Entscheidungsstichwort (Thema)
Anfechtungsklagen verschiedener Kläger gegen denselben Hauptversammlungsbeschluss. Selbstständige gebührenrechtliche Angelegenheiten. Wahlrecht des Rechtsanwalts. Gebühren aus Einzelwerten verschiedener Verfahren. Gebühr aus Gesamtwert. Aktiengesellschaft
Leitsatz (amtlich)
a) Die Anfechtungsklagen verschiedener Kläger gegen denselben Hauptversammlungsbeschluss sind bis zu ihrer Verbindung gem. § 246 Abs. 3 Satz 6 AktG selbständige gebührenrechtliche Angelegenheiten i.S.v. § 15 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 RVG.
b) Sind Gebührentatbestände (hier: die Verfahrensgebühr nach Vorbem. 3 Abs. 2 RVG-VV) jeweils sowohl vor als auch nach der Verbindung entstanden, steht dem Rechtsanwalt ein Wahlrecht zu, ob er die gem. § 15 Abs. 4 RVG unentziehbar entstandenen Gebühren aus den Einzelwerten der verschiedenen Verfahren oder die Gebühr aus den Einzelwerten der verschiedenen Verfahren oder die Gebühr aus dem Gesamtwert nach der Verbindung verlangt.
c) Die beklagte Aktiengesellschaft, die in Erwartung von Anfechtungsklagen einen Rechtsanwalt mit ihrer Vertretung beauftragt und dadurch vor der Verbindung in jedem Klageverfahren eine Verfahrensgebühr nach Nr. 3101 RVG-VV auslöst, handelt nicht rechtsmissbräuchlich.
Normenkette
RVG § 15 Abs. 2, 4, 1; RVG VV Nr. 3101; AktG § 246
Verfahrensgang
OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 08.06.2009; Aktenzeichen 18 W 119/09) |
LG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 06.03.2009; Aktenzeichen 3/5 O 236/08) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Klägerin zu 2) gegen den Beschluss des 18. Zivilsenats des OLG Frankfurt vom 08.06.2009 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Beschwerdewert: 486 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Die Parteien streiten im Kostenfestsetzungsverfahren um die Höhe der von der Klägerin zu 2) der Beklagten zu erstattenden außergerichtlichen Kosten.
Rz. 2
Im zugrunde liegenden Rechtsstreit hatten vier Anfechtungskläger Klage gegen Beschlüsse der ordentlichen Hauptversammlung der Beklagten vom 21.8.2008 eingereicht, und zwar die Kläger zu 1)-3) gegen die die TOP 7 und 8 betreffenden Beschlüsse der Hauptversammlung und die Klägerin zu 4) gegen die Beschlüsse TOP 5-9. Für jede dieser Klagen, die in der Zeit vom 23.9. bis 29.9.2008 bei Gericht eingegangen sind, hat das LG ein gesondertes Verfahren mit eigenem Aktenzeichen eingetragen und von dem jeweiligen Kläger einen Gerichtskostenvorschuss angefordert, wobei bei den Klägern zu 1)-3) ein Streitwert von jeweils 100.000 EUR und bei der Klägerin zu 4) ein Streitwert von 250.000 EUR zugrunde gelegt wurde.
Rz. 3
Bereits mit jeweils vom 30.9.2008 stammenden Schriftsätzen meldete sich ein Rechtsanwalt unter Anzeige der anwaltlichen Vertretung der Beklagten und suchte in der Sache des Klägers zu 1) sowie der Klägerin zu 4) um Akteneinsicht auf der Geschäftsstelle nach. Diese wurde ihm gewährt und er nahm auf der Geschäftsstelle in die Gerichtsakten aller vier Klagen Einsicht.
Rz. 4
Am 24.10.2008, nach Einzahlung der jeweiligen Gerichtskostenvorschüsse, hat das LG die vier Klageverfahren zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung gem. § 246 Abs. 3 Satz 5 AktG a.F. (= Satz 6 n.F.) verbunden und das Verfahren 3-5 O 236/08 (die zuerst eingegangene Klage) zum führenden Verfahren erklärt. Zeitgleich wurde die Zustellung der Klagen verfügt.
