Entscheidungsstichwort (Thema)
Zeitlicher Geltungsbereich eines tariflichen Abfindungsanspruchs
Normenkette
TVG § 1 Auslegung
Verfahrensgang
Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 17. September 1996 – 3 Sa 65/96 – wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darum, ob der Kläger gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Abfindung nach dem Manteltarifvertrag für den herstellenden und verbreitenden Buchhandel im Tarifgebiet Berlin (Ost) und Brandenburg (MTV Buchhandel) hat.
Der im Jahre 1936 geborene Kläger war vom 1. Juni 1961 bis zum 31. Dezember 1995 bei der T Verlagsgesellschaft mbH mit Sitz in Berlin-Pankow und deren Rechtsvorgängerin beschäftigt. Seine frühere Arbeitgeberin ist im Laufe des Rechtsstreits mit der Beklagten verschmolzen worden.
Im Anstellungsvertrag des Klägers vom 1. Oktober 1993 heißt es u.a.:
„§ 1
Der Entgelttarifvertrag für die ArbeitnehmerInnen des herstellenden und verbreitenden Buchhandels in Berlin (Ost) und Brandenburg und der Manteltarifvertrag für den herstellenden und verbreitenden Buchhandel in den östlichen Verwaltungsbezirken des Landes Berlin und im Land Brandenburg sind in der jeweils geltenden Fassung Bestandteil des Anstellungsvertrages.”
Da seine Arbeitgeberin ihr Verlagsgeschäft nach Stuttgart verlagerte, hatte sie dem Kläger unter dem 24. Mai 1995 zum 31. Dezember 1995 gekündigt und ihm gleichzeitig angeboten, ab dem 1. Januar 1996 in Stuttgart weiterhin für sie tätig zu sein. Dieses Angebot hatte der Kläger abgelehnt.
Mit seiner Klage hat der Kläger, der zuletzt 4.500,– DM brutto monatlich verdient hatte, eine Abfindung in Höhe von drei Bruttomonatsgehältern verlangt. Er stützt sich dabei auf § 16 des nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts am 14. November 1995 geschlossenen und am 15. November 1995 in Kraft getretenen MTV Buchhandel:
„Wird ein Arbeitnehmer, der das gesetzliche Rentenalter noch nicht erreicht hat, aus betriebsbedingten Gründen gekündigt, so erhält er bei Ausscheiden eine Abfindung. Diese beträgt: im 1. und 2. Jahr der Betriebszugehörigkeit: 1 Bruttomonatsentgelt; ab dem 3. Jahr der Betriebszugehörigkeit: drei Bruttomonatsentgelte.”
Bei diesem Tarifvertrag handelte es sich um die Nachfolgeregelung eines am 14. Mai 1991 abgeschlossenen und zum Ablösungszeitpunkt nachwirkenden Manteltarifvertrages für das Tarifgebiet Berlin (Ost) und Brandenburg, durch den die schrittweise Überleitung der allgemeinen Arbeitsbedingungen auf das Niveau des für das ehemalige Berlin-West geltenden Manteltarifvertrages beabsichtigt war. Die nunmehr getroffene Abfindungsregelung entspricht einer bereits seit Jahren in West-Berlin geltenden tariflichen Bestimmung, die aber 1991 noch nicht für das Tarifgebiet Berlin (Ost) und Brandenburg übernommen worden war.
Der Kläger hat den Standpunkt eingenommen, der in § 16 MTV Buchhandel geregelte Abfindungsanspruch entstehe erst mit der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses. Seine Voraussetzung seien der Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung und das dadurch verursachte Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis. Ein anderes Verständnis der Norm würde längerfristig beschäftigte Arbeitnehmer mit längeren Kündigungsfristen ohne sachlichen Grund benachteiligen. Soweit hiernach in der Regelung des § 16 MTV Buchhandel eine Rückwirkung enthalten sei, sei dies unschädlich. Die Regelung greife nicht in einen schützenswerten Vertrauenstatbestand ein.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 13.500,– DM netto zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Nach Auffassung der Beklagten schließt der Wortlaut der tariflichen Bestimmung den geltend gemachten Anspruch aus. Hätte die im Tarifbereich erstmals eingeführte Abfindungsregelung auch für schon ausgesprochene Kündigungen gelten sollen, wäre dies von den Tarifvertragsparteien deutlich zum Ausdruck gebracht worden.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die vom Landesarbeitsgericht zugelassene Revision des Klägers.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben seine Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zahlung einer Abfindung nach § 16 MTV Buchhandel.
