Normenkette

BGB §§ 626, 140, 615; KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung; ArbGG 1953 § 67; ZPO § 565; BetrVG 1972 § 87 Abs. 1 Nrn. 2-3

 

Verfahrensgang

LAG Düsseldorf (Urteil vom 01.03.1978; Aktenzeichen 10 Sa 1522/74)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 1. März 1978 – 10 Sa 1522/74 – wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Der am 2. Januar 1913 geborene Kläger war bei der Beklagten, die u. a. die Tageszeitung “R… Post” mit verschiedenen Lokalausgaben verlegt und druckt, seit dem 22. September 1958 als Schriftsetzer in der Anzeigensetzerei mit einem monatlichen Durchschnittsverdienst von zuletzt 1.500,-- DM netto beschäftigt. Insgesamt sind in der Verlags- und Buchdruckerei der Beklagten ungefähr 1.000 Arbeitnehmer tätig. Der Kläger war früher Mitglied des Wirtschaftsausschusses und Mitglied des Betriebsrats der Beklagten; er war auch Vertrauensmann der IG Druck und Papier.

Am 15. März 1974 fanden zwischen dem Betriebsrat und der Geschäftsleitung der Beklagten, wie schon in den vorangegangenen Wochen, Verhandlungen über Änderungen der bisherigen Arbeitsbedingungen statt. Verhandlungsgegenstand an diesem Tage war die Einführung einer neuen Arbeitszeit zum 1. April 1974.

Nach Arbeitsbeginn um 17.30 Uhr versammelten sich die Mitarbeiter der Nachtschicht der Zeitungssetzerei, darunter auch der Kläger, um 17.45 Uhr ohne Kenntnis der Geschäfts- und der technischen Betriebsleitung in der Anzeigenmaschinensetzerei, um vom Betriebsrat Auskunft über den Stand der Verhandlungen zu erhalten. Während der Versammlung war die Herstellung der Wochenendausgabe vom 16. März 1974 unterbrochen. Nachdem sie davon unterrichtet worden waren, erschienen der Geschäftsführer Dr. Sch…, der Prokurist R… und der Schriftsetzermeister K… in der Anzeigenmaschinensetzerei und forderten die Arbeitnehmer auf, wieder an die Arbeit zu gehen. Der Kläger, der von Dr. Sch… persönlich angesprochen und zur Fortsetzung der Arbeit aufgefordert wurde, erwiderte hierauf, wenn Dr. Sch… ihn zwingen wolle, gehe er lieber nach Hause und stempeln. Als nunmehr vier Mitglieder des Betriebsrats in die Setzerei kamen, verließen die Angehörigen der Geschäftsleitung den Raum. Nachdem eine vom Kläger geleitete Abstimmung unter den Arbeitnehmern dieser Abteilung eine Mehrheit von zehn zu acht Stimmen für eine sofortige Arbeitsniederlegung ergeben, der Kläger aber seine Arbeitskollegen angesichts dieses knappen Abstimmungsergebnisses zur Weiterarbeit veranlaßt hatte, löste sich die Versammlung um 18.50 Uhr auf; ab 19.00 Uhr wurde wieder gearbeitet. Als gegen 19.30 Uhr der Geschäftsführer Dr. Sch… und der Prokurist R… die Anzeigensetzerei aufsuchten, um auf einen Ausgleich des durch die Versammlung eingetretenen Zeitverlustes hinzuwirken, informierte sie der Kläger über die Abstimmung und deren Ergebnis.

Gegen 23.00 Uhr stimmten die Mitarbeiter der Anzeigensetzerei wiederum über eine Arbeitsniederlegung ab, wobei der Kläger erneut die Abstimmung leitete. Daraufhin verließen mit Beginn der Arbeitspause, die von 23.00 Uhr bis 23.30 Uhr dauerte, 53 Arbeitnehmer der Anzeigensetzerei – darunter auch der Kläger und einige Arbeiter der Textsetzerei – ihren Arbeitsplatz und das Betriebsgelände, ohne bis zum Schichtende um 1.30 Uhr zurückzukehren. Insgesamt konnten deswegen am Sonnabend, dem 16. März 1974, fünf Lokalausgaben der “R… Post” (V…, R…, M…, H… und O…) nicht erscheinen.

