Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifauslegung. Stichtagsregelung. Grundrechtsbindung. Gleichbehandlung
Leitsatz (redaktionell)
Die Tarifvertragsparteien sind bei der tariflichen Normsetzung nicht unmittelbar grundrechtsgebunden, müssen aber den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sowie die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG beachten. Der allgemeine Gleichheitssatz wird verletzt, wenn eine Ungleichbehandlung vergleichbarer Fallgruppen nicht in ausreichendem Maße gerechtfertigt werden kann. Den Tarifvertragsparteien kommt Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und die betroffenen Interessen zu. Sie sind nicht dazu verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen.
Stichtagsregelungen sind aus Gründen der Praktikabilität ungeachtet der damit verbundenen Härten zur Abgrenzung des begünstigten Personenkreises gerechtfertigt, wenn sich die Wahl der Stichtagsregelung am gegebenen Sachverhalt orientiert und demnach vertretbar ist.
Normenkette
TV SR § 11 Abs. 3, § 13 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3
Verfahrensgang
Tenor
Tatbestand
Der Kläger verlangt von der Beklagten eine tarifliche Zulage.
Der am 12. November 1954 geborene, verheiratete Kläger, Vater von drei Kindern, ist seit dem 1. April 1973 bei der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgängerin als Fernmeldemonteur beschäftigt. Für zwei Kinder bezieht er Kindergeld. Der volljährige Sohn leistete in der Zeit vom 3. November 2000 bis zum 31. August 2001 seinen Grundwehrdienst ab und begann anschließend ab dem 1. September 2001 ein Studium.
Bei der Beklagten wurde im Zuge der Privatisierung abweichend vom Vergütungssystem des öffentlichen Dienstes ein ab dem 1. Juli 2001 geltendes neues Bewertungs- und Bezahlungssystem (NBBS) eingeführt, bestehend aus vier einzelnen Tarifverträgen: Im Manteltarifvertrag (MTV) sind die allgemeinen Beschäftigungsbedingungen aufgenommen. Der Entgeltrahmentarifvertrag (ERTV) regelt die Grundzüge für die Festsetzung der Vergütung. Der Entgelttarifvertrag (ETV) enthält die konkreten Tabellen. Der Tarifvertrag über Sonderregelungen (TV SR) soll einen nahtlosen Übergang in das neue System gewährleisten. Das NBBS löst die bisherige, auf Beamtenbewertungen basierende Vergütungssystematik durch eine allein auf Tätigkeitsinhalte abstellende, summarische Bewertungssystematik ab und beinhaltet auch den Wegfall familienstandsbezogener Entgeltkomponenten, zB Ortszuschlag/Sozialzuschlag. Durch das NBBS sollen die Arbeitnehmer keine unmittelbaren Gehaltsverluste erleiden. Die §§ 11, 13 TV SR lauten:
Ҥ 11 Erstmalige Zuordnung zu Gruppenstufen
(1) Arbeitnehmer, die unter den Geltungsbereich des § 1 fallen, werden zum 1. Juli 2001 der Gruppenstufe zugeordnet, in der das Monatsentgelt am nächsten unter dem Monatsbezugsgehalt nach § 10 liegt, jedoch mindestens in Gruppenstufe 1.
(2) Die Zuordnung zur Gruppenstufe erfolgt auf der Basis der Vollbeschäftigung. Die für diese Gruppenstufe geforderte zeitliche Mindestzugehörigkeit gilt als erfüllt.
(3) Bei einer Zuordnung zur Gruppenstufe 1 bis 3 wird eine ggf. verbleibende Differenz zum Monatsbezugsgehalt gemäß § 10 als Stufenzulage bis zum Aufrücken in die nächste Gruppenstufe gezahlt. Bei Höhergruppierungen endet die Zahlung der Stufenzulage.
(4) Liegt das Monatsbezugsgehalt über dem Monatsentgelt der Gruppenstufe 4 finden für die Differenz die §§ 13, 14 und 15 Anwendung.
(5) Die Zeit der Gruppenstufenzugehörigkeit beginnt frühestens ab dem 1. Juli 2001.
…
§ 13 Besondere Umstellungszulage
(1) Ein Arbeitnehmer, dessen Monatsbezugsgehalt höher ist als das Monatsentgelt gemäß § 7 ERTV und der für Juni 2001 Anspruch auf den Ortszuschlag der Stufe 2 oder höher bzw. Anspruch auf Sozialzuschlag hat, erhält eine Besondere Umstellungszulage in Höhe des um den Ortszuschlag der Stufe 1 verminderten Ortszuschlages bzw. in Höhe des Sozialzuschlages.