Rz. 5
Mit Urteil vom 27.1.2009 hat das LG die Klagen abgewiesen, den Gesamtstreitwert für das verbundene Verfahren auf 250.000 EUR festgesetzt und u.a. der beschwerdeführenden Klägerin zu 2) 18 % der außergerichtlichen Kosten der Beklagten auferlegt. Die Prozessbevollmächtigte der Beklagten hat mit Schriftsatz vom 3.2.2009 die außergerichtlichen Kosten zur Kostenfestsetzung angemeldet und zwar dergestalt, dass sie aus den ursprünglichen vier Klageverfahren nach deren jeweiligem Gegenstandswert eine 1,3 Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 RVG-VV sowie jeweils die Auslagenpauschale nach Nr. 7002 RVG-VV und zusätzlich eine 1,2 Terminsgebühr nach Nr. 3104 RVG-VV aus dem nach Verbindung festgesetzten Gegenstandswert von 250.000 EUR abgerechnet hat. Die Rechtspflegerin hat die angemeldeten Verfahrensgebühren jeweils um eine anrechenbare Geschäftsgebühr gekürzt und die anteilig auf die Klägerin zu 2) entfallenden Kosten auf 1.172,92 EUR festgesetzt.
Rz. 6
Gegen diesen Beschluss hat die Klägerin zu 2) sofortige Beschwerde eingelegt mit der Begründung, da mehrere Anfechtungskläger prozessrechtlich notwendige Streitgenossen seien, sei für eine Streitwertfestsetzung von Einzelverfahren bis zur vollständigen Verbindung kein Raum. Vielmehr sei für die Beklagte nur eine 1,3 Verfahrensgebühr aus dem Streitwert der verbundenen Verfahren entstanden. Mit Beschluss vom 28.4.2009 hat die Rechtspflegerin der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem OLG zur Entscheidung vorgelegt. Das OLG hat die sofortige Beschwerde im Ergebnis mit der Begründung zurückgewiesen, die Klägerin zu 2) sei durch die Kostenfestsetzung nicht beschwert, da ihre tatsächliche Kostenlast bei zutreffender Berechnung der erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Beklagten über dem festgesetzten Betrag liege. Es hat die Rechtsbeschwerde zugelassen, weil die Frage, ob die Rechtsverteidigung gegenüber Anfechtungsklagen mehrerer Kläger mehrere Verfahrensgebühren auslöst, und ob diese von den Klägern im Unterliegensfall zu erstatten sind, immer wieder auftrete und nicht in gesicherter Weise obergerichtlich geklärt sei.
II.
Rz. 7
1. Die Rechtsbeschwerde ist gem. § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO statthaft und auch sonst zulässig.
Rz. 8
2. In der Sache hat die Rechtsbeschwerde keinen Erfolg. Die Kosten, deren Erstattung die Beklagte nach der Kostengrundentscheidung im Urteil des LG vom 27.1.2009 beanspruchen kann, betragen bei richtiger Berechnung 1.338,05 EUR, so dass die Klägerin zu 2) (künftig: Klägerin) durch die angefochtene Festsetzung i.H.v. nur 1.172,92 EUR nebst Zinsen nicht beschwert ist. Die Beklagte war berechtigt, vier 0,8 Verfahrensgebühren gem. Nr. 3101 RVG-VV nach dem jeweiligen Gegenstandswert der ursprünglichen vier Klagen zzgl. vier Auslagenpauschalen gem. Nr. 7002 RVG-VV sowie eine 1,2 Terminsgebühr gem. Nr. 3104 RVG-VV aus dem verbundenen Verfahren nach dem Gegenstandswert von 250.000 EUR (§ 23 Abs. 1 Satz 1 RVG i.V.m. § 39 Abs. 1 GKG) zur Erstattung anzumelden (§ 15 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 RVG).
Rz. 9
a) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde folgt aus der in § 246 Abs. 3 Satz 5 AktG a.F. (= Satz 6 n.F.) statuierten Pflicht des Gerichts, mehrere Anfechtungsklagen zur gleichzeitigen Verhandlung und Entscheidung zu verbinden, nicht, dass damit gebührenrechtlich nur ein Verfahren mit der Folge des Entstehens nur einer Verfahrensgebühr vorliegt.
Rz. 10
aa) Gegenteiliges ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 246 AktG, wonach "mehrere Anfechtungsprozesse" zu verbinden sind. Wenn die ursprünglich getrennt eingereichten Klagen keine eigenständigen Prozessrechtsverhältnisse wären, bedürfte es überhaupt keiner Verbindung (in diesem Sinne auch OLG Stuttgart AG 2002, 296 f. sowie - im Zusammenhang mit den in diesen Fällen anfallenden Gerichtsgebühren - OLG Koblenz AG 2005, 661 f.; OLG Düsseldorf JurBüro 2009, 542 Tz. 4 m.w.N.). Zwar war der Streitgegenstand der vier zunächst anhängig gemachten Klagen - teilweise - identisch, jedoch betraf jedes Verfahren unterschiedliche Prozessparteien. Die Identität des Streitgegenstandes allein ist für die Beantwortung der Frage nach einem "Prozessrechtsverhältnis" nicht ausreichend, dieses wird gerade auch durch die Parteien des Rechtsstreits bestimmt.
