Leitsatz (amtlich)
1. Umsatzsteuer ist nicht i.S. von § 15 Abs.1 Nr.1 UStG 1967/1973 gesondert in Rechnung gestellt, wenn in der Urkunde nicht durch Angaben tatsächlicher Art zum Ausdruck kommt, daß die gesondert ausgewiesene Steuer auf Lieferungen oder sonstigen Leistungen des Rechnungsausstellers an den Leistungsempfänger beruht (BFH-Urteil vom 24.April 1986 V R 138/78, BFHE 146, 489, BStBl II 1986, 581).
2. Der Mangel der fehlenden Rechnung kann nicht durch Schätzung behoben werden.
Orientierungssatz
1. Die gemäß § 15 UStG 1967/1973 abziehbaren Vorsteuerbeträge sind unselbständige, mit Rechtsmitteln nicht anfechtbare Teile des Umsatzsteuerbescheids (vgl. BFH-Urteil vom 30.9.1976 V R 109/73).
2. Seit dem Inkrafttreten der AO 1977 kann über Billigkeitsmaßnahmen nach § 163 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 nicht mehr im Klageverfahren gegen die Steuerfestsetzung entschieden werden. Steuerfestsetzung und Entscheidung über Billigkeitsmaßnahmen nach § 163 Abs. 1 AO 1977 sind zwei verschiedene Verwaltungsakte, die mit unterschiedlichen Rechtsbehelfen angefochten werden. Dies gilt für alle Verfahren, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der AO 1977 anhängig waren (BFH).
3. Die Schätzung (§ 217 AO, § 162 AO 1977) ist ein Verfahren, Besteuerungsgrundlagen mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zu ermitteln, wenn eine sichere Feststellung trotz des Bemühens um Aufklärung nicht möglich ist (BFH-Urteil vom 18.12.1984 VIII R 195/82). Eine Schätzung ist aber nicht zulässig, wenn das Vorliegen einer Besteuerungsgrundlage in einer bestimmten Form nachgewiesen werden muß. Fehlt der Nachweis in der vorgeschriebenen Form, dann ist der gesetzliche Tatbestand nicht erfüllt.
Normenkette
UStG 1967 § 14 Abs. 1; UStG 1973 § 14 Abs. 1; UStG 1967 § 15 Abs. 1 Nr. 1; UStG 1973 § 15 Abs. 1 Nr. 1; AO § 217; AO 1977 § 157 Abs. 2, §§ 162, 163 Abs. 1
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betrieb einen ambulanten Einzelhandel mit Textilien. Aufgrund einer Selbstanzeige vom 22.April 1974 wurde dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) bekannt, daß die Klägerin in den Jahren 1960 bis 1974 außer den in den Umsatzsteuererklärungen und Voranmeldungen bereits erklärten Umsätzen weitere Umsätze ausgeführt hatte. Die Höhe dieser zusätzlichen Umsätze wurde von der Klägerin in geschätzter Höhe angegeben; die diesen Umsätzen jeweils zugrunde liegenden Wareneinkäufe schätzte sie mangels Lieferantenrechnungen auf 75 v.H. der Mehrumsätze. Nach einer Überprüfung durch eine Steuerfahndungsprüfung erließ das FA für die Jahre 1960 bis 1973 Umsatzsteuerberichtigungsbescheide vom 25.September 1974 und 16.Dezember 1975, wobei die Schätzungen der Klägerin zugrunde gelegt wurden.
In der Umsatzsteuererklärung 1974 vom 5.Mai 1975 machte die Klägerin einen Vorsteuerbetrag von 13 258 DM geltend. Hierfür legte sie dem FA die Ablichtung eines Schreibens der Firma N vom ... 1974 mit folgendem Inhalt vor:
"Frau ...
.....
.....
Zum Zweck des Vorsteuerabzugs bestätigen wir Ihnen, daß die in den Jahren 1968 - 1974 mit Ihnen getätigten Umsätze der Mehrwertsteuer unterworfen wurden, und zwar mit folgenden Beträgen:
(es folgt die Aufstellung der Beträge für die einzelnen Jahre aufgegliedert in Nettobeträge, Vorsteuerbeträge (unter Angabe des Steuersatzes) und Bruttobeträge).
Hochachtungsvoll
...."
