Verfahrensgang
LG Göttingen (Entscheidung vom 08.12.2020; Aktenzeichen 4 T 10/19) |
AG Göttingen (Entscheidung vom 22.05.2019; Aktenzeichen 64 XIV 14/19 B) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Göttingen vom 8. Dezember 2020 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe
Rz. 1
I. Der Betroffene hat die türkische Staatsangehörigkeit. Er ist in Italien als Flüchtling anerkannt und ohne festen Wohnsitz in Deutschland. Am 25. September 2014 erging gegen ihn eine Ausweisungsverfügung. Er wurde am 15. Mai 2019 von der Polizei in einem Imbiss in E. angetroffen und festgenommen. Die beteiligte Behörde ordnete an, den Betroffenen vorläufig in Gewahrsam zu nehmen.
Rz. 2
Am 16. Mai 2019 beantragte die beteiligte Behörde beim Amtsgericht Göttingen die vorläufige Freiheitsentziehung und zugleich die Anordnung von Sicherungshaft bis zum 30. Mai 2019 zur Sicherstellung der Abschiebung des Betroffenen nach Italien. Mit Beschluss vom 16. Mai 2019 hat das Amtsgericht die einstweilige Freiheitsentziehung des Betroffenen bis spätestens zum 22. Mai 2019 angeordnet. Aufgrund dieses Beschlusses befand sich der Betroffene bis zum 22. Mai 2019 in der Justizvollzugsanstalt Hannover in Abschiebungshaft.
Rz. 3
Mit Schreiben vom 21. Mai 2019 hat die beteiligte Behörde beim Amtsgericht Göttingen die Verlängerung der Sicherungshaft bis zum 3. Juni 2019 beantragt. Am 22. Mai 2019 ist der Betroffene erstmals dem Haftrichter vorgeführt worden. Am selben Tag hat das Amtsgericht gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 3. Juni 2019 angeordnet.
Rz. 4
Nachdem der Betroffene am 3. Juni 2019 abgeschoben worden war, hat der Verfahrensbevollmächtigte des Betroffenen mit Schreiben vom 4. Juni 2019 gegen den Beschluss vom 22. Mai 2019 Beschwerde eingelegt und beantragt festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat. Mit Schreiben vom 14. August 2019 hat er seine Beschwerde begründet.
Rz. 5
Das Beschwerdegericht hat die Beschwerde am 8. Dezember 2020 zurückgewiesen und den Antrag des Betroffenen auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe abgelehnt. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene seine Anträge weiter.
Rz. 6
II. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.
Rz. 7
1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Betroffene sei durch die vom Amtsgericht angeordnete Haft zur Sicherung der Abschiebung nicht in seinen Grundrechten verletzt worden. Das Amtsgericht habe nicht willkürlich seine Zuständigkeit angenommen. Der Haftantrag habe sämtliche Zulässigkeitsanforderungen erfüllt. Er sei auch begründet gewesen. Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig gewesen. Es habe Fluchtgefahr bestanden. Einer erneuten Abschiebungsanordnung habe es trotz Wiedereinreise nicht bedurft.
Rz. 8
2. Diese Erwägungen halten einer rechtlichen Prüfung stand.
Rz. 9
a) Der Betroffene rügt ohne Erfolg, das Amtsgericht Göttingen sei örtlich unzuständig gewesen.
Rz. 10
aa) Nach § 65 Abs. 4 FamFG kann die Beschwerde nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht des ersten Rechtszugs seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat. Dasselbe gilt gemäß § 72 Abs. 2 FamFG für die Rechtsbeschwerde. Die Regelungen der §§ 65 Abs. 4, 72 Abs. 2 FamFG finden auch in Freiheitsentziehungssachen Anwendung (BGH, Beschluss vom 24. Juni 2020 - XIII ZB 44/19, InfAuslR 2020, 444 Rn. 10 ff.).
Rz. 11
bb) Eine einschränkende Auslegung der §§ 65 Abs. 4, 72 Abs. 2FamFG ist verfassungsrechtlich allerdings dann geboten, wenn das Haftgericht seine Zuständigkeit willkürlich bejaht hat (vgl. BGH, Beschluss vom 1. Dezember 2010 - XII ZB 227/10, FGPrax 2011, 101 Rn. 19 unter Bezug auf BVerfGE 42, 237, 241 mwN; vgl. auch BGH, InfAuslR 2020, 444 Rn. 14). Findet die Annahme der Zuständigkeit im Verfahrensrecht keine Stütze mehr, wird der Betroffene seinem gesetzlichen Richter entzogen.
Rz. 12
cc) Im Streitfall scheidet eine willkürliche Annahme der Zuständigkeit bereits deshalb aus, weil das Amtsgericht Göttingen für die Anordnung der Sicherungshaft im Beschluss vom 22. Mai 2019 örtlich zuständig war.