Mit Schreiben vom 16. März 1974 bat die Beklagte den Betriebsrat um Zustimmung zur fristlosen Entlassung des Klägers, weil der Kläger “als Rädelsführer eine Arbeitsniederlegung in seiner Abteilung bewirkt bzw. an dieser teilgenommen” und aufgrund seines Tätigwerdens als Rädelsführer die Grundlage des Arbeitsvertrages völlig zerstört habe. Nachdem der Betriebsrat einer außerordentlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses zugestimmt hatte, kündigte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 19. März 1974 “aufgrund der bekannten Vorfälle vom 15. März 1974” fristlos. Von einer weiteren, von ihr beabsichtigten Kündigung eines anderen Arbeitnehmers hat die Beklagte abgesehen, nachdem der Betriebsrat dieser Kündigung nicht zugestimmt hatte.

Mit seiner Klage wendet sich der Kläger gegen die ihm gegenüber ausgesprochene Kündigung und verlangt von der Beklagten Fortzahlung seines Arbeitsentgelts bis einschließlich August 1974. Er hat vorgetragen:

Er sei keineswegs als Rädelsführer tätig geworden. Vielmehr habe er sich während der Ereignisse am 15. März 1974 ruhig und zurückhaltend benommen. Er habe sich bemüht, auf seine Arbeitskollegen mäßigend einzuwirken und eine spontane Arbeitsniederlegung zu verhindern. Die Abstimmungen gegen 19.00 Uhr und 23.00 Uhr habe er nur durchgeführt, weil ihn seine Arbeitskollegen, die ihm erhebliches Vertrauen entgegenbrächten, dazu aufgefordert hätten. Die Geschäftsleitung der Beklagten selbst habe ihn in die Lage eines Wortführers hineinmanövriert, indem sie ihn als Mittelsmann benutzt habe. Allein seinem Einfluß sei es zuzuschreiben, daß die D… Ausgabe der “R… Post” habe erscheinen können.

Der Kläger hat beantragt,

1. festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung vom 19. März 1974 nicht aufgelöst worden ist und weiter fortbesteht,

2. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 13.665,65 DM brutto nebst 4 % Zinsen von 2.496,35 DM seit dem 16. Mai, von 2.585,36 DM seit dem 24. Juni, von 2.152,76 DM seit dem 8. Juli und 5.479,77 DM seit dem 20. August 1974 abzüglich 5.089,20 DM netto zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen:

Der Kläger habe sich schon im September 1969 als Rädelsführer bei einer Arbeitsniederlegung betätigt. In gleicher Weise habe er sich auch in der Nacht vom 10. zum 11. April 1973 hervorgetan. Am 10. April 1973 hätten für den Tarifbereich der Druckindustrie in München Lohnverhandlungen stattgefunden. Kurz vor 24.00 Uhr dieses Tages, und zwar 10 Minuten nach Andruck der Ausgabe D… der “R… Post”, sei der Kläger im Gefolge von Teilen der Belegschaft der Zeitungssetzerei in der Rotation erschienen und habe erklärt: “Wir wollen nun endlich wissen, was es in München gegeben hat; vorher gehen wir nicht an die Arbeit”. Daraufhin seien sofort alle Rotationsmaschinen abgestellt worden, und nahezu die gesamte Belegschaft des Zeitungsbetriebes habe sich in der Rotationshalle versammelt. Am 15. März 1974 habe der Kläger in der Versammlung kurz nach 17.45 Uhr ebenfalls die Rolle des Wortführers und Sprechers übernommen. Schon auf die erste, allgemein an die versammelten Arbeitnehmer gerichtete Frage ihres Geschäftsführers Dr. Sch…, was hier vor sich gehe, habe sich der Kläger aus eigenem Antrieb, ohne persönlich angesprochen worden zu sein, gemeldet und erklärt, er und seine Kollegen würden nicht arbeiten, bis der Betriebsrat sie informiert habe. Mit dieser Initiative habe der Kläger sich selbst außerhalb der anonymen Menge der Streikenden gestellt und deren Führung übernommen. Wenn der Kläger auch vielleicht nur das ausgesprochen habe, was der größte Teil der übrigen Streikenden gedacht habe, so ändere dies nichts daran, daß der Kläger als ihr Anführer anzusehen sei. Er habe als einziger den Mut gefunden, sich auf eine an die Allgemeinheit gerichtete Frage zu exponieren und das Wort zu ergreifen, ohne daß irgendein Solidaritätsdruck auf ihn ausgeübt worden wäre. Die lediglich in der Anzeigensetzerei durchgeführten Abstimmungen habe der Klägers ebenfalls persönlich veranlaßt. Durch seine Antwort auf die Aufforderung ihres Geschäftsführers Dr. Sch…, die Arbeit wieder aufzunehmen, habe der Kläger für seine Arbeitskollegen ein Signal gesetzt und wesentlich zur Versteifung der Haltung der Streikenden beigetragen, zumal er – wie er im gesamten Prozeßverlauf stets betont habe – aufgrund seiner langjährigen Betriebszugehörigkeit, seines Lebensalters und seiner Lebenserfahrung, seiner früheren Zugehörigkeit zum Betriebsrat und zum Wirtschaftsausschuß sowie als Vertrauensmann der Gewerkschaft eine hervorgehobene Stellung innerhalb seiner Kollegen besessen habe. Auch beim Verlassen des Betriebes gegen 23.00 Uhr habe der Kläger keineswegs unter einem unausweichlichen Solidaritätsdruck gestanden. Von den 70 Mitarbeitern der Nachtschicht in der Zeitungssetzerei hätten nur 53 die Arbeit niedergelegt. Die restlichen Mitarbeiter hätten weitergearbeitet, ohne daß sie deswegen Pressionen seitens der übrigen Belegschaft ausgesetzt gewesen wären.