Die ausgewiesenen Bruttobeträge stimmen mit dem von der Klägerin geschätzten Wareneinsatz für die nachträglich erklärten Umsätze in den Jahren 1968 bis 1972 überein. Für die Jahre 1973 und 1974 ergeben sich Abweichungen; in 1973 beträgt der von der Klägerin erklärte Wareneinsatz 27 000 DM, in 1974 6 750 DM.
Das FA versagte durch Umsatzsteuerbescheid 1974 vom 16.Dezember 1975 den Abzug der Vorsteuern von 13 258 DM, weil keine den Anforderungen des § 14 Abs.1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) entsprechende Rechnung vorliege. Der Einspruch --Einspruchsentscheidung vom 19.Februar 1976-- blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage im wesentlichen statt. Zur Begründung führte es aus: § 15 Abs.1 Nr.1 UStG nehme nicht ausdrücklich auf § 14 Abs.1 UStG Bezug. Dem Wortlaut des § 15 Abs.1 Nr.1 UStG lasse sich jedoch entnehmen, daß der Vorsteuerabzug grundsätzlich nur zulässig sei, wenn die Rechnung den Steuerbetrag, den Rechnungsaussteller und den Empfänger der Rechnung ausweise. Darüber hinaus müsse die Rechnung auch über die Lieferungen und Leistungen an den Abnehmer für sein Unternehmen Auskunft geben. Hierfür sei es jedoch ausreichend, daß die Rechnung keine Zweifel darüber aufkommen lasse, die Lieferungen und Leistungen seien für das Unternehmen des Abnehmers bestimmt. In der Erklärung der Firma N vom ... 1974 seien zwar die an die Klägerin gelieferten Waren nicht bezeichnet. Da die Firma N jedoch Waren herstelle, die dem Warenangebot der Klägerin entsprächen, unter den Beteiligten hierüber offensichtlich auch keine Meinungsverschiedenheit bestehe, sehe es der Senat als erwiesen an, daß die in den Abrechnungen genannten Umsätze Lieferungen beträfen, die für das Unternehmen der Klägerin ausgeführt worden seien. Unter solch besonders gelagerten Umständen würde die Forderung nach Angabe der im einzelnen an die Klägerin gelieferten Waren auf Rechnungen als Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug zu einer bloßen Formsache werden.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) könne ein Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen gewährt werden, wenn die Besteuerung eines Sachverhalts, der unter einen gesetzlichen Besteuerungstatbestand falle, im Einzelfall mit dem Sinn und Zweck des Steuergesetzes nicht vereinbar sei. Der Senat sehe es danach als sachlich unbillig an, der Klägerin den Abzug von Vorsteuern insoweit zu versagen, als die Firma N nach ihrer eigenen Erklärung vom ... 1974 und nach den Feststellungen der Steuerfahndung für Lieferungen und Leistungen an die Klägerin Umsatzsteuer schulde. Da im Streitfall das Ermessen der Verwaltungsbehörde ausnahmsweise so eingeengt sei, daß nur eine bestimmte Entscheidung möglich sei, setze der Senat sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörden.
Entsprechend diesen Ausführungen berücksichtigte das FG bei der Berechnung der Umsatzsteuer für 1974 die in dem Schreiben vom ... 1974 ausgewiesene Steuer als Vorsteuer mit der Einschränkung, daß es die für das Jahr 1973 für einen (Brutto-)Umsatz von 36 000 DM ausgewiesene Steuer entsprechend dem von der Klägerin erklärten --geschätzten-- Wareneinkauf von --brutto-- 27 000 DM ermäßigte.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung der §§ 14 Abs.1, 15 Abs.1 Nr.1 UStG. Das Schreiben der Firma N vom ... 1974 sei kein ausreichender Beleg für den Vorsteuerabzug. Rechnungen, die zum Vorsteuerabzug berechtigten, müßten vollständig die in § 14 UStG i.V.m. §§ 1 bis 6 der 1.Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung (1.UStDV) genannten Anforderungen erfüllen. Die Abrechnungen der Firma N enthalten keines der in § 14 Abs.1 Nr.3 und 4 UStG bezeichneten Tatbestandsmerkmale.