Rz. 13
(1) Nach § 416 Satz 1 FamFG ist für Freiheitsentziehungssachen das Gericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Person, der die Freiheit entzogen werden soll, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, sonst das Gericht, in dessen Bezirk das Bedürfnis für die Freiheitsentziehung entsteht. Befindet sich die Person bereits in Verwahrung einer abgeschlossenen Einrichtung, ist gemäß § 416 Satz 2 FamFG das Gericht zuständig, in dessen Bezirk die Einrichtung liegt. Für Entscheidungen über die Verlängerung der Freiheitsentziehung gelten diese Vorschriften nach § 425 Abs. 3 FamFG entsprechend. Maßgeblich sind dabei nach § 2 Abs. 1 FamFG die Verhältnisse zu dem Zeitpunkt, zu dem das Gericht mit der Sache befasst wird, also der Antrag der Behörde bei Gericht eingeht.
Rz. 14
(2) Ohne Rechtsfehler hat das Beschwerdegericht angenommen, dass für die - nicht verfahrensgegenständliche - vorläufige Freiheitsentziehung gemäß § 416 Satz 1 Alt. 2 FamFG das Amtsgericht Göttingen zuständig war, weil das Bedürfnis für die Freiheitsentziehung im Landgerichtsbezirk Göttingen entstanden ist. Der Betroffene wurde in E. aufgegriffen und in Gewahrsam genommen. Nach § 8c Nr. 3 JusGerZustV ND ist für Abschiebungshaftsachen im Landgerichtsbezirk Göttingen das Amtsgericht Göttingen zuständig.
Rz. 15
(3) Das Amtsgericht Göttingen war auch für die Entscheidung über die Hauptsache - die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung - zuständig. Dem steht nicht entgegen, dass der Betroffene nach der am 16. Mai 2019 beschlossenen vorläufigen Freiheitsentziehung in die außerhalb des Landgerichtsbezirks Göttingen belegene JVA Hannover-Langenhagen verbracht worden ist und sich dort zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung vom 22. Mai 2019 befand. Die beteiligte Behörde hatte den Antrag auf Sicherungshaft bereits unter dem 16. Mai 2019 - neben dem mit Beschluss vom gleichen Tag positiv beschiedenen Antrag auf einstweilige Anordnung - gestellt. Die einmal begründete Zuständigkeit des Gerichts wird durch eine spätere Veränderung dieser Verhältnisse nicht berührt (§ 2 Abs. 2FamFG). Insbesondere verliert ein bei Eingang des Antrags der zuständigen Behörde örtlich zuständiges Gericht nicht dadurch seine Zuständigkeit, dass sich die Aufenthaltsverhältnisse des Betroffenen vor der gerichtlichen Entscheidung ändern (BGH, InfAuslR 2020, 444 Rn. 17). Wie das Beschwerdegericht zu Recht ausgeführt hat, gilt auch nicht deshalb etwas anderes, weil die beteiligte Behörde den Antrag in der Hauptsache mit Schreiben vom 21. Mai 2019 wiederholt und hinsichtlich des beantragten Haftzeitraums bis zum 3. Juni 2019 erweitert hat. Denn das Schreiben der beteiligten Behörde vom 21. Mai 2019 stellt keinen neuen Haftantrag dar, sondern lediglich eine Ergänzung des ursprünglichen Antrags (vgl. BGH, InfAuslR 2020, 444 Rn. 21, 22).
Rz. 16
(4) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde kann vorliegend nicht deshalb von einer willkürlichen Befassung des Amtsgerichts Göttingen ausgegangen werden, weil die beteiligte Behörde nach Aktenlage bereits am 15. Mai 2019, also einen Tag vor dem Haftantrag, die Polizei E. angewiesen hätte, den Betroffenen in die JVA Hannover-Langenhagen zu verbringen. Diese Annahme trifft nicht zu. Wie die beteiligte Behörde in ihrer Beschwerdeerwiderung zutreffend ausführt, erschließt sich sowohl aus dem Inhalt des auf den 15. Mai 2019 datierten Schreibens als auch aus dem zugehörigen Sendebericht, dass dieses erst am 16. Mai 2019 - nach dem Beschluss über die vorläufige Haftanordnung - an die Polizei versandt worden ist. Die Datumsangabe (15. Mai) ist also offensichtlich fehlerhaft. Das gleiche gilt für das Schreiben der beteiligten Behörde an die JVA Hannover-Langenhagen, das zwar ebenfalls auf den 15. Mai datiert, aber erst am 16. Mai per Fax versandt wurde. Jedenfalls befand sich der Betroffene am 16. Mai 2019 - dem Tag der einstweiligen Anordnung durch das Amtsgericht - noch im Gewahrsam der Polizei in E.. Das geht aus den von der Rechtsbeschwerde selbst in Bezug genommenen Schreiben der beteiligten Behörde hervor. Eine Zuständigkeit des Amtsgerichts Hannover, in dessen Bezirk sich die Abschiebehaftanstalt Hannover-Langenhagen befindet, gemäß § 416 Satz 2 FamFG war somit nicht gegeben. Vielmehr war allein das Amtsgericht Göttingen zuständig.