Die Besondere Umstellungszulage darf den Unterschiedsbetrag zwischen dem Monatsbezugsgehalt und dem Monatsentgelt gemäß § 7 ERTV nicht überschreiten und ist ggf. insoweit zu kürzen.
Im Falle der Arbeitsunfähigkeit wird der Ortszuschlag/Sozialzuschlag zu Grunde gelegt, den der Arbeitnehmer erhalten hätte, wenn keine Arbeitsunfähigkeit eingetreten wäre.
Protokollnotiz zu Absatz 1:
Steht dem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis während des ganzen Monats Juni 2001 besteht, für den Monat Juni 2001 Vergütung oder Lohn ganz oder teilweise nicht zu, so wird der Ortszuschlag bzw. Sozialzuschlag nach Absatz 1 zu Grunde gelegt, den der Arbeitnehmer erhalten hätte, wenn der Anspruch auf Vergütung/Lohn für den ganzen Monat Juni 2001 bestanden hätte.
…”
Nach dem bei der Beklagten bis zum 30. Juni 2001 geltenden tarifvertraglichen Vergütungssystem erhielt der Kläger für jedes Kind, für das ihm Kindergeld zustand, einen Sozialzuschlag in Höhe von 83,84 Euro brutto monatlich. Für seinen volljährigen Sohn, der in der Zeit vom 3. November 2000 bis zum 31. August 2001 seinen Grundwehrdienst ableistete, bezog er während dieses Zeitraums keinen Sozialzuschlag. Er hätte einen solchen wieder erhalten, nachdem dieser Sohn ab dem 1. September 2001 mit seinem Studium begonnen hatte. Nach dem neuen Tarifsystem verdient der Kläger unstreitig 81,66 Euro brutto monatlich weniger (2.589,20 Euro minus 2.507,54 Euro), als er verdienen würde, wenn das alte System weiter Geltung hätte. Mit seiner Klage begehrt der Kläger Zahlung von 81,66 Euro monatlich für die Monate September 2001 bis Mai 2002 in Höhe eines zuletzt unstreitigen Betrags von 734,94 Euro brutto.
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Stichtagsregelung in § 13 Abs. 1 TV SR, wonach Kinder, die im Juni 2001 bei der Bundeswehr waren, nicht mehr bei der Stufenzulage berücksichtigt werden, verstoße gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Die Tarifvertragsparteien hätten die ihnen verfassungsgemäß gezogenen Grenzen überschritten, weil sich kein vernünftiger, aus der Natur der Sache folgender oder sonst einleuchtender Grund für die tarifliche Differenzierung finden lasse. Auch für tarifliche Stichtagsregelungen müsse ein sachlicher Grund vorliegen. Vorliegend sei ein solcher nicht ersichtlich, soweit Arbeitnehmer mit Kindern, welche sich zum 1. Juli 2001 bei der Ableistung des Grundwehrdienstes befanden, schlechter behandelt würden als Arbeitnehmer, deren Kinder ihren Grundwehrdienst vor dem Stichtag 1. Juli 2001 beendet hatten oder erst nach diesem Stichtag eingezogen wurden. Nach dem Willen der Tarifvertragsparteien sollten die Arbeitnehmer durch die Einführung des neuen Vergütungssystems keinen Gehaltsverlust erleiden. Wäre es beim bisherigen Vergütungssystem verblieben, hätte der Kläger nach Rückkehr seines Sohnes vom Grundwehrdienst für ihn wieder einen Sozialzuschlag erhalten. Der Wegfall dieses Sozialzuschlags durch das neue Vergütungssystem solle gerade durch die Zahlung einer Zulage ausgeglichen werden. Deren Gewährung hänge von Zufälligkeiten ab. Zwischen den genannten Arbeitnehmergruppen bestehe aber kein solcher Unterschied nach Art und Gewicht, dass er eine Ungleichbehandlung rechtfertigen könne. Die Regelungslücke müsse nach den Grundsätzen der ergänzenden Vertragsauslegung geschlossen werden.
Der Kläger hat zuletzt beantragt
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 734,94 Euro brutto nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 26. Juni 2002 zu zahlen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Ansicht vertreten, die Stichtagsregelung stelle auf die Einkommenssituation mit Wirkung zum 1. Juli 2001 ab.
Diese Stichtagsregelung sei rechtlich nicht zu beanstanden; sie verstoße nicht gegen den Gleichheitssatz. Stichtagsregelungen in Tarifverträgen seien zur Abgrenzung des begünstigten Personenkreises zulässig. Dies gelte sowohl bei der Einführung von Leistungen als auch beim In-Kraft-Treten belastender Regelungen. Den Tarifvertragsparteien stehe im Rahmen der ihnen verfassungsrechtlich eingeräumten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger seinen Klageanspruch weiter. Die Beklagte beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht die Klage als unbegründet abgewiesen.