Das FA beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs.3 Nr.1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Die Vorentscheidung beruht auf einer Verletzung von § 102 FGO i.V.m. § 163, § 348 Abs.1 Nr.2 der Abgabenordnung (AO 1977).
Nach § 102 FGO prüft das Gericht, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die Finanzbehörde die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Eine derartige Entscheidung durfte das FG --auch für den Fall des sogenannten eingeengten Ermessens-- im Streitfall nicht treffen, weil dem Gericht keine Billigkeitsentscheidung im Sinne dieser Vorschrift zur Nachprüfung vorlag. Die von der Klägerin erhobene Anfechtungsklage hatte die Festsetzung der Umsatzsteuer für 1974 durch den Steuerbescheid vom 16.Dezember 1975 zum Gegenstand (§ 44 Abs.2 FGO). Die gemäß § 15 UStG 1967/1973 abziehbaren Vorsteuerbeträge sind unselbständige, mit Rechtsmitteln nicht anfechtbare Teile dieses Steuerbescheids (§ 213 Abs.1 der Reichsabgabenordnung --AO--, § 157 Abs.2 AO 1977; BFH-Urteil vom 30.September 1976 V R 109/73, BFHE 120, 562, BStBl II 1977, 227). Eine den Abzug der Vorsteuer aus Gründen der sachlichen Billigkeit (§ 131 Abs.1 Satz 2 AO, § 163 Abs.1 Satz 1 AO 1977) ablehnende Entscheidung hat das FA bei der Festsetzung der Umsatzsteuer offensichtlich nicht getroffen. Hierauf kommt es jedoch nicht an, denn seit dem Inkrafttreten der AO 1977 kann über Billigkeitsmaßnahmen nach § 163 Abs.1 Satz 1 AO 1977 nicht mehr im Klageverfahren gegen die Steuerfestsetzung entschieden werden. Steuerfestsetzung und Entscheidung über Billigkeitsmaßnahmen der genannten Art sind zwei verschiedene Verwaltungsakte, die mit unterschiedlichen Rechtsbehelfen angefochten werden. Dies gilt für alle Verfahren, die, wie das vorliegende, im Zeitpunkt des Inkrafttretens der AO 1977 anhängig waren (Art.97 § 1 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung 1977; BFH-Urteile vom 21.Dezember 1977 I R 247/74, BFHE 124, 199, BStBl II 1978, 305, und vom 28.November 1980 VI R 226/77, BFHE 132, 264, BStBl II 1981, 319). Das FG hätte daher weder für den Fall einer mit der Steuerfestsetzung verbundenen Billigkeitsentscheidung noch --wie vorliegend-- ohne eine derartige Verwaltungsentscheidung die Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen abändern dürfen.
2. Die Sache ist spruchreif (§ 126 Abs.3 Nr.1 FGO). Der vom FG festgestellte Sachverhalt läßt die Entscheidung des erkennenden Senats in der Sache zu, die Klage abzuweisen, weil der von der Klägerin geltend gemachte Vorsteuerabzugsanspruch --wenn auch aus anderen als den vom FA angeführten Gründen-- nicht besteht.
