Leitsatz (amtlich)
Zur Ersatzfähigkeit der dem Berufungsbeklagten entstandenen Rechtsanwaltskosten, wenn die anwaltliche Tätigkeit (Antrag auf Zurückweisung der Berufung) in Unkenntnis der zwischenzeitlich erfolgten Berufungsrücknahme erfolgt (Abgrenzung zu BGH, Beschl. v. 25.2.2016 - III ZB 66/15, BGHZ 209, 120).
Normenkette
ZPO § 91 Abs. 1 S. 1; RVG-VV Nr. 3201
Verfahrensgang
OLG München (Beschluss vom 30.11.2016; Aktenzeichen 11 W 1761/16) |
LG Passau (Beschluss vom 19.09.2016; Aktenzeichen 4 O 672/14) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde des Klägers gegen den Beschluss des 11. Zivilsenats des OLG München vom 30.11.2016 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Der Beschwerdewert wird auf 1.768,70 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Parteien streiten über die Frage der Erstattungsfähigkeit von Rechtsanwaltsgebühren nach einem in Unkenntnis der Berufungsrücknahme des Klägers ergangenen Bestellungsschriftsatz der Prozessbevollmächtigen der Beklagten.
Rz. 2
Der Kläger legte mit Schriftsatz vom 16.6.2016 Berufung gegen das klageabweisende Endurteil des LG vom 27.5.2016 ein. Der Schriftsatz wurde den Prozessbevollmächtigen der Beklagten am 28.6.2016 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 24.6.2016, eingegangen beim OLG am selben Tag und den Beklagtenvertretern zugestellt am 5.7.2016, nahm der Kläger die Berufung zurück. Die Prozessbevollmächtigten der Beklagten beantragten mit Schriftsatz vom 1.7.2016, eingegangen beim OLG am 6.7.2016, die Zurückweisung der Berufung. Mit Beschluss vom 28.6.2016 erlegte das OLG dem Kläger nach § 516 Abs. 3 ZPO die Kosten des Berufungsverfahrens auf und setzte den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 70.000 EUR fest.
Rz. 3
Die Prozessbevollmächtigten der Beklagten beantragten mit Schriftsatz vom 26.7.2016 die Festsetzung von Rechtsanwaltskosten für das Berufungsverfahren i. H. v. insgesamt 1.768,70 EUR (1,1-fache Verfahrensgebühr gem. Nr. 3201 VV-RVG aus einem Gebührenwert von 70.000 EUR sowie Pauschale gem. Nr. 7002 VV-RVG, zzgl. USt). Auf Hinweis der Rechtspflegerin vom 12.8.2016 teilten sie mit, die am 28.6.2016 zugestellte Berufungsschrift habe ein bis zwei Arbeitstage später zur Bearbeitung vorgelegen. Im Auftrag der Beklagten sei wie üblich eine Prüfung der Formalien erfolgt und sodann der Bestellungsschriftsatz diktiert worden, datiert auf den 1.7.2016, so dass eine Befassung vor Zustellung und Kenntnis der Berufungsrücknahme vorliege.
Rz. 4
Die Rechtspflegerin hat mit Beschluss vom 19.9.2016 den Festsetzungsantrag der Beklagtenseite zurückgewiesen.
Rz. 5
Mit Schriftsatz vom 11. Oktober hat die Beklagte gegen diesen Beschluss sofortige Beschwerde eingelegt und diese damit begründet, dass die (anwaltliche) Tätigkeit erst nach Zustellung der Berufungsrücknahme habe eingestellt werden können.
Rz. 6
Das Beschwerdegericht hat den Beschluss des LG aufgehoben und die von der Klagepartei an die Beklagtenpartei zu erstattenden Kosten wie von der Beklagten mit Schriftsatz vom 26.7.2016 beantragt festgesetzt. Es hat die Rechtsbeschwerde zugelassen.
Rz. 7
Mit seiner Rechtsbeschwerde wendet sich der Kläger gegen die Festsetzung der anwaltlichen Kosten i. H. v. 1.768,70 EUR zugunsten der Beklagten.
II.
Rz. 8
Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Das Beschwerdegericht hat mit Recht trotz der erfolgten Rücknahme der Berufung des Klägers die erstattungsfähigen Rechtsanwaltskosten der (Berufungs-) Beklagten für das Berufungsverfahren in Höhe einer 1,1-fachen Verfahrensgebühr gem. Nr. 3201 VV-RVG aus dem Gebührenwert von 70.000 EUR festgesetzt.
Rz. 9
1. Nach § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO hat die unterliegende Partei - und im Fall des § 516 Abs. 3 ZPO der Berufungskläger - die dem Gegner erwachsenen Kosten zu tragen, soweit diese zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig waren.