Der Kläger hat gegen die Beklagte weder Anspruch auf Zahlung einer Stufenzulage nach § 11 Abs. 3 TV SR noch auf eine besondere Umstellungszulage nach § 13 Abs. 1 TV SR. Für den Anspruch des Klägers fehlt eine Anspruchsgrundlage.
1. Nach § 11 Abs. 3 TV SR wird bei einer Zuordnung – wie vorliegend – zur Gruppenstufe 1 bis 3 des Arbeitnehmers eine ggf. verbleibende Differenz zum Monatsbezugsgehalt gemäß § 10 TV SR als Stufenzulage bis zum Aufrücken in die nächste Gruppenstufe gezahlt. Nach § 13 Abs. 1 TV SR hat ein Arbeitnehmer, dessen Monatsbezugsgehalt höher ist als das Monatsentgelt gemäß § 7 ERTV und der für Juni 2001 Anspruch auf den Ortszuschlag der Stufe 2 oder höher bzw. Anspruch auf Sozialzuschlag hat, eine besondere Umstellungszulage in Höhe des um den Ortszuschlag der Stufe 1 verminderten Ortszuschlags bzw. in Höhe des Sozialzuschlags. Nach beiden Tarifbestimmungen wird auf die konkrete Einkommenssituation zum 1. Juli 2001 bzw. das letzte Monatsentgelt für Juni 2001 abgestellt (§ 11 Abs. 1, § 13 Abs. 1 TV SR). Nach dieser Stichtagsregelung hat der Kläger gegen die Beklagte keinen Anspruch auf eine Zulage.
2. Entgegen der Auffassung der Revision können die Tarifbestimmungen auch nicht dahingehend ausgelegt werden, dass dem Kläger eine Zulage in Höhe von 81,66 Euro in Höhe eines hypothetischen Einkommensverlustes zu zahlen ist. Es liegt auch keine tarifliche Regelungslücke vor, die nach Sinn und Zweck dadurch zu schließen wäre, dass der betroffene Arbeitnehmer zumindest eine Zulage in dieser Höhe erhält.
a) Der normative Teil eines Tarifvertrags ist nach den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln vorzunehmen. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu ermitteln ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Über den reinen Wortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Ein Wille, für den es im Wortlaut keinen Anhaltspunkt gibt, ist für die Auslegung bedeutungslos. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann (st. Rspr. BAG, vgl. 28. Mai 1998 – 6 AZR 349/96 – AP BGB § 611 Bühnenengagementsvertrag Nr. 52 = EzA TVG § 4 Bühnen Nr. 5, zu II 2a der Gründe; 26. April 2001 – 6 AZR 2/00 – AP TVG § 4 Rationalisierungsschutz Nr. 37, zu 1a der Gründe; 29. August 2001 – 4 AZR 337/00 – BAGE 99, 24, 28; 22. Oktober 2002 – 3 AZR 664/01 – AP TVG § 1 Auslegung Nr. 185, zu II 1a der Gründe).
b) Eine am Wortlaut orientierte Auslegung führt zu einem eindeutigen Ergebnis. Die Tarifvertragsparteien haben auf den Monat Juni 2001 bzw. den Stichtag 1. Juli 2001 abgestellt. Sinn und Zweck der tariflichen Regelung ist es, dass die Arbeitnehmer keine unmittelbaren Gehaltsverluste erleiden gegenüber der Vergütung, die ihnen für den Monat Juni 2001 zustand. Auf eine etwaige höhere Vergütung zu einem früheren Zeitpunkt wurde nicht abgestellt.
Aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang ergeben sich auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Tarifvertragsparteien Arbeitnehmern wie dem Kläger, bei denen ein individueller Sozialzuschlag während der Zeit der Ableistung des Grundwehrdienstes seines Sohnes in Wegfall kam, eine Zulage gemäß § 11 Abs. 1 oder § 13 Abs. 1 Unterabs. 1 TV SR zugestehen wollten. Die Sonderregelung für arbeitsunfähig erkrankte Arbeitnehmer nach § 13 Abs. 1 Unterabs. 3 TV SR und die Sonderregelung nach der Protokollnotiz zu Abs. 1 für einen Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis während des ganzen Monats Juni 2001 besteht, aber dem für diesen Monat Vergütung oder Lohn ganz oder teilweise nicht zusteht, war für die Tarifvertragsparteien deshalb geboten, weil der erkrankte Arbeitnehmer oder der Arbeitnehmer, dem – gleich aus welchen Gründen – ein Lohnanspruch für Monat Juni 2001 nicht zusteht, ansonsten überhaupt keine Besitzstandswahrung erfahren hätte. Insoweit wäre bei diesen Mitarbeitern eine wesentlich größere Benachteiligung eingetreten, die die Tarifvertragsparteien vermeiden wollten. Hierauf hat das Landesarbeitsgericht zutreffend hingewiesen. Eine vergleichbare Fallgestaltung liegt beim Kläger nicht vor.