Rz. 11
Zudem klagt jeder Aktionär, der gegen einen Hauptversammlungsbeschluss einer Aktiengesellschaft Anfechtungs- oder Nichtigkeitsklage erhebt, aus eigenem, aus seiner Mitgliedschaft abgeleitetem (Individual-)Recht (Hüffer, 8. Aufl. 2008, § 243 AktG Rz. 3) und macht nicht etwa die Klage eines Mitaktionärs "nochmals" rechtshängig.
Rz. 12
Hinzu kommt, was die Rechtsbeschwerde bei ihrer Argumentation ausblendet, dass es auch in den Fällen, in denen das Verbindungsgebot des § 246 Abs. 3 Satz 5 AktG a.F. (= Satz 6 n.F.) besteht, nicht ausgeschlossen ist, dass das mit den einzelnen anhängigen Klagen befasste Gericht von der Verfahrensverbindung aller Klagen absieht. So können etwa einzelne Anfechtungsklagen, die unzweifelhaft verfristet sind, ohne Hinzuverbindung zu den übrigen, fristgerecht erhobenen und nach Gebühreneinzahlung zuzustellenden Klagen abgewiesen werden. Ebenso wenig werden Klagen verbunden, wenn für sie kein Gerichtskostenvorschuss eingezahlt wird.
Rz. 13
bb) Auch gebührenrechtlich lagen bis zur Verbindung vier verschiedene Angelegenheiten vor. Dies folgt aus § 15 Abs. 2 Satz 2 RVG. Danach gilt jeder prozessrechtliche Rechtszug als eine besondere Angelegenheit im Sinne des Gebührenrechts. Deshalb liegen - von hier nicht vorliegenden Ausnahmen (s. z.B. § 16 Nr. 10 RVG) abgesehen - auch gebührenrechtlich mehrere Angelegenheiten vor, wenn mehrere prozessuale Verfahren mit demselben Streitgegenstand nebeneinander geführt werden, solange sie nicht miteinander verbunden sind (OLG Stuttgart, a.a.O.; KG ZIP 2009, 1087 Tz. 5; Hansens, RVGreport 2008, 138; N. Schneider in AnwaltKommentar RVG, 5. Aufl., § 15 Rz. 76; Hartmann, Kostengesetze 39. Aufl., § 15 RVG Rz. 37 m.w.N.). Werden mehrere Verfahren miteinander verbunden, so liegt erst ab dem Zeitpunkt der Verbindung nur noch eine einzige Angelegenheit i.S.v. § 15 Abs. 2 Satz 2 RVG vor (OLG Koblenz JurBüro 1986, 1523; N. Schneider, a.a.O., § 15 Rz. 82, 168; Hartmann, a.a.O.).
Rz. 14
b) Die Beklagte war berechtigt, vier 0,8 Verfahrensgebühren gem. Nr. 3101 RVG-VV nach dem jeweiligen Gegenstandswert der ursprünglichen vier Klagen zzgl. vier Auslagenpauschalen gem. Nr. 7002 RVG-VV sowie eine 1,2 Terminsgebühr gem. Nr. 3104 RVG-VV aus den verbundenen Verfahren nach dem Gegenstandswert von 250.000 EUR zur Erstattung anzumelden (§ 15 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 RVG).
Rz. 15
aa) Zwar lag mit der Verbindung nur noch eine einzige gebührenrechtliche Angelegenheit vor mit der Folge des § 15 Abs. 2 Satz 1 RVG, wonach der Rechtsanwalt "die Gebühren" nur einmal fordern kann, da sie nach § 15 Abs. 1 RVG die gesamte Tätigkeit vom Auftrag bis zur Erledigung der Angelegenheit entgelten. Durch die Verbindung ist keine neue - und damit dritte - gebührenrechtliche Angelegenheit entstanden (BGH, Beschl. v. 14.4.2010 - IV ZB 6/09, juris Tz. 23; N. Schneider, a.a.O., § 15 Rz. 168; Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, RVG 18. Aufl. VV 3100 Rz. 81; Xanke in Göttlich/Mümmler, RVG 3. Aufl. S. 1058), und es ist auch nicht etwa das Klageverfahren 3-5 O 236/08 gebührenrechtlich fortgeführt und (nur) die dem "führenden" Verfahren hinzuverbundenen Prozessrechtsverhältnisse gebührenrechtlich beendet worden (a.A. KG, a.a.O., Tz. 9). Letztere Ansicht verkennt den Begriff der gebührenrechtlichen Angelegenheit, der mit der registerlichen und aktenmäßigen "Fortführung" eines Verfahrens nicht deckungsgleich ist (s. ausführlich z.B. Madert in Gerold/Schmidt, RVG 18. Aufl., § 15 Rz. 5 ff.).
