Entscheidungsstichwort (Thema)
Unverzinslichkeit von Kindergeldnachzahlungen
Leitsatz (amtlich)
Kindergeldnachzahlungen sind nicht zu verzinsen.
Normenkette
AO 1977 § 37 Abs. 2, §§ 233a, 236; BGB § 286 Abs. 1, § 288 Abs. 1; EStG § 32 Abs. 6, § 62; GG Art. 3 Abs. 1; SGB I § 44
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) bezog für ihre 1977 geborene Tochter Kindergeld von der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse). Die Tochter besuchte bis zu ihrem Abitur im Juni 1996 das Gymnasium und war vom 22. Juni 1996 bis zum 21. Juli 1997 als Au-pair-Mädchen in den USA. Dort belegte sie an öffentlichen Schulen einen Kurs mit 22 Wochenstunden, um ihre Englischkenntnisse zu vervollständigen.
Die Familienkasse hob die Kindergeldfestsetzung durch Bescheid vom 6. Juni 1996 ab Juli 1996 auf, weil das Au-pair-Verhältnis nicht als Berufsausbildung anzuerkennen sei. Über den von der Klägerin am 21. Juni 1996 eingelegten Einspruch wurde zunächst nicht entschieden.
Im Juli 1997 wurde die Kindergeldzahlung wieder aufgenommen. Mit Schreiben vom 8. September 1999 bat die Klägerin um Überprüfung der Anspruchsberechtigung für Juli 1996 bis Juni 1997. Die Familienkasse schlug ein Ruhen des Verfahrens vor, da noch gerichtliche Verfahren anhängig seien. Damit war die Klägerin einverstanden.
Durch Einspruchsentscheidung vom 4. Oktober 2001 wurde der Klägerin unter Änderung des Bescheids vom 6. Juni 1996 Kindergeld für Juli 1996 bis Juni 1997 bewilligt und am 15. November 2001 nachgezahlt. Mit Schreiben vom 5. Dezember 2001 forderte die Klägerin Verzugszinsen von 4 v.H. bzw. ab dem 1. Juni 2000 von 5 v.H. sowie einen Basiszuschlag von 4,26 v.H. Dies lehnte die Familienkasse ab.
Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2004, 1480 abgedruckt.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Anwendung materiellen Rechts. Sie meint, die Verzinsung des Erstattungsanspruchs sei nach den Grundsätzen über den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch oder über eine entsprechende Anwendung des § 44 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) geboten. Da nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) bezogenes Kindergeld gemäß § 44 SGB I verzinst werde, könnten Zinsen nach dem Gleichheitsgrundsatz von allen Kindergeldempfängern beansprucht werden. Soweit das Kindergeld als Steuervergütung nicht nach der Abgabenordnung (AO 1977) verzinst werde, sei dies verfassungsrechtlich bedenklich.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG und die Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Familienkasse zu verurteilen, 178,47 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 26. Juli 2002 zu zahlen.
Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet, denn die Kindergeldnachzahlung ist nicht zu verzinsen.
1. Ein Zinsanspruch ergibt sich, wie das FG zutreffend entschieden hat, nicht aus § 233a AO 1977.
a) Die sog. Vollverzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen gilt nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift nur für Unterschiedsbeträge i.S. des § 233a Abs. 3 AO 1977, die sich bei der Festsetzung der Einkommen-, Körperschaft-, Vermögen-, Umsatz- oder Gewerbesteuer ergeben. Diese Aufzählung ist abschließend. Deshalb werden z.B. der Solidaritätszuschlag, Zölle und Verbrauchsteuern, Abzugssteuern (z.B. Lohn- und Kapitalertragsteuer) nicht gemäß § 233a AO 1977 verzinst (Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, § 233a AO 1977 Rz. 21 ff.).