Das Arbeitsgericht hat nach Beweiserhebung die Klage abgewiesen.

Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zunächst mit Urteil vom 30. Juni 1975 zurückgewiesen.

Auf die dagegen gerichtete Revision des Klägers hat das Bundesarbeitsgericht durch Urteil vom 17. Dezember 1976 – 1 AZR 772/75 – (AP Nr. 52 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, auch zum Abdruck in der Amtlichen Sammlung bestimmt) dieses Berufungsurteil wegen unvollständiger Abwägung der beiderseitigen Interessen aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Nach der Zurückverweisung hat die Beklagte hilfsweise geltend gemacht, die von ihr ausgesprochene außerordentliche Kündigung müsse für den Fall ihrer Unwirksamkeit in eine ordentliche fristgemäße Kündigung umgedeutet werden. Der Kläger ist einer solchen Umdeutung entgegengetreten.

Das Landesarbeitsgericht hat nach weiterer Beweisaufnahme das erstinstanzliche Urteil abgeändert und der Klage nunmehr stattgegeben.

Hiergegen hat die Beklagte Revision eingelegt, mit der sie ihr Klageabweisungsbegehren weiterverfolgt.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Die von der Beklagten ausgesprochene außerordentliche Kündigung vom 19. März 1974 ist weder als solche noch als ordentliche Kündigung, falls sie dahin umgedeutet werden müßte, wirksam, so daß das Landesarbeitsgericht der Klage im Ergebnis mit Recht stattgegeben hat.

I. Das Landesarbeitsgericht hat einen die fristlose Entlassung des Klägers rechtfertigenden wichtigen Kündigungsgrund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB verneint, weil es der Beklagten bei der gebotenen umfassenden Abwägung der beiderseitigen Interessen zuzumuten gewesen sei, das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger trotz seines am 15. März 1974 gezeigten vertragswidrigen Verhaltens wenigstens noch bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen.