Rz. 16
Ausgehend hiervon könnte der Anwalt im Falle einer Verfahrensverbindung nur eine 1,3 Verfahrensgebühr gem. Nr. 3100 RVG-VV und eine 1,2 Terminsgebühr gem. Nr. 3104 RVG-VV nach dem Gegenstandswert des verbundenen Verfahrens sowie eine Auslagenpauschale gem. Nr. 7002 RVG-VV zur Erstattung anmelden.
Rz. 17
Dem steht jedoch die Regelung des § 15 Abs. 4 RVG entgegen, wonach einmal entstandene Gebühren durch nachträglich eintretende Ereignisse nicht mehr entfallen können. Sind in den vor Verbindung gebührenrechtlich selbständigen Klageverfahren bereits vergütungspflichtige Tätigkeiten des Rechtsanwalts nach RVG-VV Teil 3 angefallen, so bleiben die hierdurch entstandenen Gebühren von der Verbindung unberührt. Einmal verdiente Gebühren kann der Rechtsanwalt gegen seinen Willen nicht wieder verlieren (KG, a.a.O., Tz. 4 m.w.N.; Müller-Rabe, a.a.O., VV 3100 Rz. 81.; Hartmann, a.a.O., VV 3100 Rz. 50; Onderkra/N. Schneider in AnwaltKommentar RVG 5. Aufl. VV Vorbem. 3 Rz. 62; Bischof, RVG 3. Aufl., § 15 Rz. 84; Hansens, a.a.O.).
Rz. 18
Dieses Spannungsverhältnis zwischen § 15 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 RVG einerseits und § 15 Abs. 4 RVG andererseits ist nur dadurch auflösbar, dass dem Rechtsanwalt ein Wahlrecht eingeräumt wird: Er kann entweder nur die Gebühren aus dem verbundenen Verfahren oder nur die bereits verdienten Gebühren aus den ursprünglich selbständigen gebührenrechtlichen Angelegenheiten zzgl. evtl. erstmalig nach Verbindung verwirklichter Gebührentatbestände (hier: die Terminsgebühr) geltend machen (BGH, Beschl. v. 14.4.2010, a.a.O., Tz. 19 ff.; VGH Kassel JurBüro 1987, 1360 mit zustimm. Anm. Mümmler; N. Schneider, a.a.O., § 15 Rz. 169 f.; Onderka/N. Schneider, a.a.O., VV Vorbem. 3 Rz. 62; Müller-Rabe, a.a.O., VV 3100 Rz. 81, 85; Riedel/Sußbauer/Keller, RVG 9. Aufl. VV Teil 3 Vorbem. 3 Rz. 36).
Rz. 19
Hier hat die Beklagte ihr Wahlrecht dahin ausgeübt, die bereits verdienten Gebühren aus den ursprünglich vier Klageverfahren/gebührenrechtlichen Angelegenheiten zzgl. der Terminsgebühr nach Verbindung geltend zu machen.
Rz. 20
bb) Vor der Verbindung, und damit nach § 15 Abs. 4 RVG unentziehbar, sind vier Verfahrensgebühren i.H.v. 0,8 gem. Nr. 3101 Nr. 1 RVG-VV nach den jeweiligen Gegenstandswerten der vier Klagen und vier Auslagenpauschalen nach Nr. 7002 RVG-VV (vgl. BGH, Beschl. v. 14.4.2010, a.a.O., Tz. 23 m.w.N.) i.H.v. je 20 EUR entstanden.
