Entscheidungsstichwort (Thema)
Kürzung einer tariflichen Sonderzahlung bei Krankengeldbezug für die Pflege eines erkrankten Kindes. Feststellungsklage. Gratifikation/Sondervergütung. Tarifauslegung. Prozeßrecht
Leitsatz (amtlich)
Eine tarifliche Regelung, nach der in den Fällen des Ausscheidens, der Neueinstellung, des Ruhens des Arbeitsverhältnisses, des unbezahlten Sonderurlaubs und des Krankengeldbezugs ein anteiliger Anspruch auf 1/12 der Sonderzahlungen (13. und 14. Monatsgehalt) für jeden vollen Monat im Kalenderjahr, in dem die Arbeitnehmer gearbeitet haben, entsteht, ist dahingehend auszulegen, daß nicht schon der Bezug von Krankengeld gem. § 45 SGB V für einen Arbeitstag wegen der Pflege eines erkrankten Kindes den Arbeitgeber zur Kürzung der vollen Sonderzahlungen berechtigt.
Orientierungssatz
- Würde die für den Fall des Krankengeldbezuges vorgesehene Verminderung von Sonderzahlungen (13. und 14. Monatsgehalt) dazu führen, daß ein Arbeitnehmer seinen Anspruch aus § 45 SGB V nur unter Inkaufnahme überproportionaler Vergütungseinbußen (1/12 der Sonderzahlungen bei einem Fehltag) wahrnehmen könnte, würde eine entsprechende individualrechtliche Regelung gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB verstoßen.
- Im Zweifel kann nicht angenommen werden, daß eine entsprechende tarifliche Regelung eine derartige Kürzung zuläßt, zumal sie dann gemessen an Art. 6 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich bedenklich wäre. Tarifverträge sind nach Möglichkeit so auszulegen, daß sie zu einer vernünftigen, sachgerechten, verfassungs- und gesetzeskonformen Lösung führen und nicht gegen tragende Grundsätze des Arbeitsrechts verstoßen.
- Bestand im Zeitpunkt der Erhebung einer Feststellungsklage das gem. § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse, ist der Kläger grundsätzlich nicht genötigt, zur Leistungsklage überzugehen, wenn im Laufe des Rechtsstreits eine bezifferte Leistungsklage möglich wird.
Normenkette
MTV für die Beschäftigten in der Wohnungswirtschaft im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 3. Juni 1997 §§ 8, 13; BGB §§ 133, 247, 288, 291, 612a, 616; SGB V § 45; SGB X § 115; GG Art. 6 Abs. 2; ZPO § 256
Verfahrensgang
Tenor
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, tarifliche Ansprüche der Klägerin auf Sonderzahlungen für das Jahr 2000 in Höhe von 1/12 zu kürzen, weil sie für einen Tag Krankengeld nach § 45 SGB V wegen der Betreuung eines erkrankten Kindes bezogen hat.
Die Klägerin ist seit ca. 14 Jahren für die Beklagte tätig. Auf das Arbeitsverhältnis findet aufgrund beiderseitiger Verbandszugehörigkeit der Manteltarifvertrag für die Beschäftigten in der Wohnungswirtschaft im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland vom 3. Juni 1997 (im folgenden: MTV) Anwendung. Dieser regelt die Zahlung von Sonderzuwendungen in § 8 wie folgt:
- “
- Alle Beschäftigten erhalten am 1. Dezember eines jeden Jahres zusätzlich 100 %der zu diesem Zeitpunkt vereinbarten Monatsvergütung (13. Monatsgehalt). Überstunden-, Leistungs- (§ 3 Abs. 3) und Erschwerniszulagen (§ 7 VTV) werden vorbehaltlich einer anderweitigen Regelung in einer Betriebsvereinbarung nicht eingerechnet.
- Alle Beschäftigten in dem Gebiet, in dem schon vor dem 3. Oktober 1990 das Grundgesetz galt, erhalten ein zusätzliches Urlaubsgeld in Höhe von 100 %der nach dem Vergütungstarifvertrag vom 20. März 1996 zu zahlenden Monatsvergütung gem. § 4 (14. Monatsgehalt). Hinsichtlich der Zulagen gilt das in Abs. 1 Geregelte.
- ...
- Das Urlaubsgeld wird mit der Monatsvergütung für Juli ausgezahlt.
Ausscheidende oder neu eingestellte Beschäftigte sowie Beschäftigte, deren Arbeitsverhältnis ruht (Erziehungsurlaub, Wehrdienst) sowie bei unbezahltem Sonderurlaub und Krankengeldbezug, haben im Kalenderjahr für jeden vollen Monat, in dem sie gearbeitet haben, Anspruch auf 1/12 dieser Sonderzahlungen.
Bei ausscheidenden Beschäftigten wird der anteilige Betrag am letzten Tag des Monats des Ausscheidens fällig.
- ...”
§ 13 des Manteltarifvertrages verhält sich über Arbeitsbefreiungen wie folgt:
- “
Beschäftigte werden zur Ausübung gesetzlich auferlegter Pflichten und zur Ausübung öffentlicher Ehrenämter unter Fortzahlung der Vergütung freigestellt. Soweit dabei Anspruch auf Verdienstausfall besteht, ist dieser in Anspruch zu nehmen. Diese Beträge sind dem Unternehmen bis zur Höhe seiner Aufwendungen abzuführen.