1. Bei der rechtlichen Beurteilung der Vorgänge in der Zeitungssetzerei der Beklagten am 15. März 1974 ist das Landesarbeitsgericht in Übereinstimmung mit dem in dieser Sache ergangenen Senatsurteil vom 17. Dezember 1976 – 1 AZR 772/75 – (AP Nr. 52 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, auch zum Abdruck in der Amtlichen Sammlung bestimmt) davon ausgegangen, daß die Arbeitsniederlegungen des Klägers und seiner Arbeitskollegen rechtswidrig waren. Die erste Arbeitsniederlegung in den späten Nachmittagsstunden des 15. März 1974 diente zwar der Information der Arbeitnehmer der Zeitungssetzerei durch Betriebsratsmitglieder über den Stand der zwischen der Beklagten und dem Betriebsrat geführten Verhandlungen zur Neuregelung der Arbeitszeit ab 1. April 1974. Es handelte sich hierbei jedoch nicht um eine ordnungsgemäße Betriebsversammlung während der Arbeitszeit im Sinne der §§ 42 ff. BetrVG, so daß die Arbeitnehmer nicht berechtigt waren, die Arbeit zu unterbrechen. Die Arbeitsniederlegung in den Nachtstunden war schon wegen des damit verfolgten Zieles ungerechtfertigt. Die Arbeitnehmer wollten auf die Beklagte bei ihren Verhandlungen mit dem Betriebsrat über die Änderung der Arbeitszeit, also in einer nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG mitbestimmungspflichtigen Frage, Druck ausüben. Wie der Senat in dem vorerwähnten Urteil ausgesprochen hat, darf wegen betriebsverfassungsrechtlicher Streitfragen ein Arbeitskampf im Betrieb nicht geführt werden, um etwa auf diesem Wege den Abschluß einer Betriebsvereinbarung zu erzwingen. Vielmehr müssen alle Meinungsverschiedenheiten auf dem Gebiet der Betriebsverfassung auf friedlichem Wege in dem dafür gesetzlich vorgesehenen Verfahren durch Anrufung der Einigungsstelle oder des Arbeitsgerichts ausgetragen werden.

2. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts war sich der Kläger über die Vertragswidrigkeit der Arbeitsniederlegungen im klaren. Er wußte auch, daß durch die gemeinsame Niederlegung der Arbeit durch mehr als 50 Arbeitnehmer die fristgebundene Fertigstellung und Auslieferung von Teilen der Wochenend-Ausgabe der Zeitung “R… Post” verhindert würde. Er hat sich an der zweiten Arbeitsniederlegung in den Nachtstunden beteiligt, obwohl er bereits aus Anlaß der ersten Arbeitsniederlegung durch den Geschäftsführer der Beklagten abgemahnt und ihm damit sein Fehlverhalten deutlich gemacht worden war. Dies alles hat das Landesarbeitsgericht mit Recht zu Lasten des Klägers gewertet. Es hat ferner erschwerend in Betracht gezogen, daß der Kläger bei der ersten Arbeitsniederlegung am späten Nachmittag auf die Aufforderung des Geschäftsführers der Beklagten zur Wiederaufnahme der Arbeit antwortete, er gehe lieber nach Hause und stempeln. Diese Antwort habe – so führt es hierzu aus – sicherlich Signalwirkungen für seine Arbeitskollegen gehabt und Akzente im Sinne einer Versteifung der Haltung der Streikenden gesetzt.

3.a) Entscheidende Bedeutung für das Vorliegen eines wichtigen Kündigungsgrundes hat das Landesarbeitsgericht jedoch der Frage beigemessen, ob der Kläger als Rädelsführer tätig geworden ist. Diese Frage war nach dem zurückverweisenden Senatsurteil vom 17. Dezember 1976 ein wesentlicher Umstand, von dessen Klärung die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung abhängen konnte. Hierzu heißt es in dem genannten Senatsurteil:

“Das angefochtene Urteil geht davon aus, der Kläger habe während der Zeit der beiden Arbeitsniederlegungen nicht schlicht die Arbeit versäumt, sondern sich an einer gemeinsamen Arbeitsniederlegung beteiligt. Dem Kläger wird angelastet, daß er sich von dem rechtswidrigen Streik nicht erkennbar distanziert habe. Andererseits unterstellt das Landesarbeitsgericht, der Kläger habe gegenüber den Arbeitskollegen vorher von einem solchen Verhalten abgeraten. Die Beklagte hat aber die Kündigung gerade des Klägers in ihrer Mitteilung an den Betriebsrat vom 16. März 1974 darauf gestützt, der Kläger sei als Rädelsführer tätig geworden. Dieser Umstand war also erklärtermaßen maßgebender Grund für die außerordentliche Kündigung durch die Beklagte. Das Landesarbeitsgericht hätte daher nähere Feststellungen über das tatsächliche Verhalten des Klägers anläßlich der Arbeitsniederlegungen treffen müssen. Die “einfache” Arbeitsniederlegung wollte die Beklagte allein nicht zum Anlaß für eine außerordentliche Kündigung nehmen, wie auch ihr passives Verhalten gegenüber den anderen, die Arbeit niederlegenden Arbeitnehmern beweist. Das Problem der “herausgreifenden Kündigung” und einer etwaigen Gleichbehandlung bei einer Kündigung stellt sich demnach hier nicht …”

