Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. sexueller Missbrauch in der Kindheit. Beweiserleichterung. Untersuchungsgrundsatz. kein psychotraumatologisches Gutachten zur Ermöglichung des Tatsachenvortrags. Glaubhaftigkeitsgutachten. eigene aussagepsychologische Sachkunde des Gerichts. Scheinerinnerung. kein erwartbarer Erkenntnisgewinn bei wahnhafter Störung der Aussageperson. sozialgerichtliches Verfahren. Tätlicher Angriff. Ursächlicher Zusammenhang. Psychische Erkrankung
Leitsatz (amtlich)
1. Im sozialgerichtlichen Verfahren besteht keine Veranlassung zur Einholung eines psychotraumatologischen Gutachtens bzw zur Durchführung einer psychotraumatologischen Befragung, um dem Antragsteller des Opferentschädigungsverfahrens überhaupt erst zu ermöglichen, bestimmte anspruchsbegründende Tatsachen zu behaupten und sodann gegebenenfalls unter Beweis zu stellen.
2. Die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens ist nur geboten, wenn Sachverhalt oder Aussageperson solche Besonderheiten aufweisen, die eine Sachkunde erfordern, die ein Richter normalerweise nicht hat (Fortführung der ständigen Rechtsprechung des Senats).
3. Sowohl ein Nachweis als auch eine Glaubhaftmachung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 OEG allein aufgrund des Vorliegens einer bestimmten Erkrankung ist grundsätzlich nicht möglich (Fortführung der ständigen Rechtsprechung des Senats).
Orientierungssatz
In einem Fall, in dem die Aussageperson an einer wahnhaften Störung leidet, ist die Einholung eines Glaubhaftigkeitsgutachtens nicht sinnvoll, da in der weiteren Verhaltensanalyse im Rahmen einer Begutachtung aufgrund der subjektiven Überzeugung der Aussageperson von Wahninhalten keine weiteren wesentlichen Erkenntnisse zu erwarten sind (vgl LSG München vom 30.6.2009 - L 15 VG 17/05).
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1 S. 1, § 6 Abs. 3; KOVVfG § 15 S. 1
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 17. September 2009 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten wegen Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Die 1978 geborene Klägerin, für die mit Änderungsbescheid vom 26.11.2013 des Beklagten ein Grad der Behinderung von derzeit 20 festgestellt worden ist, stellte am 26.09.2000 erstmals Antrag auf Versorgung nach dem OEG, da sie als kleines Kind sieben Jahre lang von ihrem Großvater L. E. missbraucht worden sei. Mit Bescheid vom 01.08.2001 wurde der Antrag abgelehnt, da die Anspruchsvoraussetzungen nicht nachgewiesen seien. In dem daraufhin neu aufgenommenen Verfahren wurde die Klägerin am 02.10.2001 von einer Mitarbeiterin des Beklagten im Rahmen der Sonderbetreuung aufgesucht. Dieser gegenüber machte die Klägerin die folgenden Angaben: Sie sei von ihrem Großvater missbraucht worden. Bis zum 18. Lebensjahr habe sie niemandem davon erzählt, weil es ihr eh niemand geglaubt hätte und weil der Großvater gedroht habe, dass er ihre Mutter umbringen werde und sie, die Klägerin, dabei zuschauen müsse. Die Klägerin habe sehr viel Angst vor ihrem Großvater gehabt, welcher zwischenzeitlich verstorben sei. Dieser habe ihr auch beigebracht, sich auf Befehl mit Gift umzubringen. Sie sei derzeit dabei, alles in Therapien aufzuarbeiten. Ihr Ex-Freund habe sie zu Drogen gebracht, sie geschlagen und sie vergewaltigt. Er sei ein Nazi gewesen, der sozusagen in die Rolle des Großvaters geschlüpft sei. In der ganzen Familie bestünden Missbrauchsfälle. Ihre Mutter, die Zeugin D., sei von deren älterem Bruder missbraucht worden, die Schwester der Mutter, die Zeugin F., von demselben Täter wie die Klägerin. Als Schädigungsfolgen machte die Klägerin eine multiple Persönlichkeitsstörung, autoaggressives Verhalten seit frühester Kindheit und Suizidgefährdung, momentan gebessert, geltend.
Im Verwaltungsverfahren wertete der Beklagte die zahlreichen vorliegenden medizinischen Unterlagen aus. Der Facharzt für psychotherapeutische Medizin und Psychotherapie S. stellte in seinem Bericht vom 25.10.2001 die Diagnose einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung mit Borderline-Beziehungsstruktur und ausgeprägten dissoziativen Mechanismen. Im Entlassungsbericht des Bezirkskrankenhauses (BKH)
A-Stadt bzgl. eines Aufenthalts vom 10.03. bis 14.05.1997 wurde die Diagnose akute Belastungsreaktion bei Trennungskonflikt bei unreifer Persönlichkeit gestellt. Die Aufnahme sei erfolgt, weil die Klägerin sich eine Schnittverletzung am linken Unterarm zugefügt habe, nachdem sie ihr Freund wegen ihrer langjährigen besten Freundin verlassen habe. Der Großvater sei Alkoholiker gewesen. Sie verachte ihn; sie habe mitanschauen müssen, wie er die Großmutter verprügelt habe. Sie habe Angst vor ihm gehabt, obwohl sie seine Lieblingsenkelin gewesen sei. Überhaupt habe es in dieser Familie sehr viele Übergriffe gegeben.
Im Rahmen des früheren Betreuungsverfahrens - eine Betreuung besteht für die Kläger...