§ 233a AO 1977 ist nach einhelliger Ansicht auch auf die Erstattung oder Nachforderung von Steuervergütungen nicht anzuwenden (FG Köln, Urteil vom 3. Juli 2002 15 K 4409/01, EFG 2004, 84, rkr.; Heuermann in HHSp, § 233a AO 1977 Rz. 21; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 233a AO 1977 Tz. 10; Klein/Rüsken, AO, 8. Aufl., § 233a Rz. 6; Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, § 233a Rz. 13). Kindergeld gehört materiell zur Einkommensteuer und wird gemäß § 31 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) als Steuervergütung gezahlt, es beruht jedoch nicht auf einer --von § 233a Abs. 1 AO 1977 vorausgesetzten-- Festsetzung der Einkommensteuer (vgl. Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 233a AO 1977 Tz. 10).
b) § 233a AO 1977 ist auch nicht entsprechend anwendbar.
§ 233a AO 1977 enthält keinen allgemeinen Rechtsgedanken, dass Ansprüche aus dem abgabenrechtlichen Verhältnis zwischen Bürger und Verwaltung stets zu verzinsen sind, um mögliche Zinsvorteile oder Nachteile auszugleichen. Wie der Bundesfinanzhof (BFH) in dem Urteil vom 17. Februar 1987 VII R 21/84 (BFHE 149, 15, BStBl II 1987, 368) unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 19. September 1997 1 BvR 571/76 (Steuerrechtsprechung in Karteiform, Investitionszulagengesetz 1969, § 1, Rechtsspruch 10) und auf das Urteil des BFH vom 31. Oktober 1974 IV R 160/69 (BFHE 114, 397, BStBl II 1975, 370) ausgeführt hat, besteht kein allgemeiner Rechtsgrundsatz auf Verzinsung rückständiger Leistungen des Staates.
2. Der Klägerin stehen Zinsen auch nicht nach anderen Vorschriften zu.
a) Ein Anspruch auf Prozesszinsen für Steuervergütungen setzt gemäß § 236 AO 1977 voraus, dass die Steuervergütung durch oder aufgrund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung gewährt wird. Dies ist nur dann der Fall, wenn der Anspruch als solcher rechtshängig gewesen ist, nicht aber, wenn die Gewährung der Steuervergütung auf einer gerichtlichen Entscheidung für einen anderen Zeitraum (z.B. Parallelverfahren desselben Klägers, vgl. FG Köln, Urteil in EFG 2004, 84) oder der Klage eines Dritten beruht. Wird ein Einspruchsverfahren wegen eines Musterverfahrens zum Ruhen gebracht oder ausgesetzt, so können nach einer Änderung infolge des günstigen Ausganges des Musterverfahrens keine Prozesszinsen beansprucht werden (BFH-Urteile in BFHE 114, 397, BStBl II 1975, 370 zu § 259 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung --AO--, § 111 der Finanzgerichtsordnung --FGO-- a.F.; vom 16. Dezember 1987 I R 350/83, BFHE 152, 401, BStBl II 1988, 600; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 236 AO 1977 Tz. 14; Schwarz, AO, § 236 Rdnr. 4).
b) Erstattungen oder Nachzahlungen von Kindergeld nach dem BKGG sind nach § 44 SGB I mit 4 v.H. zu verzinsen. Diese Vorschrift gilt jedoch nur für die Verzinsung von sozialrechtlichen Ansprüchen, nicht aber für das von der Klägerin aufgrund der §§ 62 ff. EStG bezogene Kindergeld; dabei ist unerheblich, ob oder inwieweit Kindergeld materiell teilweise zur Förderung der Familie (vgl. § 31 Satz 2 EStG) gewährt wird.
c) Öffentlich-rechtliche Erstattungsansprüche gemäß § 37 Abs. 2 AO 1977 sind nur dann zu verzinsen, wenn dies gesetzlich vorgeschrieben ist. Im Streitfall fehlt eine entsprechende Vorschrift.
d) Der Zinsanspruch kann auch nicht auf §§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) gestützt werden. Diese Vorschriften über die Folgen des Verzuges gelten nur für zivilrechtliche Ansprüche, nicht aber für einen Steuervergütungsanspruch.