Rz. 17
(5) Die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts für die Anordnung der Sicherungshaft hängt nicht davon ab, ob die behördlichen Maßnahmen und die vorläufige Freiheitsentziehung durch das Amtsgericht ansonsten rechtmäßig waren (vgl. Göbel in Sternal, FamFG, 21. Aufl., § 416 Rn. 8 zur Rechtmäßigkeit der behördlichen Maßnahmen). Es kommt deshalb entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde nicht darauf an, dass das Amtsgericht den Betroffenen vor der Entscheidung über die vorläufige Freiheitsentziehung nicht angehört hat und dass ihm zu diesem Zeitpunkt die Ausländerakten noch nicht vorlagen.
Rz. 18
b) Das Landgericht hat auch zutreffend die materiellen Voraussetzungen der Haft zur Sicherung der Abschiebung bejaht. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde wurde nicht die erneute Androhung der Abschiebung versäumt.
Rz. 19
aa) Zu den vom Haftrichter zu prüfenden Vollstreckungsvoraussetzungen gehört grundsätzlich das Vorliegen einer Abschiebungsandrohung nach § 59 AufenthG. Eine solche Androhung muss auch dann erfolgen, wenn der Ausländer gemäß § 14 AufenthG unerlaubt eingereist und deshalb nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig ist (BGH, Beschluss vom 17. März 2016 - V ZB 39/15, juris Rn. 5). Kommt der Betroffene einer Ausreiseaufforderung nach, ist die ursprüngliche Abschiebungsandrohung "verbraucht". Sie wirkt nicht als vorsorgliche Androhung für den Fall einer erneuten unerlaubten Einreise fort. Reist der Betroffene später wieder in die Bundesrepublik Deutschland ein, kann daher von einer nach § 59 AufenthG notwendigen Abschiebungsandrohung nicht unter Hinweis auf die frühere Abschiebungsandrohung abgesehen werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. Januar 2016 - V ZB 18/14, juris Rn. 9; vom 1. Oktober 2015 - V ZB 44/15, InfAuslR 2015, 440 Rn. 7; vom 17. März 2016 - V ZB 39/15, juris Rn. 8).
Rz. 20
bb) Der Betroffene war ursprünglich aufgrund einer gegen ihn am 25. September 2014 ergangenen Ausweisungsverfügung gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG ohne Aufenthaltstitel und damit gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig. Die Wirkung der Ausweisung war auf sechs Jahre nach der Ausreise, mithin bis zum 30. September 2020 befristet. Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts ist der Betroffene nach der Ausweisungsverfügung zunächst ausgereist und zu einem späteren Zeitpunkt wieder eingereist. Die unter Verstoß gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot erfolgte Wiedereinreise war gemäß §§ 11 Abs. 1 Satz 1, 14 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG unerlaubt. Der Betroffene war damit nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig.
Rz. 21
cc) Eine erneute Abschiebungsandrohung war ausnahmsweise entbehrlich. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist das Beschwerdegericht nicht von einer vorsorglichen Androhung der Abschiebung für den Fall der erneuten unerlaubten Wiedereinreise ausgegangen, die im Gesetz keine Stütze findet (vgl. dazu BVerwGE 124, 166, 170; Gordzielik in Huber/Mantel AufenthG, 3. Aufl., § 59 Rn. 8). Es hat vielmehr angenommen, dass es einer erneuten Androhung deshalb nicht bedurfte, weil die Ausnahmevoraussetzungen nach § 59 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, Satz 3 Nr. 1 AufenthG erfüllt waren. Von einer Abschiebungsandrohung kann danach abgesehen werden, wenn dies zur Wahrung überwiegender öffentlicher Belange zwingend erforderlich ist, insbesondere wenn der begründete Verdacht besteht, dass der Ausländer sich der Abschiebung entziehen will oder von dem Ausländer eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht und wenn der Aufenthaltstitel nach § 51 Abs. 1 Nr. 3 bis 5 AufenthG erloschen ist. Diese Voraussetzungen lagen nach der rechtlich nicht zu beanstandenden Würdigung des Beschwerdegerichts vor. Aufgrund der Ausweisung verfügte der Betroffene nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG über keinen Aufenthaltstitel. Überwiegende öffentliche Belange waren gegeben, weil die Ausweisungsverfügung auf der Verurteilung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten wegen professionellen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge beruhte, der Betroffene über keinen festen Wohnsitz verfügte und im Falle einer Freilassung mit seinem erneuten Untertauchen zu rechnen war. Es bestand damit der begründete Verdacht, dass der Betroffene sich der Abschiebung entziehen will; ebenso ging von ihm eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus.
Rz. 22
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
Kirchhoff |
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Picker |
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Fundstellen
Dokument-Index HI15734761 |