Damit hat der Senat zum Ausdruck gebracht, daß unter den hier gegebenen Umständen eine schlichte Teilnahme des Klägers an den Arbeitsniederlegungen zur Rechtfertigung der ausgesprochenen Kündigung nicht ausreiche, daß es vielmehr maßgeblich darauf ankomme, ob der Kläger sich besonders hervorgetan hat. An diese rechtliche Beurteilung des Sachverhalts durch den Senat, die der Aufhebung des ersten Berufungsurteils zugrunde lag, war das Landesarbeitsgericht bei seiner erneuten Entscheidung gemäß § 565 Abs. 2 ZPO gebunden.

b) Demgemäß hat das Landesarbeitsgericht zum Verhalten des Klägers im Zusammenhang mit den Arbeitsniederlegungen am 15. März 1974 weiteren Zeugenbeweis erhoben und festgestellt, daß der Kläger nicht als Rädelsführer, Aufwiegler oder Anstifter in Erscheinung getreten sei; er habe sich nicht in bezug auf die angestrebten Ziele hervortun wollen und andere auch nicht aufgehetzt. Der Beitrag des Klägers zu den Arbeitsniederlegungen sei zwar augenscheinlich gewichtig gewesen. Der Kläger habe eine Reihe von Abstimmungen geleitet. Die Geschäftsleitung und auch seine Arbeitskollegen hätten seinem Verhalten eine besondere Bedeutung beigemessen. Ob der Kläger das aber erkannt habe oder hätte erkennen können, lasse sich nicht mit Sicherheit feststellen. Ihm müsse im Zweifel – und Zweifel seien geboten – zugestanden werden, daß er sich bloß mit seinen Arbeitskollegen solidarisiert habe und im Grunde genommen dadurch, daß er persönlich angesprochen worden sei und mit seinen zu mißbilligenden Äußerungen reagiert habe, ungewollt in eine besondere Position gedrängt worden sei. Ein besonderer Vorwurf könne daraus jedoch nicht hergeleitet werden, wenn die von den Zeugen geschilderte Stimmungslage der beteiligten Arbeitnehmer beachtet werde. Danach habe große Unruhe im Betrieb geherrscht; die Arbeitnehmer seien mit dem Betriebsrat nicht einverstanden gewesen. Nach den glaubwürdigen Aussagen der Zeugen A…, Schr… und B… habe sich der Kläger sogar mit teilweisem Erfolg gegenüber den Arbeitskollegen dafür eingesetzt, daß man bleiben und die Zeitung fertigstellen solle.

c) Gegen diese Ausführungen des Landesarbeitsgerichts wendet sich die Revision mit einer Rüge der Verletzung des § 286 ZPO. Sie macht geltend, das Landesarbeitsgericht habe bei seiner Würdigung des Verhaltens des Klägers die Aussagen der von der Beklagten benannten und in erster Instanz vernommenen Zeugen K… und R… nicht berücksichtigt. Wie sich aus deren Bekundungen ergebe, habe Geschäftsführer Dr. Sch… am Nachmittag des 15. März 1974 zunächst nicht den Kläger persönlich angesprochen, sondern seine Frage, was vor sich gehe, an die Allgemeinheit gerichtet. Darauf habe sich der Kläger aus eigenem Antrieb und ohne irgendeinem Solidaritätsdruck ausgesetzt zu sein, gemeldet und erklärt, er und seine Kollegen würden nicht arbeiten, bis der Betriebsrat sie informiert habe. Damit habe sich der Kläger selbst zum Wortführer und Anführer der Streikenden gemacht. Dennoch habe der Geschäftsführer der Beklagten zunächst noch nicht den Kläger persönlich angesprochen, sondern seine Aufforderung zur Wiederaufnahme der Arbeit allgemein an die Streikenden gerichtet, was aus den Aussagen des Zeugen K… und des vom Kläger selbst benannten Zeugen Br… hervorgehe und was das Landesarbeitsgericht ebenfalls nicht beachtet habe. Erst als diese allgemeingehaltene Aufforderung ohne Erfolg geblieben sei, habe sich Dr. Sch an den Kläger persönlich gewandt und ihn zur Arbeitsaufnahme aufgefordert. Die Feststellung des Landesarbeitsgerichts, der Kläger habe sich nicht hervortun wollen, sondern sei ungewollt in eine besondere Position gedrängt worden, lasse sich daher nicht aufrechterhalten. Im Gegenteil ergebe sich bei Berücksichtigung der Zeugenaussagen und des unstreitigen Sachverhalts, daß der Kläger sich mehr als seine Arbeitskollegen für die Arbeitsniederlegung engagiert und sich gegenüber der Geschäftsleitung exponiert habe. Gerade dieses Verhalten aber habe die Beklagte mit dem Wort “Rädelsführer” kennzeichnen wollen und zum Anlaß der Kündigung genommen.