I. Der Senat unterstellt zugunsten des Klägers, daß der nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts am 15. November 1995 in Kraft getretene Manteltarifvertrag formwirksam zustande gekommen ist.
II. Der Kläger hat aus § 16 MTV Buchhandel keinen Abfindungsanspruch. Diese Vorschrift setzt voraus, daß einem Arbeitnehmer nach Inkrafttreten des Tarifvertrages betriebsbedingt gekündigt worden ist. Dies war beim Kläger nicht der Fall.
1. Ein Tarifvertrag begründet ebenso wie jede Norm nur innerhalb ihres zeitlichen Geltungsbereichs Rechte und Pflichten. Die tatsächlichen Voraussetzungen, von deren Eintritt die Norm eine Rechtsfolge abhängig macht, müssen zum Zeitpunkt der Geltung des Normbefehls erfüllt worden sein.
2. Der Manteltarifvertrag für den herstellenden und verbreitenden Buchhandel im Tarifgebiet Berlin (Ost) und Brandenburg ist am 15. November 1995 in Kraft getreten. Der Kläger hat nicht geltend gemacht, der Tarifvertrag habe sich rückwirkende Geltung beigelegt. Der erstmals in der Revisionsinstanz schriftlich vorgelegte Manteltarifvertrag, in dem sich allerdings handschriftliche Verbesserungen und die Angabe finden, der Manteltarifvertrag sei am 30. September 1995 vereinbart worden, was mit dem übrigen, durch Dokumente belegten Prozeßvortrag der Parteien nicht in Übereinstimmung steht, enthält in § 20 Ziffer 3 die Bestimmung, der Tarifvertrag trete am 1. Oktober 1995 in Kraft. Diesen Unklarheiten mußte der Senat nicht nachgehen, weil der Manteltarifvertrag auch dann erst erhebliche Zeit nach Ausspruch der betriebsbedingten Kündigung vom 24. Mai 1995 Geltung für sich beansprucht.
3. Der Abfindungsanspruch aus § 16 MTV Buchhandel setzt den Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung als Tatbestandsmerkmal voraus. Die Norm macht den Anspruch nicht vom Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis, sondern von dessen Ursache, der Kündigung aus betriebsbedingten Gründen, abhängig. Im ersten Halbsatz der Norm wird die Bedingung für die Rechtsfolge dahin bestimmt, es komme darauf an, daß einem Arbeitnehmer aus betriebsbedingten Gründen gekündigt worden sei; die Norm stellt also auf den Erklärungstatbestand ab. Im zweiten Halbsatz wird dann festgelegt, daß ein Arbeitnehmer, bei dem diese Voraussetzung erfüllt ist, bei Ausscheiden eine Abfindung erhält.
Da dem Kläger nicht während der Geltung des Manteltarifvertrages gekündigt worden ist, waren die Voraussetzungen des § 16 MTV Buchhandel während der Geltung des Tarifvertrages nicht erfüllt. Darauf, ob das Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis infolge der betriebsbedingten Kündigung zweite Anspruchsvoraussetzung ist oder lediglich die Fälligkeit für den Abfindungsanspruch bestimmt, kommt es danach nicht an.
4. Der Tarifvertrag enthält keine Anhaltspunkte dafür, daß ein Abfindungsanspruch nach dem Willen der Tarifvertragsparteien auch dann entstehen soll, wenn seine Voraussetzungen ganz oder teilweise vor dem Inkrafttreten des Tarifvertrages erfüllt worden sind. Hierfür hätte sich der Tarifvertrag entweder rückwirkende Kraft beilegen müssen oder er hätte festlegen müssen, daß es für die Entstehung des Abfindungsanspruchs entscheidend auf das betriebsbedingte Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis ankommt. Beides ist nicht geschehen.