Für die Freistellung zur Pflege erkrankter Kinder gilt § 45 SGB V mit der Maßgabe, daß § 616 BGB dabei nicht zur Anwendung kommt.
- Zur Teilnahme an Tarifverhandlungen oder Tarifkommissionssitzungen oder für Tagungen satzungsgemäßer Gremien auf der Bundesebene der Gewerkschaften ist den Beschäftigten auf Anforderung einer der vertragschließenden Gewerkschaften Arbeitsbefreiung unter Fortzahlung der Vergütung zu gewähren. Eine Anrechnung auf den Erholungsurlaub ist nicht zulässig.
- Zur Teilnahme an Sitzungen von Gremien der zuständigen Stellen für die Berufsausbildung werden die Beschäftigten unter Fortzahlung der Vergütung und ohne Anrechnung auf den Urlaub freigestellt.
- Zur häuslichen Prüfungsvorbereitung werden die Auszubildenden an den beiden vor der Abschlußprüfung liegenden Arbeitstagen unter Fortzahlung der Ausbildungsvergütung und ohne Anrechnung auf den Urlaub freigestellt.”
Am 7. Februar 2000 erkrankte das damals drei Jahre alte Kind der Klägerin. In Absprache mit der Beklagten nahm sie für diesen Tag frei, um das Kind zu Hause zu pflegen. Sie erhielt für diesen Tag Krankengeld gem. § 45 SGB V. Die Beklagte kürzte die der Klägerin zustehende Sonderzahlung nach § 8 Ziff. 2 MTV (Urlaubsgeld) um 280,50 DM brutto und die zum 1. Dezember fällige Sonderzahlung nach § 8 Ziff. 1 MTV um einen Betrag von 354,00 DM brutto. Der Kürzungsbetrag entspricht 1/12 des Anspruchs auf Sonderzahlungen nach § 8 Ziff. 1 und 2 MTV.
Die Klägerin hält diese Kürzung für rechtswidrig. Sie vertritt die Auffassung, der Bezug von Krankengeld bei Erkrankung eines Kindes nach § 45 SGB V löse die Kürzung der Sonderzuwendungen nach § 8 Ziff. 6 MTV nicht aus. Der Tarifvertrag unterscheide zwischen dem Krankengeldbezug nach § 44 SGB V im Fall der Arbeitsunfähigkeit und dem Bezug von Krankengeld bei Erkrankung des Kindes nach § 45 SGB V. Eine Kürzung der Sonderzahlungen solle nach dem Tarifvertrag nur bei länger als sechs Wochen andauernder Arbeitsunfähigkeit ausgelöst werden, nicht aber bei der nur kurzfristigen Abwesenheit wegen der Betreuung eines erkrankten Kindes. Auch die Tarifvertragsparteien seien dem in Art. 6 GG gewährleisteten Schutz von Ehe und Familie verpflichtet. Es sei nicht anzunehmen, daß sie eine Benachteiligung wegen einer typischen familiären Situation hätten vereinbaren wollen.
Die Klägerin hat beantragt,
- die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 280,50 DM brutto nebst 9,26 % Zinsen seit dem 2. Oktober 2000 zu zahlen,
festzustellen, daß im Falle der Betreuung eines erkrankten Kindes die Beklagte nicht berechtigt ist, von der Sonderzahlung (Weihnachtsgeld) einen Abzug von 1/12 vorzunehmen,
zweitinstanzlich hilfsweise
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 354,00 DM brutto nebst 9,26 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte hat zu ihrem Klageabweisungsantrag die Auffassung vertreten, seinem Wortlaut nach erfasse § 8 Ziff. 6 MTV jede Form von Krankengeldzahlung. Die Klägerin habe nach § 13 Ziff. 1 Abs. 2 MTV für den 7. Februar 2000 keinen Anspruch auf Vergütung, sondern ausschließlich einen Anspruch auf Krankengeld nach § 45 SGB V gehabt. Nach § 8 Ziff. 6 MTV lösten nicht nur längerfristige Abwesenheitszeiten, sondern auch kurzfristige Zeiten des Krankengeldbezuges oder des unbezahlten Sonderurlaubs die Kürzung der Sonderzuwendungen aus.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Klageanträge weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf ungekürzte Sonderzahlungen gem. § 8 Ziff. 1 und Ziff. 2 MTV.
Unterschriften
Dr. Freitag, Fischermeier, Marquardt, v. Baumgarten, Trümner
Fundstellen
Haufe-Index 843041 |
BB 2002, 2392 |
DB 2002, 2493 |
NWB 2002, 4312 |
EBE/BAG 2002, 171 |
ARST 2003, 73 |
FA 2002, 387 |
FA 2002, 394 |
FA 2003, 48 |
SAE 2003, 230 |
ZAP 2002, 1333 |
ZTR 2003, 86 |
AP, 0 |
EzA-SD 2002, 4 |
EzA |
PERSONAL 2003, 58 |
AUR 2002, 438 |
RdW 2003, 183 |