Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwendung des § 3 Nr.6 EStG auf Leibrenten aus öffentlichen Mitteln anderer EU-Mitgliedstaaten: Konkurrenz mit Doppelbesteuerungsabkommen, Einbeziehung in Progressionsvorbehalt, von Frankreich an einen früheren Angehörigen der Fremdenlegion bezahlte Invalidenrente als steuerfreie Leibrente - Frist zur Abgabe einer strafbefreienden Nacherklärung von Kapitalvermögen und Kapitaleinkünften nicht wiedereinsetzungsfähig
Leitsatz (amtlich)
1. In den Progressionsvorbehalt gemäß § 32b Abs.1 EStG gehen keine gemäß § 3 Nr.6 EStG steuerfreien Leibrenten ein.
2. § 32b Abs.1 Nr.2 EStG findet keine Anwendung, wenn sich die Steuerfreiheit einer Leibrente sowohl aus einem Doppelbesteuerungsabkommen als auch aus § 3 Nr.6 EStG ergibt.
3. § 3 Nr.6 EStG ist auch auf Bezüge von Kriegsbeschädigten und gleichgestellten Personen anzuwenden, die aus öffentlichen Mitteln anderer EU-Mitgliedstaaten gezahlt werden.
4. Es kann keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumnis der Frist gemäß § 1 Abs.1 Satz 1 des Gesetzes über die strafbefreiende Erklärung von Einkünften aus Kapitalvermögen und von Kapitalvermögen gewährt werden.
Orientierungssatz
Im Streitfall: von Frankreich an einen deutschen Staatsangehörigen wegen dessen früherer Zugehörigkeit zur französischen Fremdenlegion bezahlte Invalidenrente als Leibrente i.S. des § 22 Nr.1 EStG.
Normenkette
AO 1977 § 110; DBA FRA Art. 14 Abs. 1 S. 1, Art. 20 Abs. 1 Buchst. a S. 2; EGVtr Art. 48, 52; EStG § 22 Nr. 1, § 3 Nr. 6, § 32b Abs. 1 Nr. 2; FGO § 56; StPO § 44; StrbEG § 1 Abs. 1 S. 1, § 2
Tatbestand
I. Der im Jahre 1927 geborene Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist deutscher Staatsangehöriger und wohnt in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) in L. Er ist schwerbehindert; die Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt 100 v.H. Seit 1956 bezieht der Kläger wegen seiner früheren Zugehörigkeit zur französischen Fremdenlegion eine Invalidenrente.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte ( das Finanzamt --FA--) veranlagte den Kläger für die Streitjahre zur Einkommensteuer. Dabei beließ er die Invalidenrente gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 2 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der französischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern vom 21. Juli 1959 i.d.F. des Revisionsprotokolls vom 9. Juni 1969 und des Zusatzabkommens vom 28. September 1989 --DBA-Frankreich-- (BGBl II 1990, 770, BStBl II 1990, 413) steuerfrei. Er berücksichtigte sie jedoch bei der Ermittlung des Steuertarifs gemäß § 32b des Einkommensteuergesetzes --EStG-- (Progressionsvorbehalt) als sonstige Einkünfte mit dem Ertragswert von 59 v.H. abzüglich der Werbungskostenpauschale (Art. 20 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 DBA-Frankreich). Die Einsprüche blieben erfolglos (Einspruchsentscheidungen vom 20. August 1991 und vom 6. November 1992).
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
Er beantragt, das Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 14. Dezember 1993 2 K 2268/91 aufzuheben und die angefochtenen Einkommensteuerbescheide dahingehend zu ändern, daß die Einkommensteuer 1983, 1984, 1985 und 1986 auf jeweils 0 DM, die Einkommensteuer 1988 auf 297 DM, die Einkommensteuer 1989 auf 772 DM und die Einkommensteuer 1990 auf 699 DM festgesetzt wird.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Das Bundesministerium der Finanzen ist dem Rechtsstreit beigetreten. Es hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die vom Kläger in den Streitjahren bezogene Invalidenrente steuerlich gesehen als eine Leibrente i.S. des § 22 Nr. 1 EStG zu beurteilen ist, die mit ihrem Ertragsanteil steuerbar ist. Es handelt sich um wiederkehrende Bezüge, die auf Grund eines besonderen Verpflichtungsgrundes auf die Dauer der Lebenszeit des Klägers gezahlt werden.
2. Revisionsrechtlich ist die Annahme des FG nicht zu beanstanden, daß der Ertragsanteil der Leibrente gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 2 DBA-Frankreich in der Bundesrepublik steuerfrei ist. Es handelt sich um Zahlungen der Französischen Republik für einen Schaden, der als Folge von Kriegshandlungen entstanden ist.