Aus diesen Gründen liegt auch keine tarifliche Regelungslücke vor. Wenn die Tarifvertragsparteien den schon früher in Wegfall gekommenen Sozialzuschlag des Klägers nicht ausgleichen, ist dies keine Regelungslücke, sondern Bestandteil der abschließenden Gesamtregelung.
3. Die Tarifregelung ist auch wirksam; sie ist mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.
a) Die Tarifvertragsparteien sind bei der tariflichen Normsetzung nicht unmittelbar grundrechtsgebunden. Gleichwohl müssen sie auf Grund der Schutzpflichten der Grundrechte bei ihrer tariflichen Normsetzung den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sowie die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 beachten (BAG 27. Mai 2004 – 6 AZR 129/03 – AP TVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 5 = EzA Art. 3 GG Nr. 101, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen). Die Feststellung, dass der allgemeine Gleichheitssatz wegen der Schutzpflichtfunktion der Grundrechte auch von den Tarifvertragsparteien bei der von ihnen zu verantwortenden Regelbildung zu beachten ist, führt bei der Prüfung ihrer Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu anderen Prüfungsmaßstäben, als sie im Falle einer unmittelbaren Grundrechtsbindung heranzuziehen wären. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt allein aus der Ungleichbehandlung vergleichbarer Fallgruppen noch keine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG. Ein darauf bezogener Verstoß liegt erst vor, wenn die Ungleichbehandlung nicht in ausreichendem Maße gerechtfertigt werden kann. Hierfür stellt das Bundesverfassungsgericht differenzierte Anforderungen. Sie bestimmen sich nach dem jeweiligen Regelungsgegenstand und den jeweiligen Differenzierungsmerkmalen und reichen vom bloßen Willkürverbot bis hin zu einer strengen Prüfung an Verhältnismäßigkeitserfordernissen. Dieses Prüfprogramm muss der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie Rechnung tragen. Dieses Grundrecht gewährleistet den Tarifvertragsparteien zur Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen eine eigenständige Regelungsbefugnis. Dazu zählt in erster Linie die Festlegung von Löhnen und der materiellen Arbeitsbedingungen. Ihnen liegt die Auffassung des Verfassungsgesetzgebers zu Grunde, dass gerade Tarifvertragsparteien in Bezug auf die Arbeitsbedingungen die jeweiligen Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern angemessener zum Ausdruck bringen als der Staat (BVerfG 27. April 1999 – 1 BvR 2203/93, 897/95 – BVerfGE 100, 271). Deshalb erfasst die Tarifautonomie nicht nur die Entscheidung über den Regelungsinhalt tariflicher Normen, sondern deckt auch einen entsprechenden Regelungsverzicht (Wißmann in FS Dieterich S. 683, 684). In der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist aus diesem Grund anerkannt, dass den Tarifvertragsparteien eine Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und die betroffenen Interessen zukommt. Sie sind nicht dazu verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen (BAG 18. Januar 2001 – 6 AZR 492/99 – AP BAT § 52 Nr. 8 = EzA GG Art. 3 Nr. 92; 30. Juli 1992 – 6 AZR 11/92 – BAGE 71, 68, 75; zuletzt 27. Mai 2004 – 6 AZR 129/03 – AP TVG § 1 Gleichbehandlung Nr. 5 = EzA GG Art. 3 Nr. 101, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen).
b) Die Regelung in § 11 Abs. 1 und § 13 Abs. 1 TV SR stellt eine Ungleichbehandlung von Personengruppen dar. Der Kläger kann durch sein Verhalten die Verwirklichung der Merkmale für die Anwendbarkeit dieser Tarifregelung nicht beeinflussen. Die Differenzierung beruht in diesen Fällen auf einer Stichtagsregelung, dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der neuen Tarifverträge im Zusammenhang mit der Einführung des NBBS.