Der Revision ist zuzugeben, daß sich das Landesarbeitsgericht mit den Bekundungen der Zeugen K… und R… nicht näher auseinandergesetzt hat. Nach den Aussagen dieser Zeugen soll der Kläger bei der ersten Arbeitsniederlegung am Spätnachmittag des 15. März 1974 von sich aus die Rolle des Sprechers übernommen, die allgemein an die versammelten Arbeitnehmer gerichtete Frage des Geschäftsführers der Beklagten nach dem Grund der Arbeitsniederlegung beantwortet und sich ferner zu dessen ebenfalls zunächst an die Allgemeinheit gerichteten Aufforderung zur Wiederaufnahme der Arbeit geäußert haben. Dieser von den Zeugen bekundete Sachverhalt ist indessen nicht geeignet, den Kläger als eine treibende Kraft bei den Arbeitsniederlegungen erscheinen zu lassen. Der Geschäftsführer der Beklagten erwartete auf seine Frage eine Antwort aus dem Kreise der versammelten Arbeitnehmer. Der Kläger besaß aufgrund seines Alters, seiner langjährigen Betriebszugehörigkeit, seiner früheren Tätigkeit in Organen der Betriebsvertretung und seiner Eigenschaft als gewerkschaftlicher Vertrauensmann eine gewisse natürliche Autorität unter seinen Arbeitskollegen, so daß ihm die Rolle des Sprechers fast von selbst zufiel. Wenn der Kläger sich unter diesen Umständen angesprochen fühlte und es übernahm, für seine Arbeitskollegen dem Geschäftsführer der Beklagten Rede und Antwort zu stehen, so kann daraus nicht geschlossen werden, er habe sich bei der rechtswidrigen Arbeitsniederlegung besonders hervortun wollen.

Die Äußerung des Klägers, er wolle lieber nach Hause gehen und stempeln, ist erst gefallen, als der Geschäftsführer Dr. Sch… ihn persönlich zur Wiederaufnahme der Arbeit aufgefordert und damit von ihm verlangt hatte, sich von seinen Arbeitskollegen zu distanzieren. Es ist deshalb rechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Landesarbeitsgericht in diesem Zusammenhang davon spricht, der Kläger sei insoweit ungewollt in eine besondere Position gedrängt worden. Der Vorwurf der “Rädelsführerschaft” läßt sich jedenfalls auf die genannte Äußerung des Klägers nicht stützen. Das gilt auch dann, wenn die Beklagte – wie die Revision meint – mit dem Wort “Rädelsführer” nicht erst die maßgebliche Beeinflussung der Arbeitskollegen hinsichtlich der Arbeitsniederlegung, sondern schon ein gegenüber der schlichten Teilnahme an der Arbeitsniederlegung deutlich stärkeres Engagement kennzeichnen und dies zum Kündigungsgrund nehmen wollte.

Gegen eine Rädelsführerschaft des Klägers auch in diesem weiteren Sinne spricht besonders die aufgrund der Aussagen der Zeugen A…, Schr… und B… rechtsfehlerfrei getroffene Feststellung des Landesarbeitsgerichts, der Kläger habe sich mit teilweisem Erfolg gegenüber seinen Arbeitskollegen dafür eingesetzt, daß man bleiben und die Zeitung fertigstellen solle. Der Kläger hat also im internen Kollegenkreis sogar mäßigenden Einfluß auszuüben versucht. Die Auffassung der Revision, dieses mäßigende Verhalten des Klägers im internen Kreis seiner Kollegen könne ihn nicht entlasten, maßgebend sei allein sein Verhalten in Gegenwart der Vertreter der Beklagten, geht fehl. Zu würdigen ist stets das Gesamtverhalten des gekündigten Arbeitnehmers.