3. Die Versagung der Verzinsung verstößt nicht gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz.
Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes --GG--) gebietet dem Gesetzgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (ständige Rechtsprechung des BVerfG, z.B. Beschlüsse vom 15. Juli 1998 1 BvR 1554/89, BVerfGE 98, 365, 385; vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260). Er gilt für ungleiche Belastungen wie auch für ungleiche Begünstigungen (BVerfG-Beschluss vom 11. Oktober 1988 1 BvR 777, 882, 1239/85, BVerfGE 79, 1, 17). Verboten ist daher auch ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss (BVerfG-Beschluss vom 31. Januar 1996 2 BvL 39, 40/93, BVerfGE 93, 386, 396; BVerfG-Urteil vom 6. März 2002 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73, 110 ff., 133), bei dem eine Begünstigung einem Personenkreis gewährt, einem anderen aber vorenthalten wird (BVerfG-Beschluss vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BVerfGE 110, 412, 431). Andererseits steht dem Gesetzgeber eine Gestaltungsfreiheit zu, die je nach Rechtsgebiet unterschiedlich ausgeprägt ist und vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reicht. Dabei ist auch die grundsätzliche Befugnis des Gesetzgebers zur Vereinfachung und Typisierung zu beachten: Er darf generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen (BVerfG-Beschluss vom 16. März 2005 2 BvL 7/00, BFH/NV 2005 Beilage 4, 356, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2005, 2448, m.w.N.). Nähere Maßstäbe und Kriterien dafür, unter welchen Voraussetzungen im Einzelfall der allgemeine Gleichheitssatz verletzt ist, lassen sich danach nicht abstrakt und allgemein, sondern nur bezogen auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche präzisieren (BVerfG-Beschluss in BFH/NV 2005, Beilage 4, 356).
Die Klägerin wird hinsichtlich der Verzinsung ihres Kindergeldanspruchs anders behandelt als dies bei einem Streit über den Kinderfreibetrag oder Kindergeld nach dem BKGG geschehen wäre: Eine Änderung ihres Einkommensteuerbescheides durch Gewährung des einkommensteuerlichen Kinderfreibetrags (§ 32 Abs. 6 EStG) hätte gemäß § 233a AO 1977 Zinsen entstehen lassen. Wenn der Kindergeldanspruch nicht auf §§ 62 ff. EStG, sondern --mangels unbeschränkter Steuerpflicht der Klägerin im Inland-- auf § 1 BKGG beruht hätte, so wäre er nach § 44 SGB I mit 4 v.H. zu verzinsen gewesen.
Darin ist jedoch keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung zu sehen. Bei der Regelung der Verzinsung von Ansprüchen handelt es sich nicht um einen grundrechtlich sensiblen Bereich, so dass dem Gesetzgeber ein großer Gestaltungsspielraum zuzugestehen ist. Steuern wurden seit 1934 allgemein nicht verzinst und auch gegenwärtig erfasst § 233a AO 1977 --wie dargelegt-- nur Teilbereiche des Steuerschuldverhältnisses. Dies ist bislang verfassungsrechtlich nicht problematisiert worden.
Die Einführung der sog. Vollverzinsung durch das Steuerreformgesetz 1990 war für die Steuerpflichtigen ein "zweischneidiges Schwert". Indem sowohl Nachzahlungen wie auch Erstattungen verzinst werden, wirkt § 233a AO 1977 zwar zugunsten wie zulasten der Steuerbürger. Saldiert ergeben sich jedoch Mehreinnahmen der Verwaltung, die der Gesetzgeber auch beabsichtigt hatte, und dementsprechend eine Mehrbelastung der Bürger (Monatsbericht des Bundesministeriums der Finanzen, April 2004, S. 19).