a) Nach § 15 Abs.1 Nr.1 UStG 1967/1973 setzte der Abzug von Vorsteuerbeträgen im Rahmen der Steuerberechnung (§ 16 UStG 1967/1973) voraus, daß dem Unternehmer die Steuern für Lieferungen oder sonstige Leistungen gesondert in Rechnung gestellt worden sind, die für sein Unternehmen ausgeführt worden sind. Hierzu hat der erkennende Senat in dem Urteil vom 24.April 1986 V R 138/78 (BFHE 146, 489, BStBl II 1986, 581) aufgeführt, nach dem Wortlaut des § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG 1967 brauche die Rechnung zwar nicht die in § 14 Abs.1 Nr.3 UStG 1967 geforderten Angaben zu enthalten, es müsse aber in der Rechnung durch Angaben tatsächlicher Art zum Ausdruck kommen, daß die gesondert ausgewiesene Steuer auf Lieferungen oder sonstigen Leistungen des Rechnungsausstellers an den Leistungsempfänger beruhe. Dem genügt das Schreiben der Firma N vom ... 1974 nicht. Die Bezugnahme auf "die in den Jahren 1968 bis 1974 mit Ihnen getätigten Umsätze ..." enthält keine Angaben tatsächlicher Art darüber, daß die Firma N an die Klägerin Lieferungen oder sonstige Leistungen erbracht habe, für welche die --gesondert ausgewiesene-- Steuer berechnet worden sei. Umsatzsteuerrechtlich handelt es sich bei dem Begriff Umsatz um einen Rechtsbegriff. Im Wirtschaftsleben wird damit der Wert der abgesetzten Erzeugnisse und der erbrachten Leistungen bezeichnet, läßt also nicht erkennen, daß die Umsätze auf Lieferungen oder sonstigen Leistungen der Firma N an die Klägerin beruhen. Auch die vom FG hervorgehobene Tatsache, daß die Firma N Waren herstelle, mit denen die Klägerin gehandelt habe, genügt nicht, denn hieraus ergibt sich nicht zwingend, daß die Firma N derartige Waren an die Klägerin geliefert hat und daß die angeführten Umsätze auf derartigen Lieferungen beruhen. Hinzu kommt, daß die von der Firma N angegebene Höhe der Umsätze offenkundig geschätzt ist und in den Jahren 1968 bis 1972 den von der Klägerin durch Schätzung ermittelten Wareneinkäufen entspricht. Es ist deshalb auch nach dem Umfang der Leistungen nicht zweifelsfrei, daß die von der Firma N ausgewiesene Steuer auf Lieferungen an die Klägerin beruht.
b) Eine Ermittlung der abziehbaren Vorsteuern durch Schätzung (§ 217 AO, § 162 AO 1977) kommt nicht in Betracht.
§ 15 Abs.1 Nr.1 UStG 1967/1973 erfordert --wie oben ausgeführt-- für den Vorsteuerabzug eine Rechnung in Gestalt einer Urkunde, in der zum Ausdruck kommt, daß die gesondert ausgewiesene Steuer auf Lieferungen oder sonstigen Leistungen des Rechnungsausstellers an den Leistungsempfänger beruht. Entsprechen, wie im Streitfall, die Angaben in der Urkunde diesen Voraussetzungen nicht, so liegt keine Rechnung im Sinne der genannten Vorschrift vor.
Dieser Mangel kann nicht durch Schätzung behoben werden. Der Schätzung zugänglich sind Besteuerungsgrundlagen (§ 217 Abs.1 Satz 1 AO, § 162 Abs.1 Satz 1 AO 1977); sie ist ein Verfahren, Besteuerungsgrundlagen mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zu ermitteln, wenn eine sichere Feststellung trotz des Bemühens um Aufklärung nicht möglich ist (BFH-Urteil vom 18.Dezember 1984 VIII R 195/82, BFHE 142, 558, BStBl II 1986, 226, m.w.N.). Eine Schätzung ist jedoch nicht zulässig, wenn das Vorliegen einer Besteuerungsgrundlage in einer bestimmten Form nachgewiesen werden muß. Fehlt der Nachweis in der vorgeschriebenen Form, dann ist der gesetzliche Tatbestand nicht erfüllt. Hierzu gehört die gesonderte Inrechnungstellung der Steuer i.S. von § 15 Abs.1 Nr.1 UStG 1967/1973. Die danach erforderliche Rechnung ist selbständiges Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes, dessen Verwirklichung erst den Vorsteuerabzugsanspruch entstehen läßt (vgl. auch BFH-Urteile vom 16.Dezember 1976 V R 107/73, BFHE 121, 106, BStBl II 1977, 273, und vom 13.Dezember 1984 V R 44/82, UR 1985, 90). Das Vorliegen einer Rechnung wird vom Gesetz für Zwecke der Steuerüberwälzung vom Leistenden auf den Leistungsempfänger gefordert, wie auch § 14 Abs.3 UStG 1967/1973 erweist. Der dem Leistungsempfänger zustehende Vorsteuerabzugsbetrag ergibt sich ausschließlich aus der Rechnung.
Fundstellen
Haufe-Index 61200 |
BStBl II 1986, 721 |
BFHE 146, 569 |
BFHE 1986, 569 |
BB 1986, 1697-1699 (ST) |
DB 1986, 2006-2007 (ST) |
DStR 1986, 694-695 (ST) |
HFR 1986, 532-533 (ST) |