Die Tatsache, daß der Kläger Abstimmungen seiner Kollegen über die Frage der Arbeitsniederlegung geleitet hat, macht ihn ebenfalls nicht zum “Rädelsführer”. Nach dem unwiderlegt gebliebenen Vortrag des Klägers ist er insoweit nicht aus eigener Initiative, sondern auf Verlangen seiner Kollegen tätig geworden, die über eine Arbeitsniederlegung hätten abstimmen wollen.

Nach alledem hat das Landesarbeitsgericht im Ergebnis rechtsfehlerfrei festgestellt, daß der Kläger sich nicht als Rädelsführer, Anstifter oder Aufwiegler betätigt hat. Dann aber entfällt der Vorwurf, den die Beklagte erklärtermaßen zum Anlaß der fristlosen Entlassung des Klägers genommen hat. Wenn das Landesarbeitsgericht unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung des Alters und der langjährigen Betriebszugehörigkeit des Klägers einen wichtigen Kündigungsgrund verneint und die außerordentliche Kündigung für unwirksam erklärt hat, so hält sich diese Würdigung im Rahmen des den Tatsacheninstanzen zustehenden Beurteilungsspielraums und ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

d) Auf die von der Beklagten noch angeführten Vorgänge aus den Jahren 1969 und 1973 konnte es nicht mehr ankommen. Sie hätten allenfalls unterstützend Bedeutung gewinnen können, wenn der zum Anlaß der Kündigung genommene Vorwurf der Rädelsführerschaft des Klägers sich bestätigt hätte.

II. Die Beklagte hat erstmals nach der Zurückverweisung dieser Sache an das Landesarbeitsgericht geltend gemacht, die von ihr ausgesprochene außerordentliche Kündigung müsse im Falle der Unwirksamkeit gemäß § 140 BGB in eine ordentliche fristgemäße Kündigung umgedeutet werden.

1. Das Landesarbeitsgericht hat gemeint, durch § 565 Abs. 2 ZPO an der Prüfung dieser Frage gehindert zu sein, weil der Senat in seinem das erste Berufungsurteil aufhebenden Urteil ausgeführt habe, eine ordentliche Kündigung stehe hier nicht in Rede, sie sei auch nicht hilfsweise von der Beklagten ausgesprochen worden. Damit hat das Landesarbeitsgericht die Tragweite des § 565 Abs. 2 ZPO verkannt, was die Revision mit Recht rügt. Bei der erwähnten Bemerkung in dem Senatsurteil handelt es sich nicht um eine der Aufhebung des ersten Berufungsurteils zugrunde gelegte rechtliche Beurteilung im Sinne von § 565 Abs. 2 ZPO, sondern um die schlichte Feststellung der Tatsache, daß die Beklagte eine ordentliche Kündigung auch nicht hilfsweise ausgesprochen habe. Diese Bemerkung in dem Revisionsurteil hinderte die Beklagte nicht, nach der Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht nunmehr die Umdeutung der ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung in eine ordentliche Kündigung gemäß § 140 BGB geltend zu machen.

2. Das Landesarbeitsgericht hat die Prüfung der Umdeutung ferner unter Berufung auf § 67 ArbGG 1953 abgelehnt. Auch das ist rechtsfehlerhaft und wird von der Revision gerügt. Die Vorschrift des § 67 ArbGG 1953 betrifft die Zurückweisung verspätet vorgebrachter Tatsachen und Beweismittel. Darum geht es hier aber nicht. Die Geltendmachung der Umdeutung nach § 140 BGB ist die Berufung auf eine Rechtsposition und nicht neuer Tatsachenvortrag. Im übrigen ist nicht ersichtlich, wieso der Hinweis auf § 140 BGB zu einer Verzögerung des Rechtsstreits hätte führen sollen, was ebenfalls Voraussetzung für die Zurückweisung neuen Vorbringens nach § 67 ArbGG 1953 ist (BAG AP Nr. 1 zu § 67 ArbGG 1953).

3. Stehen somit prozessuale Hindernisse einer materiell-rechtlichen Prüfung der von der Beklagten geltend gemachten Umdeutung nicht entgegen, so kommt es darauf an, ob die unwirksame außerordentliche Kündigung als ordentliche Kündigung aufrechterhalten werden kann. Das ist indessen nicht der Fall.