Rz. 10
2. Maßstab für die Notwendigkeit von Kosten zur Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung i. S. d. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist, ob eine verständige und wirtschaftlich vernünftig denkende Partei die Kosten auslösende Maßnahme im damaligen Zeitpunkt als sachdienlich ansehen durfte. Abzustellen ist mithin auf die Sicht der Partei in der konkreten prozessualen Situation und dann zu beurteilen, ob ein objektiver Betrachter aus diesem Blickwinkel die Sachdienlichkeit bejahen würde. Die Notwendigkeit bestimmt sich daher aus der "verobjektivierten" ex-ante-Sicht der jeweiligen Prozesspartei und nicht nach einem rein objektiven Maßstab (BGH, Beschl. v. 7.2.2018 - XII ZB 112/17, juris Rz. 24 und Beschl. v. 25.1.2017 - XII ZB 447/16, FamRZ 2017, 643).
Rz. 11
3. Da die seitens der Prozessbevollmächtigten der Beklagten erbrachte anwaltliche Tätigkeit im Streitfall in Unkenntnis der Berufungsrücknahme erfolgte, war diese Tätigkeit im damaligen Zeitpunkt aus der maßgebenden Sicht einer verständigen und wirtschaftlich vernünftig denkenden Partei zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendig i. S. v. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Darauf, dass es der Beauftragung eines Anwalts in Anbetracht der zuvor erfolgten Rücknahme der Berufung objektiv nicht mehr bedurfte, kommt es - entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde - nicht an.
Rz. 12
a) Soweit sich die Rechtsbeschwerde zur Begründung ihrer gegenteiligen Auffassung auf einen Beschluss des III. Zivilsenats vom 25.2.2016 (III ZB 66/15, BGHZ 209, 120) stützt, dringt sie nicht durch. In jenem Fall hatte der Berufungsbeklagte durch Zugang des Hinweises gem. § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO Kenntnis von der Absicht des Berufungsgerichts erlangt, die Berufung zurückzuweisen. Aus der Sicht einer vernünftig und wirtschaftlich denkenden Partei bestand daher kein Anlass, durch Anwaltsschriftsatz einen Berufungsgegenantrag zu stellen.
Rz. 13
b) Auch die Entscheidung des I. Zivilsenats des BGH zu den Kosten für eine Schutzschrift, die nach Rücknahme des Antrags auf einstweilige Verfügung eingereicht wurde, steht der vorliegenden Entscheidung nicht entgegen. Soweit darin ein rein objektiver Maßstab zugrunde gelegt wurde (Beschl. v. 23.11.2006 - I ZB 39/06, NJW-RR 2007, 1575 Rz. 17), tragen die Ausführungen hierzu die Entscheidung nicht, weil die verfahrensgegenständlichen Kosten bereits vor der Rücknahme angefallen waren (vgl. BGH, Beschl. v. 7.2.2018 - XII ZB 112/17, juris Rz. 24). Entsprechendes gilt für die Entscheidung des I. Zivilsenats zu Kosten für den Zurückweisungsantrag in einem Berufungsverfahren, in welcher die Erstattungsfähigkeit der reduzierten Verfahrensgebühr schon nicht angegriffen war (Beschl. v. 5.10.2017 - I ZB 112/16, FamRZ 2018, 620).
Rz. 14
c) Schließlich ist das im Streitfall gefundene Ergebnis auch sachgerecht. Die mit einem Rechtsmittel überzogene Partei kann regelmäßig nicht selbst beurteilen, was zur Rechtsverteidigung zu veranlassen ist. Ihr kann daher nicht zugemutet werden, zunächst die weiteren Entschließungen des anwaltlich vertretenen Berufungsklägers abzuwarten (BGH, Beschl. v. 17.12.2002 - X ZB 9/02, VersR 2003, 877, 878; Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, RVG 19. Aufl. VV 3201 Rz. 52). Dieser hat es vielmehr in der Hand, durch seinen Prozessbevollmächtigten die Gegenseite von einer (eventuell) beabsichtigten Berufungsrücknahme frühzeitig zu informieren.
Fundstellen
Haufe-Index 12122438 |
FA 2019, 30 |
JurBüro 2018, 590 |
AnwBl 2019, 46 |
JZ 2018, 748 |
MDR 2018, 1407 |
Rpfleger 2018, 2 |
Rpfleger 2019, 54 |
VersR 2018, 1469 |
ZfS 2018, 705 |
FF 2019, 87 |
RVGreport 2018, 461 |
RVG prof. 2019, 24 |