Entscheidungsstichwort (Thema)
Bußgeldverfahren. Fahrverbot. Urteil. Urteilsaufhebung. Rechtsbeschwerde. Sachrüge. Urteilsfeststellungen. verständlich. Tat. Tatgeschehen. Tateinheit. Tatmehrheit. Tatzeit. Tattag. Uhrzeit. Konkretisierung. Hauptverhandlung. Anwesenheit. Einlassung. Betroffeneneinlassung. Verteidiger. Vertretungsvollmacht. Autobahn. Lkw. Sattelzug. Abstand. Mindestabstand. Sicherheitsabstand. Abstandsverstoß. Vorausfahrender. Überholen. Überholvorgang. Überholverstoß. Überholender. Behinderung. Rückstau. Elefantenrennen. Geschwindigkeit. Geschwindigkeitsunterschied. Differenzgeschwindigkeit. Zeitangabe. Zeuge. Polizeibeamter. Streifenfahrzeug. Schätzung. Schätzgrundlage. gefühlsmäßig. Mitzählen. Uhr. Spurwechsel. Einscheren. Einordnen. Abbremsen. Beweiswürdigung. Beweisergebnis. Überzeugungsbildung. widersprüchlich. unklar. lückenhaft. Denkgesetz. Erfahrungssatz. Zweifelssatz. Bezugnahme. Akten. Verweisung. Abbildung. Lichtbild. Vorahndung. Vorahndungslage
Leitsatz (amtlich)
1. Zur Konkretisierung des Tatgeschehens ist im Urteil regelmäßig die Darstellung der Tatzeit erforderlich.
2. Im Falle eines verurteilenden Erkenntnisses ist grundsätzlich die Einlassung des Betroffenen wiederzugeben, weil diese den Umfang der Beweiswürdigung bestimmt.
3. Ein Verstoß gegen § 5 Abs. 2 Satz 2 StVO, wonach Überholen nur erlaubt ist, wenn der Überholende mit wesentlich höherer Geschwindigkeit als der zu Überholende fährt, ist in der Regel dann anzunehmen, wenn die Differenzgeschwindigkeit weniger als 10 km/h beträgt, was bei einer Geschwindigkeit des überholenden Fahrzeugs von 80 km/h einer Dauer des Überholvorgangs von 45 Sekunden entspricht.
4. Stützt das Tatgericht die Verurteilung auf eine Schätzung von Zeitangaben eines Zeugen, bedarf es regelmäßig genauer Feststellungen dazu, auf welcher Grundlage der Zeuge zu der zeitlichen Einschätzung gelangt ist.
Normenkette
StVG § 25 Abs. 1, 2a; StVO § 4 Abs. 3, § 5 Abs. 2 S. 2; StPO §§ 261, 267 Abs. 1 S. 3, § 353; OWiG § 19 Abs. 1, § 79 Abs. 3 S. 1, Abs. 5 S. 1, § 79 Abs. .6, § 80a Abs. 1
Verfahrensgang
AG Mühldorf a. Inn (Entscheidung vom 10.07.2023) |
Tenor
I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Mühldorf a. Inn vom 10.07.2023 mit den Feststellungen sowie in der Kostenentscheidung aufgehoben.
II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Mühldorf a. Inn zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Mühldorf a. Inn hat den Betroffenen am 10.07.2023 wegen einer als Führer eines Lkws fahrlässig begangenen Ordnungswidrigkeit des Nichteinhaltens des Mindestabstands von 50 m zum vorausfahrenden Fahrzeug gemäß § 4 Abs. 3 StVO "und" des Überholens, obwohl die gefahrene Geschwindigkeit nicht wesentlich höher war als die des überholten Fahrzeugs, gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 StVO zur Geldbuße von 200 Euro verurteilt und gegen ihn ein einmonatiges Fahrverbot nach Maßgabe des § 25 Abs. 2a StVG verhängt. Mit seiner gegen diese Verurteilung gerichteten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung materiellen Rechts.
II.
Das Amtsgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
Der Betroffene befuhr als Fahrer eines Sattelzugs mit Auflieger (zulässige Gesamtmasse über 3,5 t) die Bundesautobahn A 94 und überholte zwei vor ihm fahrende Fahrzeuge. Für den Überholvorgang benötigte er insgesamt eine Zeitspanne von mehr als 1 Minute, wodurch es zu einem "Rückstau" mehrerer Fahrzeuge kam. Nach dem Einscheren auf die rechte Spur betrug der Abstand zu dem vor ihm fahrenden Fahrzeug bei einer Geschwindigkeit von mehr als 50 km/h weniger als 10 m. Dazu, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit sich der Vorfall ereignete, verhält sich das Urteil nicht.
III.
Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Das Urteil des Amtsgerichts kann aufgrund der erhobenen Sachrüge keinen Bestand haben.
1. Das angefochtene Urteil ist bereits deswegen materiell-rechtlich fehlerhaft, weil das festgestellte Tatgeschehen mangels Angabe der Tatzeit nicht ausreichend konkretisiert ist.
2. Darüber hinaus ist die Beweiswürdigung in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft.
a) Zwar ist die Beweiswürdigung Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die Prüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Das ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht nur der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder überhöhte Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung gestellt wurden oder sich auf nichtexistierende Erfahrungssätze stützt (st.Rspr., vgl. zuletzt nur BGH, Urt. v. 23.03.2023 - 3 StR 277/22; 16.03.2023 - 4 StR 252/22; Beschl. v. 02.03.2023 - 2 StR 119/22, jew. bei juris; BayObLG, Besc...