Nach § 140 BGB kommt die Umdeutung eines nichtigen in ein anderes gültiges Rechtsgeschäft nur in Frage, wenn anzunehmen ist, daß dessen Geltung bei Kenntnis der Nichtigkeit gewollt gewesen wäre. Es kann schon zweifelhaft sein, ob die Beklagte, hätte sie die Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung erkannt, dem Kläger stattdessen fristgemäß gekündigt hätte. Diese Frage brauchte der Senat jedoch nicht zu entscheiden. Vielmehr kann zugunsten der Beklagten davon ausgegangen werden, daß dies ihrem mutmaßlichen Willen entsprach. Ebensowenig bedurfte es einer Entscheidung, ob – wie das Landesarbeitsgericht in einer Hilfserwägung angenommen hat – die ausgesprochene Kündigung als ordentliche Kündigung bereits an der fehlenden Anhörung des Betriebsrats hierzu gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG scheitern würde, oder ob im vorliegenden Falle die erfolgte Anhörung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung die Anhörung zu einer ordentlichen Kündigung ersetzt, nachdem der Betriebsrat der außerordentlichen Kündigung ausdrücklich und vorbehaltlos zugestimmt hat (vgl. hierzu BAG, Urteil vom 16. März 1978 – 2 AZR 424/76 –, AP Nr. 15 zu § 102 BetrVG 1972, auch zum Abdruck in der Amtlichen Sammlung bestimmt). Eine ordentliche Kündigung wäre nämlich jedenfalls deswegen unwirksam, weil sie sozial ungerechtfertigt im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG wäre.

Die Beteiligung des Klägers an den rechtswidrigen Arbeitsniederlegungen stellt ein Verhalten dar, das an sich geeignet wäre, eine fristgemäße Kündigung sozial zu rechtfertigen. Im Einzelfall bedarf es jedoch stets einer sorgfältigen Abwägung der beiderseitigen Interessen. Es kommt darauf an, ob die Kündigung unter Berücksichtigung aller vernünftigerweise in Betracht kommenden Umstände billigenswert und angemessen erscheint. Diese Abwägung der für und gegen die Kündigung sprechenden Umstände fällt zugunsten des Klägers aus.

Der Senat verkennt nicht die gravierenden schädlichen Folgen, die die hier in Rede stehenden Arbeitsniederlegungen vom 15. März 1974 für die Beklagte hatten. Zu Lasten des Klägers fällt auch ins Gewicht, daß er sich der Rechtswidrigkeit der Arbeitsniederlegungen bewußt war. Es ist jedoch auch im vorliegenden Zusammenhang zu beachten, daß die Beklagte die bloße Teilnahme an den rechtswidrigen Arbeitsniederlegungen nicht zum Anlaß einer Kündigung nehmen wollte. Sie hat allein dem Kläger gekündigt und auch diesem erklärtermaßen nur deshalb, weil er sich nach ihrem Eindruck mehr als seine Arbeitskollegen für die Niederlegung der Arbeit eingesetzt, sich insoweit also besonders hervorgetan haben soll. Dieser Eindruck der Beklagten erweist sich jedoch nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts als nicht zutreffend. Der Kläger hat vielmehr sogar mäßigend auf seine Arbeitskollegen einzuwirken versucht, wobei er auch teilweise Erfolg hatte. Damit entfällt aber der eigentliche Grund, dessentwegen die Beklagte sich vom Kläger trennen wollte. Bei dieser Sachlage kann auch dem von der Beklagten behaupteten Verhalten des Klägers in den Jahren 1969 und 1973 keine besondere Bedeutung mehr zugemessen werden. Nimmt man hinzu, daß der Kläger fast 16 Jahre bei der Beklagten beschäftigt war und im Alter von 61 Jahren kurz vor dem Eintritt in das Rentenalter stand, so gebührt seinem Interesse an der Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses der Vorrang gegenüber dem Interesse der Beklagten, das Arbeitsverhältnis zu beenden.

III. Da das Arbeitsverhältnis der Parteien mithin durch die streitbefangene Kündigung nicht aufgelöst worden ist, hat der Kläger aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges (§ 615 BGB) Anspruch auf Fortzahlung seines Arbeitsentgelts. Das Landesarbeitsgericht hat daher auch dem Zahlungsanspruch, dessen Höhe die Beklagte nicht bestritten hat, mit Recht stattgegeben.

 

Unterschriften

Dr. Dieterich, Dr. Seidensticker, Matthes, Dr. Giese, Dr. Hoffmann

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1767481

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