaufnahme der Arbeit tatsächlich nicht kam.

4. Stattdessen geschah dies:

Mit Schreiben vom 18. Mai 2011[11] (Kopie: Urteilsanlage I.), das die Klägerin am selben Tag empfing[12], erklärte der Beklagte unter Berufung auf „krankheitsbedingte Gründe” die (fristgerechte) Kündigung des Arbeitsverhältnisses. – Hiernach informierte die Klägerin nach eigener Darstellung dessen Vorstand „über ihre Genesung und teilte ihm mit, von ihrem Arzt mit Wirkung zum 14.06.2011 wieder als arbeitsfähig eingestuft worden zu sein”[13]. – Es half nichts: Der Beklagte teilte „lediglich mit, dass es bei der Kündigung bleibe”[14].

III. Die Klägerin kümmerte sich nun um einen Anwaltstermin. Dieser kam (wohl[15]) am 23. Mai 2011 mit Herrn Rechtsanwalt J. Sch. (geboren im März 1934[16]) zustande, der sie schon in anderer Sache vertrat. Was sich bei der Unterredung und im Einzelnen abspielte und wie es Herrn Rechtsanwalt Sch. dabei (gesundheitlich) erging, ist im Detail nicht ausgeleuchtet. – Anzunehmen[17] ist jedoch, dass Rechtsanwalt Sch. Klageauftrag erhielt.

1. Acht Tage später, nämlich am 31. Mai 2011 fand Herr Rechtsanwalt Sch. Notaufnahme im Klinikum Berlin-Spandau, nachdem er am gleichen Tage (wohl[18]) einen Schlaganfall erlitten hatte. Weitere acht Tage später und zugleich drei Wochen nach Zugang des Kündigungsschreibens vom 18. Mai 2011 (8. Juni 2011), lag eine Kündigungsschutzklage bei Gericht nicht vor.

2. Das änderte sich nochmals acht Tage später: Am 14. Juni 2011 nahm die Klägerin telefonisch Kontakt zum Büro ihrer Bevollmächtigten auf, um sich „nach dem Sachstand” zu erkundigen[19]. Dort war von einem entsprechenden Klageauftrag nichts bekannt[20]. Allerdings stieß man bei einer Suche auf die vorerwähnte Akte der Klägerin aus anderer Sache, und zwar „auf einem Stapel weiterer Akten, der sich auf dem Schreibtisch des Kollegen Sch. befand”[21].

3. Nun widmete sich der jetzige Bevollmächtigte der Klägerin (Herr Rechtsanwalt T. K.) der Angelegenheit.

IV. Am 16. Juni 2011 ging bei Gericht sodann die sechs Tage darauf (22. Juni 2011) zugestellte Kündigungsschutzklage ein, mit der die Klägerin den Antrag auf nachträgliche Zulassung verbindet: Sie hält die Kündigung für sozial ungerechtfertigt und die Versäumung der Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG[22] im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 KSchG[23] für nicht vorwerfbar: So sei der Kollege (Rechtsanwalt Sch.) bereits am Tage der Besprechung mit der Klägerin stark angespannt und gesundheitlich angeschlagen gewesen[24]. Er habe ein stark gerötetes Gesicht gehabt und sei häufig um Haltung bemüht gewesen[25]. Dieser Zustand habe im Wesentlichen unverändert bis zum 31. Mai 2011 angedauert[...

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