Entscheidungsstichwort (Thema)

Tariflicher Zuschuß zum Kurzarbeitergeld - Unzulässigkeit der Ungleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten - Auswirkungen der Verfassungswidrigkeit der Tarifregelung - Schließung der entstandenen Tariflücke - Vertrauensschutz?

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Tarifvertragsparteien sind an den allgemeinen Gleichheitssatz gebunden.

2. Für eine tarifliche Regelung, die Angestellten im Gegensatz zu gewerblichen Arbeitnehmern unbegrenzt einen Zuschuß von 50% des Nettoeinkommensverlusts zum Kurzarbeitergeld gewährt, bestehen keine sachlichen Differenzierungsgründe.

a. Unterschiedliche Kündigungsfristen stellen - selbst wenn sie ihrerseits Art 3 Abs 1 GG entsprechen - keinen solchen Differenzierungsgrund dar. Da durch Betriebsvereinbarungen ohne Rücksicht auf Kündigungsfristen Kurzarbeit angeordnet werden kann (BAG - 2 AZR 415/90 vom 14.02.1991 = DB 1991, 1990 = NZA 1991, 607f), liegt kein Verzicht auf tarifliche Kündigungsfristen vor. Auch eine befristete längere Bindung des Angestellten an den Betrieb während der Kurzarbeit kann nicht für einen unbegrenzten Zuschuß als Rechtfertigung dienen.

b. Unterschiede zwischen Lohn- und Gehaltsgefüge rechtfertigen keine Sonderleistungen im wirtschaftlichen Ausnahmefall.

c. Zweck des Zuschusses ist nicht, flexibel reagieren zu können, sondern die wirtschaftliche Notlage bei Kurzarbeit auszugleichen. Deshalb kann nicht darauf verwiesen werden, die meisten Arbeiter würden in der Produktion verwendet.

d. Der bloße Statusunterschied rechtfertigt die Differenzierung ebenfalls nicht (BVerfG - 1 BvL 16/75, 1 BvL 36/79 vom 16.11.1982 = DB 1983, 450 = AP Nr 16 zu § 622 BGB und BVerfG - 1 BvL 2/83 vom 30.05.1990 = DB 1990, 1565 = AP Nr 16 zu § 622 BGB = AP Nr 28 zu § 622 BGB).

3. Die Verfassungswidrigkeit bewirkt nicht, daß die gesamte gewährende Regelung nichtig ist, vielmehr liegt der Verfassungsverstoß nur im Ausschluß der zu unrecht Benachteiligten (BVerfG - 1 BvR 515/63 vom 28.11.1967 = AP Nr 101 zu Art 3 GG, gegen BAG - 4 AZR 234/84 vom 13.11.1985 = DB 1986, 542 = AP Nr 136 zu Art 3 GG). Es bleibt offen, ob die Regelung in schuldrechtlicher Hinsicht zwischen den Tarifpartnern insgesamt unwirksam ist. Der Gestaltungsspielraum der Tarifpartner nach Art 9 Abs 33 GG verbietet es, aus einer gleichheitswidrigen Benachteiligung eine automatische Anpassung nach oben abzuleiten.

4a. Die entstandene Tariflücke kann nicht durch ergänzende Vertragsauslegung gefüllt werden, da der mutmaßliche Wille der Tarifvertragsparteien nicht feststellbar ist.

b. Auch ein Rückgriff auf eine unwirksam abbedungene gesetzliche Regelung (dazu BAG - 2 AZR 323/84(C) vom 10.03.1994 = DB 1994, 1425) liegt nicht vor, § 615 BGB ist nicht einschlägig; bei Kurzarbeit entfällt der Beschäftigungsanspruch anteilig.

5. Da jedoch die gewährende Regelung weiter gilt, gibt es für die Tarifvertragsparteien nur eine praktische Möglichkeit, rückwirkend für die Vergangenheit die Tariflücke in verfassungsmäßiger Weise auszufüllen, die Gewährung der Leistung (vgl BVerfG - 1 BvL 122/78, 1 BvL 61/79, 1 BvL 21/77 vom 08.10.1980 = BVerfGE 55, 100, 112ff). Das gilt jedenfalls, wenn schon Massenklagen anhängig sind, weil es dann nicht mehr um Einzelfälle geht, deren Ungleichbehandlung während des Anpassungsprozesses möglicherweise hingenommen werden müßte (Dazu BVerfG - 1 BvL 26/93 vom 25.01.1994 = NJW 1994, 1340f; BAG - 2 AZR 657/87(C) vom 17.03.1994 = DB 1994, 1476f).

6. Vertrauensschutzgesichtspunkte stehen dem Ergebnis nur entgegen, wenn der Arbeitgeber die Aufwendungen nicht erwirtschaftet oder sie seine Existenz in Frage stellen würden (vgl BVerfG - 1 BvR 496/87 vom 28.09.1992 = DB 1992, 2511-2512 und BAG - 3 AZR 173/92 vom 28.07.1992 = DB 1993, 169).

 

Orientierungssatz

Berufung beim LArbG Bremen eingelegt unter dem Aktenzeichen 1 Sa 386-388/94.

 

Normenkette

TVG § 4; GG Art. 3 Abs. 1

 

Fundstellen

DB 1994, 2629 (L1-6)

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