Stichtagsregelungen sind Typisierungen in der Zeit. Auch bei solchen Typisierungen unterliegt der Normgeber Bindungen, wenn sich die Regelung auf die Ausübung eines Grundrechts auswirken kann (BVerfG 15. Juli 1998 – 1 BvR 1554/89, 963, 964/94 – BVerfGE 98, 365). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts sind aber Stichtagsregelungen Ausdruck einer gebotenen pauschalierten Betrachtung. Sie sind aus Gründen der Praktikabilität ungeachtet der damit verbundenen Härten zur Abgrenzung des begünstigten Personenkreises gerechtfertigt, wenn sich die Wahl der Stichtagsregelung am gegebenen Sachverhalt orientiert und demnach vertretbar ist (BAG 25. Juni 2003 – 4 AZR 405/02 – BAGE 106, 374; 25. Oktober 2001 – 6 AZR 560/00 – EzBAT BAT § 40 Nr. 20; 18. Oktober 2000 – 10 AZR 643/99 – AP BAT-O § 11 Nr. 24). Dies ist vorliegend zu bejahen.
Die Stichtagsregelung rechtfertigt sich aus dem Ziel, eine individuelle Besitzstandsklausel für die beim Übergang zu den neuen Bewertungs- und Bezahlungssystem bereits beschäftigten Arbeitnehmern zu schaffen. Zwar sind auch andere Gestaltungsmöglichkeiten denkbar, so die Einführung eines bestimmten Mindestniveaus oder die übergangslose Geltung der Neuregelung. Wenn sich die Tarifvertragsparteien entschließen, für die bereits vor dem In-Kraft-Treten der Neuregelung beschäftigten Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen eine individuelle Besitzstandsklausel zu schaffen, handelt es sich um eine zulässige, im Rahmen der Gestaltungsfreiheit ihnen zustehende Möglichkeit der Differenzierung. Das Abstellen auf die Sicherung des individuellen Einkommens trägt den Besonderheiten des Einzelfalles eher Rechnung als eine pauschalierende Regelung. Andererseits braucht nicht jede Art atypischer Abweichung Berücksichtigung finden, denn dies stellt Einfachheit und Praktikabilität in Frage. Die Tarifvertragsparteien hatten insoweit die Freiheit der Wahl zwischen verschiedenen Wegen. Es ist damit nicht willkürlich, sondern sachgerecht, wenn sich die Wahl des Stichtags an dem Willen der Tarifvertragsparteien orientiert, ab dem Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens der Neuregelung für die Veränderung persönlicher Umstände nur die neuen tarifvertraglichen Regelungen zur Anwendung zu bringen. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht darauf hingewiesen, dass der Kläger nicht anders behandelt wird wie andere Arbeitnehmer, deren persönliche Umstände sich erst nach dem 1. Juli 2001 verändert haben und denen daraus bei Fortgeltung der alten Tarifregelungen Vorteile erwachsen wären. Er wird zB auch nicht anders behandelt als ein Arbeitnehmer, dem im Juni 2001 wegen der Höhe der eigenen Einkünfte des Kindes kein Anspruch auf Kindergeld zustand, der jedoch später wieder Anspruch auf Kindergeld hatte, weil die eigenen Einkünfte des Kindes sich verringerten oder entfielen. Seinen “Besitzstand” hatte der Kläger bereits mit Beginn des Wehrdienstes seines Sohnes verloren. Der effizienten Umsetzung des neuen Tarifwerks stünde es entgegen, wenn über einen längeren Zeitraum hinweg bei sich ändernden persönlichen Umständen jeweils eine Berechnung an Hand des alten Tarifwerks und des neuen Tarifwerks vorgenommen werden müsste und sich der Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers jeweils nach der für ihn günstigeren Regelung errechnen würde. Eventuell auftretende Ungleichbehandlungen sollten durch die von den Tarifvertragsparteien geschaffene Härtefondregelung zumindest teilweise ausgeglichen werden. Insoweit hat der Kläger auch einen Einmalbetrag in Höhe von 734,24 Euro brutto erhalten, welcher für einen gewissen Zeitraum einen Ausgleich für seine erlittenen Nachteile darstellt.
4. Die vom Kläger erhobene Verfahrensrüge greift nicht durch. Selbst wenn der Kläger vom Landesarbeitsgericht darauf hingewiesen worden wäre, dass es von einer Aufrechnungserklärung der Beklagten ausgehe, und wenn es dann auf Grund von Einlassungen des Klägers zu einer anderen Auffassung gekommen wäre, wäre die Klage vom Berufungsgericht in gleicher Weise und mit Recht als materiell unbegründet abgewiesen worden. Die angegriffene Entscheidung beruht somit nicht auf der behaupteten Verletzung der verfahrensrechtlichen Vorschriften.
Unterschriften
Fischermeier, Dr. Armbrüster, Friedrich, Gebert, Schneider
Fundstellen