Leitsatz (amtlich)
1. Im Fall eines gerichtlichen Zuständigkeitsstreits ist auch die beklagte Partei berechtigt, die Zuständigkeitsfrage in einem Verfahren gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO klären zu lassen.
2. Ein Verweisungsbeschluss ist unter Verstoß gegen das Gebot rechtlichen Gehörs ergangen, wenn der Verweisungsantrag zusätzliche Fragen aufwirft, das Gericht aber von einer ergänzenden Anhörung der beklagten Seite absieht und über den Verweisungsantrag entscheidet, ohne ihn der Gegenseite zur Kenntnis gebracht und eine Frist abgewartet zu haben, innerhalb deren eine eventuell beabsichtigte Stellungnahme unter normalen Umständen eingehen kann.
3. Ein Verweisungsbeschluss verstößt gegen das Willkürverbot, wenn sich das verweisende Gericht über seine eigene unzweifelhaft und offensichtlich gegebene Zuständigkeit für die Klage hinwegsetzt.
4. Nach Klageerhebung bei einem zuständigen Gericht kann die klagende Partei die unter mehreren nicht ausschließlichen Gerichtsständen getroffene Wahl nicht mehr durch Verweisungsantrag abändern. Ist das angerufene Gericht nur für die Klage gegen einen von mehreren Beklagten zuständig, scheidet eine Gesamtverweisung des Rechtsstreits an das ursprünglich gemeinsam zuständige Gericht aus.
Verfahrensgang
LG Nürnberg-Fürth (Aktenzeichen 8 O 6774/23) |
LG Kassel (Aktenzeichen 5 O 200/24) |
Tenor
(Örtlich) zuständig ist das Landgericht Nürnberg-Fürth.
Gründe
I. Die Parteien des Hauptsacheverfahrens streiten um Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall, der sich am 2. März 2023 in Kassel ereignet hat. Mit ihrer zum Landgericht Nürnberg-Fürth eingereichten Klage forderte die Klägerin Ersatz des Schadens, der an dem von ihr geleasten Kraftfahrzeug entstanden sein soll. Ihre Klage richtete sie gegen den im Bezirk des Landgerichts Essen wohnhaften Fahrer und Halter des weiteren unfallbeteiligten Personenkraftwagens und dessen in Nürnberg ansässige Haftpflichtversicherung. Wegen der örtlichen Zuständigkeit des angerufenen Gerichts bezog sie sich auf den Sitz des Haftpflichtversicherers in Nürnberg.
Die Beklagten rügten mit der Verteidigungsanzeige die örtliche Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts und "beantragten" die Verweisung des Rechtsstreits an das Landgericht Kassel "zur dortigen Verbindung". Nachdem die Klägerin nochmals auf den Sitz der Haftpflichtversicherung in Nürnberg hingewiesen hatte, machten die Beklagten geltend, dass das Landgericht Nürnberg-Fürth nur für die Klage gegen die Haftpflichtversicherung örtlich zuständig, im Übrigen aber unzuständig sei. Daraufhin beantragte die Klägerin mit Schriftsatz vom 8. Januar 2024 die Verweisung des Rechtsstreits an das Landgericht Kassel mit der Begründung, dass im Bezirk dieses Gerichts der Unfallort liege. Dort bestehe mithin ein gemeinsamer Gerichtsstand für beide Beklagte.
Ohne die Beklagten zu diesem Antrag anzuhören, erklärte sich das Landgericht Nürnberg-Fürth mit Beschluss vom 9. Januar 2024 für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das Landgericht Kassel. Zur Begründung führte es aus, das angegangene Gericht sei örtlich unzuständig; hinsichtlich der Haftpflichtversicherung, der Beklagten zu 2), sei insoweit von einer entsprechenden Gerichtsstandsvereinbarung auszugehen.
Mit Beschluss vom 2. Februar 2024 übernahm das Landgericht Kassel den Rechtsstreit nur hinsichtlich des Fahrzeugführers und Halters, des (damaligen) Beklagten zu 1). Hinsichtlich der Haftpflichtversicherung lehnte es die Übernahme des Rechtsstreits ab, weil die Verweisung insoweit willkürlich erfolgt sei. Mit der Anrufung des Landgerichts Nürnberg-Fürth habe die Klägerin ein für diese Beklagte örtlich zuständiges Gericht gewählt. Die Wahl sei mit der Klagezustellung unwiderruflich und bindend geworden.
Einer Verweisung stehe der Grundsatz der perpetuatio fori entgegen. Zudem entbehre die Annahme einer Gerichtsstandsvereinbarung jeglicher Grundlage.
Nach einem Hinweis des Landgerichts Kassel, dass es prozessökonomisch erscheine, das Verfahren "gegen den nun einzigen Beklagten" zu dem beim selben Gericht bereits anhängigen Verfahren umgekehrten Rubrums gemäß § 147 ZPO zu verbinden, nahm die Klägerin mit ihrem an das Landgericht Kassel gerichteten Schriftsatz vom 5. März 2024 die gegen diesen Beklagten gerichtete Klage zurück. Sie betonte, die Klage gegen die Haftpflichtversicherung vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth aufrechtzuerhalten. Sie äußerte die Ansicht, dass das Verfahren somit vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth fortzusetzen sei.
Die gegnerischen Prozessbevollmächtigten vertraten die Rechtsansicht, dass der Verweisungsbeschluss Bindungswirkung entfalte, weshalb das Landgericht Kassel trotz Rücknahme der gegen den früheren Beklagten zu 1) gerichteten Klage für den verbliebenen Rechtsstreit gegen die Haftpflichtversicherung zuständig geworden sei. Die Verweisung sei nicht willkürlich erfolgt, denn im Zeitpunkt der Verweisung habe ein gemeinsamer Gerichtsstand nur beim Landgericht Kassel bestanden. Dass das verweisende Gericht sich mit einer seine...