Die Entscheidung des Gesetzgebers, von einer Verzinsung des einkommensteuerlichen Kindergeldes abzusehen, ist sachlich gerechtfertigt:
a) Die praktische Bedeutung einer Verzinsung des Kindergeldes nach §§ 62 ff. EStG wäre relativ gering. Da Kindergeld laufend monatlich gezahlt wird, dürfte eine Verzinsung nach einer angemessenen Karenzzeit (vgl. auch § 233a Abs. 2 AO 1977 --15 Monate-- und § 44 Abs. 2 SGB I --6 Monate--) nur relativ wenige Fälle betreffen. Die streitigen Beträge sind zudem regelmäßig relativ niedrig, während sich bei der Festsetzung von Einkommen-, Körperschaft- und Umsatzsteuer nach längeren Zeiträumen häufiger hohe betragliche Änderungen ergeben; dementsprechend werden z.B. auch der Solidaritätszuschlag und Nebenleistungen nicht von § 233a AO 1977 erfasst.
b) Der Verzicht auf die Verzinsung bewirkt eine Vereinfachung. Die Verwaltung wird nicht nur von der Zinsberechnung entlastet, sondern z.B. auch vom Schriftverkehr zur Erläuterung von Rechtsgrundlagen und Höhe der Zinsen sowie --in Rückforderungsfällen-- von der Bearbeitung von Erlassanträgen usw. Der Vereinfachungseffekt wiegt nicht nur schwer im Hinblick auf die relativ geringe praktische Bedeutung einer Verzinsung, sondern auch wegen der Änderung des Verwaltungsverfahrens ab 1996 und der damit verbundenen Belastungen.
c) Vom Gesetzgeber kann nicht erwartet werden, dass er gegen öffentliche Kassen gerichtete Ansprüche verzinst, deren Ansprüche jedoch unverzinslich belässt; dementsprechend erfassen § 233a AO 1977 und § 44 SGB I sowohl Forderungen als auch Verbindlichkeiten des Staates.
Die im Streitfall vorliegende verzögerte Gewährung von Kindergeld ist praktisch wesentlich seltener als dessen Rückforderung. Kindergeld muss von den Familienkassen häufig zurückgefordert werden, weil die Voraussetzungen dafür weggefallen sind --z.B. wegen Beendigung der Ausbildung, Überschreitung der Einkunftsgrenze (vgl. § 32 Abs. 4 EStG) oder Wechsel des Berechtigten--; dies wird zudem oftmals verspätet erklärt. Die Rückforderung von Kindergeld, welches regelmäßig für den laufenden Unterhalt verbraucht wurde, belastet die Betroffenen meist erheblich. Durch das Absehen von der Verzinsung werden die zur Rückzahlung verpflichteten Kindergeldbezieher entlastet. Die Verzinsung von Kindergeldnachzahlungen hat demgegenüber regelmäßig keine existentielle Bedeutung.
d) Bei der Prüfung einer Verletzung des Art. 3 GG ist nach der Rechtsprechung des BVerfG auch von wesentlicher Bedeutung, ob die ungünstige Rechtsfolge vermieden werden konnte (BVerfG-Beschluss vom 26. Oktober 2004 2 BvR 246/98, BFH/NV 2005, Beilage 3, 259). Danach ist im Streitfall zu berücksichtigen, dass die Klägerin die Entstehung eines Zinsanspruchs durch alternative Sachverhaltsgestaltung hätte erreichen können: Statt ihr Einverständnis mit dem Ruhen des Einspruchsverfahrens zu erklären (vgl. § 363 Abs. 2 AO 1977), hätte sie stattdessen auch eine Einspruchsentscheidung erzwingen (vgl. § 46 FGO) und die Mühe und das Risiko einer Klageerhebung auf sich nehmen können; dadurch wäre ein Anspruch auf Prozesszinsen gemäß § 236 AO 1977 entstanden.
Fundstellen
Haufe-Index 1545283 |
BFH/NV 2006, 1725 |
BStBl II 2007, 240 |
BFHE 2007, 416 |
BFHE 212, 416 |
BB 2006, 1730 |
DB 2006, 1770 |
DStRE 2006, 1092 |
DStZ 2006, 574 |
HFR 2006, 1072 |