3. Das FG hat jedoch zu Unrecht angenommen, daß sich die Frage nach der Steuerfreiheit der an den Kläger gezahlten Leibrente nach § 3 Nr. 6 EStG nicht stelle. Die entsprechende Frage stellt sich deshalb, weil sich aus der Anwendung nur des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 DBA-Frankreich oder auch des § 3 Nr. 6 EStG in bezug auf § 32b Abs. 1 EStG unterschiedliche Rechtsfolgen ergeben. Sollte die Steuerfreiheit der Rentenbezüge nur nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 DBA-Frankreich zu beurteilen sein, so findet der Progressionsvorbehalt gemäß § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG wegen Art. 20 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 DBA-Frankreich Anwendung. In den Progressionsvorbehalt gemäß § 32b Abs. 1 EStG gehen jedoch keine gemäß § 3 Nr. 6 EStG steuerfreien Leibrenten ein. Sie sind in § 32b Abs. 1 Nr. 1 EStG in den seit dem Veranlagungszeitraum 1982 geltenden Fassungen nicht genannt. Daraus folgt, daß § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG dann keine Anwendung findet, wenn sich die Steuerfreiheit einer Leibrente sowohl aus einem DBA als auch aus § 3 Nr. 6 EStG ergibt. Für Zwecke der Anwendung des § 32b Abs. 1 EStG hat die Steuerbefreiung nach § 3 Nr. 6 EStG gegenüber der nach einem DBA die weitergehende Wirkung.
4. Das FG hat bisher in tatsächlicher Hinsicht nicht festgestellt, ob die Leibrentenzahlungen an den Kläger die Voraussetzungen des § 3 Nr. 6 EStG erfüllten. Es wird die fehlenden Feststellungen im zweiten Rechtszug nachholen müssen. Dazu ist davon auszugehen, daß § 3 Nr. 6 EStG nicht nur Bezüge aus inländischen öffentlichen Mitteln erfaßt. Ihr Wortlaut schließt eine weite Auslegung nicht aus (ebenso Kuhlmann in Frotscher, Einkommensteuergesetz, § 3 Nr. 6 Rz. 39 a.E.). Dies hat auch der VI. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) für den Bereich des § 3 Nr. 1 a EStG zu Leistungen einer ausländischen gesetzlichen Unfallversicherung entschieden (vgl. BFH-Urteil vom 7. August 1959 VI 299/57 U, BFHE 69, 538, BStBl III 1959, 462). Die an dieser Entscheidung geübte Kritik greift nicht durch (vgl. v.Beckerath in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 3 Rdnr. B 1a/8). Zu unterscheiden ist zwischen dem Motiv des Gesetzgebers für eine gesetzliche Regelung und ihrem Regelungsinhalt. Der Regelungsinhalt wird durch das Motiv nicht begrenzt, wenn der Regelungsinhalt dies nicht ausdrückt.
5. Revisionsrechtlich ist die Vorentscheidung insoweit nicht zu beanstanden, als das FG davon ausgegangen ist, die Festsetzungsfrist sei auch für den Einkommensteuerbescheid 1983 noch nicht abgelaufen. Die Annahme einer zumindest leichtfertigen Steuerverkürzung beruht ausschließlich auf tatsächlichen Feststellungen des FG, an die der erkennende Senat in Ermangelung erhobener Verfahrensrügen gebunden ist (§ 118 Abs. 2 FGO).
6. Das FG hat dem Kläger zutreffend keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumnis der Frist gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die strafbefreiende Erklärung von Einkünften aus Kapitalvermögen und von Kapitalvermögen (ZStAmnG) gewährt. Die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist für diesen Fall gesetzlich nicht vorgesehen. § 56 FGO ist nicht anwendbar, weil die Vorschrift sich nur auf die Versäumnis gesetzlicher Vorschriften innerhalb des finanzgerichtlichen Verfahrens bezieht. § 1 Abs. 1 Satz 1 ZStAmnG enthält keine solche Fristenregelung. Auch § 110 der Abgabenordnung (AO 1977) ist nicht einschlägig. Die Vorschrift bezieht sich auf die Versäumnis von Fristen innerhalb des Verwaltungsverfahrens. Dazu gehört § 1 Abs. 1 Satz 1 ZStAmnG nicht. Wie sich aus der Rechtsfolge der Vorschrift ergibt, begründet dieselbe die Straffreiheit für die Hinterziehung von Steuern zurückliegender Zeiträume. Die Rechtsfolge des § 2 Abs. 1 ZStAmnG knüpft an den Eintritt der strafbefreienden Wirkung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 ZStAmnG. So gesehen begründet § 1 Abs. 1 Satz 1 ZStAmnG nur einen Strafaufhebungsgrund, der eine bis zum 31. Dezember 1990 abgegebene strafbefreiende Erklärung voraussetzt. Für die Versäumnis dieser Frist kann keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, weil § 44 der Strafprozeßordnung die Frist des § 1 Abs. 1 Satz 1 ZStAmnG nicht erfaßt. Die Vorschrift gilt nur für die Versäumnis von strafprozeßrechtlichen Fristen.
7. Die Vorentscheidung entspricht nicht in vollem Umfang dem geltenden Recht. Sie kann deshalb keinen Bestand haben. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Es sind in tatsächlicher Hinsicht weitere Feststellungen zu treffen. Sie zu treffen ist die Aufgabe des FG. Deshalb war die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 66200 |
BFH/NV 1997, 213 |
BStBl II 1997, 358 |
BFHE 182, 527 |
BFHE 1997, 527 |
BB 1997, 828 (Leitsatz) |
DB 1997, 1162 (Leitsatz) |
DStR 1997, 652-654 (Leitsatz und Gründe) |
DStRE 1997, 401 (Leitsatz) |
HFR 1997, 400 (Leitsatz) |
StE 1997, 237 (Kurzwiedergabe) |