Die Tarifvertragsparteien haben vielmehr zunächst bewußt darauf verzichtet, aus dem Manteltarifvertrag für den Buchhandel Berlin (West), den sie im übrigen schrittweise auch auf die östlichen Tarifgebiete übertragen wollten, die dortige Abfindungsregelung zu übernehmen. Dieser erste Manteltarifvertrag für Berlin (Ost) und Brandenburg, der zunächst keine Abfindung bei betriebsbedingten Kündigungen vorsah, wirkte zwar seit dem 1. Januar 1992 nur noch nach. Damit lag es um so näher, eine rückwirkende Regelung ausdrücklich vorzusehen, soweit es um die Übernahme bisher ausgesparter Bestimmungen ging, wenn die Tarifvertragsparteien das Ziel gehabt hätten, eine lückenlose zwingende Regelung zu schaffen. Die Tarifvertragsparteien haben diese verbreitete Regelungstechnik aber nicht gewählt, sondern die Neuregelung frühestens zum 30. September 1995 in Kraft gesetzt. Daraus wird ihr Wille deutlich, tatsächliche Umstände aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des Tarifvertrages nicht mitzuregeln.
Eine solche Regelung hat auch einen guten Sinn. Tarifliche Bestimmungen, die Abfindungen bei betriebsbedingten Kündigungen vorsehen, können verschiedene Zwecke verfolgen. Es kann nur darum gehen, einen Ausgleich für wirtschaftliche Nachteile zu schaffen, die mit dem Verlust des Arbeitsplatzes einhergehen. Es kann aber daneben auch darum gehen, betriebsbedingte Kündigungen, soweit möglich, dadurch zu verhindern, daß ihr Ausspruch mit Entstehung von zusätzlichen Kosten verbunden wird. Dieser Zweck ist nur zu erreichen, wenn die Anspruchsbegründung auf die Kündigung als Erklärungstatbestand abstellt. Auf bereits ausgesprochene Kündigungen kann ein später in Kraft tretender Tarifvertrag nicht mehr einwirken. Die von den Tarifvertragsparteien in § 16 MTV Buchhandel getroffene Regelung zeigt, daß es ihnen nicht nur um den Ausgleich wirtschaftlicher Nachteile aus einer betriebsbedingten Kündigung, sondern auch um deren Verhinderung geht.
5. Entgegen der Auffassung des Klägers führt § 16 MTV Buchhandel bei diesem Normverständnis nicht zu einer grundsätzlich systemwidrigen Benachteiligung länger beschäftigter Arbeitnehmer im Verhältnis zu kürzer Beschäftigten. Zwar ist die Überlegung richtig, daß die Beklagte ihren kürzer beschäftigten Arbeitnehmern erst Ende November 1995 hätte kündigen müssen, um deren Arbeitsverhältnis mit der Stillegung des Betriebes zum 31. Dezember 1995 enden zu lassen, so daß sie einen Abfindungsanspruch nach § 16 MTV Buchhandel hätten erwerben können. Diese Erwägung stützt sich aber auf unterstellte besondere Umstände des Einzelfalles und nicht auf die typischen Abläufe, welche die Tarifvertragsparteien notwendigerweise bei ihrer Normsetzung vor Augen haben müssen. Der Tarifvertrag schützt länger beschäftigte und ältere Arbeitnehmer durch längere Kündigungsfristen. Dies bedeutet aber nicht, daß länger beschäftigten Arbeitnehmern vor einer grundlegenden Betriebsänderung grundsätzlich auch früher gekündigt wird, als kürzer beschäftigten Arbeitnehmern. Wird eine Stillegungsentscheidung längerfristig getroffen, ist es mindestens ebenso üblich, daß allen hiervon betroffenen Arbeitnehmern zur gleichen Zeit zum Stillegungszeitpunkt gekündigt wird. Bei kürzerfristigen Entscheidungen kommt es dagegen immer wieder vor, daß älteren Arbeitnehmern noch längere Zeit nach der Stillegung eines Betriebes das laufende Gehalt weitergezahlt werden muß, weil eine Beendigung zum Zeitpunkt der Stillegung nicht möglich ist. Die Anwendung der in § 16 MTV Buchhandel enthaltenen Stichtagsregelung führt damit weder grundsätzlich noch typischerweise zu dem vom Kläger behaupteten Wertungswiderspruch.
III. Der Kläger hat die Kosten seiner erfolglosen Revision nach § 97 ZPO zu tragen.
Unterschriften
Kremhelmer, Bepler, Schmidt, Weinmann, Horst, Schmidthenner
Fundstellen