Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachlaß. Erteilung eines Erbscheins. Zwischenstreit über ärztliche Zeugnisverweigerung. Erbscheinserteilung
Leitsatz (redaktionell)
1. Die ärztliche Schweigepflicht reicht auch über den Tod des Patienten hinaus.
2. Nach dem Tode hängt es in erster Linie vom Willen des Patienten ab, ob und in welchem Umfang der Arzt zu schweigen verpflichtet oder von seiner Schweigepflicht nunmehr feigestellt ist.
3. Lässt sich eine positive Willensäußerung des Verstorbenen feststellen, sei es ausdrücklich oder konkludent, sei es gegenüber dem Arzt oder gegenüber Dritten, dass ist dieser Wille grundsätzlich maßgebend.
4. Das Recht, von der Schweigepflicht zu befreien, geht nur insoweit auf den Erben über, als eine Zeugenaussage des Arztes sich auf Tatsachen bezieht, die dem vermögensrechtlichen Bereich zuzuordnen sind.
5. In welchem Umfang die Geheimhaltungspflicht nach dem Tode des Vertrauensgebers fortbesteht, ist nach Lage des Einzelfalls differenzierend festzustellen. Geht ein mutmaßlicher Wille des Verstorbenen eindeutig dahin, dass er unter Berücksichtigung seines wohlverstandenen Interesses auf weitere Geheimhaltung verzichten würde, so steht dem Zeugen ein Verweigerungsrecht aus § 385 Abs. 2 ZPO, § 15 Abs. 1 Satz 1 FGG nicht zu.
Normenkette
BGB § 1928; ZPO § 385 Abs. 2
Verfahrensgang
LG Kempten (Beschluss vom 27.05.1986; Aktenzeichen 4 T 320/86) |
AG Kempten (Aktenzeichen 5 VI 403/85) |
Tenor
I. Die sofortige weitere Beschwerde gegen den Beschluß des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 27. Mai 1986 wird zurückgewiesen.
II. Der Beteiligte zu 3 hat die den Beteiligten zu 1 und 2 im Verfahren der weiteren Beschwerde erwachsenen Kosten zu erstatten.
III, Der Geschäftswert für das Verfahren der weiteren Beschwerde wird auf 5 000 DM festgesetzt.
Tatbestand
I.
1. Am 5.6.1985 verstarb in … der frühere … am Landgericht … (Erblasser) im Alter von … Jahren. Seinen letzten Wohnsitz hatte er in … Er war ledig und hinterließ keine Abkömmlinge. Von seinen Geschwistern lebt allein seine Schwester … (Beteiligte zu 1).
2. Der Erblasser hatte am 9.10.1984 zur Niederschrift des Notars … ein Testament errichtet. In dessen Nr. III hat er die Beteiligte zu 2 zu seiner alleinigen und unbeschränkten Erbin eingesetzt „als Entschädigung … für ihre Fürsorge und Betreuung während der letzten zehn Jahre”. Die Beteiligte zu 2 beantragte beim Amtsgericht – Nachlaßgericht Kempten – die Erteilung eines Erbscheins als Alleinerbin auf Grund des notariellen Testaments. Die Beteiligte zu 1 beantragte die Erteilung eines Erbscheins als Alleinerbin auf Grund gesetzlicher Erbfolge und machte geltend, der Erblasser sei zur Zeit der Testamentserrichtung nicht testierfähig gewesen. Hierfür benannte sie mehrere Zeugen und legte eine ärztliche Bescheinigung des Beteiligten zu 3, … Chefarzt der Inneren Abteilung des Stadtkrankenhauses … (…) vom 26.6.1985 vor; sie lautet wie folgt:
„… stand vom 28.1.1985 bis 9.2.1985 in meiner stationären Behandlung. Die Aufnahme erfolgte wegen dekompensierter, vorwiegend Rechtsherzinsuffizienz.
Am 9.2.85 mußte … in das Bezirkskrankenhaus … zwangsweise eingewiesen werden aufgrund zunehmender Selbstgefährdung mit Geschäftsunfähigkeit bei progredienter Cerebralsklerose. Die stationäre Überwachung konnte aufgrund der Selbstgefährdung von mir nicht mehr länger verantwortet werden”.
Das Nachlaßgericht hat als Zeugen vernommen: den Pfarrer … die Krankenschwester … den Filialleiter der Sparkasse den Notar … die Steuerberaterin … sowie … Firmpatenkind des Erblassers, die Nachbarinnen … und … Die Zeugen … und … wurden durch das Amtsgericht München vernommen, die Zeugen … und …. durch das Amtsgericht – Nachlaßgericht – Obernburg/Main.
Am 16.7.1985 ersuchte das Nachlaßgericht den Chefarzt … um „eine kurze gutachtliche Stellungnahme zu der Frage, ob der Erblasser bereits im Zeitpunkt der Errichtung des Testaments, also am 9.10.1984 als geschäftsunfähig angesehen werden mußte”, ferner, ob der Erblasser dauernd geschäftsunfähig gewesen sei, ob es Anzeichen für sogenannte lichte Momente gegeben habe und ob Erkenntnisse darüber gewonnen werden konnten, daß der Erblasser sich über die Tragweite seiner letztwilligen Anordnung und über ihre Auswirkung für die davon Betroffenen kein klares Urteil mehr habe bilden können. Mit dem Hinweis, daß der Erblasser mit Beschluß vom 21.3.1985 unter Pflegschaft gestellt worden sei, weil er an einem hirnorganischen Psychosyndrom gelitten habe und deswegen geschäftsunfähig gewesen sei, hat das Gericht die Frage verbunden, ob und inwieweit sich der Zustand vom März 1985 auf die Zeit vom Oktober 1984 „zurückprojizieren” lasse.
Der Beteiligte zu 3 berief sich auf das Zeugnisverweigerungsrecht. Als Leitender Arzt in verantwortlicher Position seien Fragen der ärztlichen Schweigepflicht und des ärztlichen Zeugnisverweigerungsrechts für ihn von besonderem Interesse. Selbst wenn die Preisgabe der ihm vom Erblasser anvertrauten und bekanntgewordenen Vorgänge gerechtfertigt wäre, bleibe es seiner freien Entscheidun...