Rz. 21
(a) Die Verfahrensgebühr entsteht gemäß Vorbem. 3 Abs. 2 RVG-VV für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information. Sie ist erstattungsfähig, sobald der Rechtsanwalt von einer Partei zum Verfahrensbevollmächtigten bestellt worden ist und eine unter die Verfahrensgebühr fallende Tätigkeit ausgeübt hat. Im Regelfall entsteht hiernach die Verfahrensgebühr mit der Entgegennahme der ersten Information nach Erteilung des Auftrags. Es kommt nicht darauf an, wann sich der Rechtsanwalt bei Gericht bestellt (Hartmann, a.a.O., 3100 VV Rz. 11 ff. m.w.N.; Müller-Rabe, a.a.O., Vorbem. 3 VV Rz. 27; VV 3100 Rz. 43 ff.). Ein Verfahrensauftrag setzt weder beim Kläger noch beim Beklagten voraus, dass bereits ein Gerichtsverfahren anhängig ist. Die Tätigkeit des Verfahrensbevollmächtigten beginnt - wie § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 RVG besagt - bereits mit der Vorbereitung der Klage oder der Rechtsverteidigung. Zwar wird die Erteilung eines Verfahrensauftrags durch den Beklagten vor Klagezustellung nicht allzu häufig vorkommen. Jedoch kann der Beklagte, wenn er einen Rechtsstreit erwartet, bereits vor Klageerhebung einen Rechtsanwalt zum Verfahrensbevollmächtigten mit dem Auftrag bestellen, ihn als Beklagten in dem bevorstehenden Prozess zu vertreten. Hat in diesem Fall der Rechtsanwalt deshalb die Information bereits entgegengenommen, um auf eine etwaige Klage reagieren zu können, so hat er bereits damit eine 0,8 Gebühr gem. Nr. 3101 Nr. 1 RVG-VV verdient (KG, a.a.O., Tz. 7; Müller-Rabe, a.a.O., VV 3100 Rz. 36; Onderkra/N. Schneider, a.a.O., VV Vorbem. 3 Rz. 17, 29).
Rz. 22
(b) So liegt der Fall hier. Die Beklagte rechnete mit Anfechtungsklagen gegen die auf der Hauptversammlung gefassten Beschlüsse, da z.B. die Rechtsbeschwerdeführerin schriftlich um Angabe der Anschriften des Vorstands und der Aufsichtsratsmitglieder gebeten hatte, und beauftragte daher, wie die Akteneinsichtsgesuche vor Zustellung der Klagen belegen, ihre Verfahrensbevollmächtigten vor Klagezustellung mit ihrer Vertretung gegen evtl. Klagen. - Jedenfalls - durch die Einsichtnahme in die Akten aller vier Klageverfahren vor deren Verbindung hatte der Rechtsanwalt der Beklagten in allen vier Klageverfahren eine Verfahrensgebühr i.H.v. 0,8 gem. Nr. 3101 Nr. 1 RVG-VV verdient.
Rz. 23
Eine Verfahrensgebühr i.H.v. 1,3 gem. Nr. 3100 RVG-VV, wie von der Beklagten zur Festsetzung angemeldet, kann sie hingegen, wie das OLG zu Recht erkannt hat, nicht verlangen, da die dafür erforderlichen Voraussetzungen vor der Verbindung nicht erfüllt waren. Wie aus Nr. 3101 Nr. 1 RVG-VV i.V.m. Nr. 3100 RVG-VV folgt, ist eine Verfahrensgebühr i.H.v. 1,3 u.a. erst verdient, wenn der Rechtsanwalt einen Schriftsatz mit Sachantrag oder Sachvortrag bei Gericht einreicht. Die Akteneinsichtsgesuche erfüllten diese Voraussetzungen nicht.
Rz. 24
(c) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde muss sich die Beklagte auf diese Verfahrensgebühren keine "fiktiven außergerichtlichen Geschäftsgebühren" anrechnen lassen.
Rz. 25
Mit dem mit Art. 7 Abs. 4 Nr. 3 des am 4.8.2009 verkündeten Gesetzes zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Änderung sonstiger Vorschriften vom 30.7.2009 (BGBl. I, 2449) eingeführten § 15a Abs. 2 RVG hat der Gesetzgeber klargestellt, dass - schon - eine vorgerichtlich tatsächlich entstandene Geschäftsgebühr gem. Nr. 2300 RVG-VV im Kostenfestsetzungsverfahren - von hier nicht vorliegenden Ausnahmen abgesehen - nicht zu berücksichtigen ist, da die Anrechnungsvorschrift in Vorbem. 3 Abs. 4 RVG-VV nur im Verhältnis zwischen einer Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten gilt (BGH, Beschl. v. 2.9.2009 - II ZB 35/07, ZIP 2009, 1927; BGH, Beschl. v. 9.12.2009 - XII ZB 175/07, ZIP 2010, 854; v. 3.2.2010 - XII ZB 177/09, z.V.b.). Erst recht scheidet jegliche Anrechnung aus, wenn, wie hier, wegen der zwischen der Beklagten und ihrer Bevollmächtigten bestehenden Honorarvereinbarung eine Geschäftsgebühr im Sinne von Nr. 2300 RVG-VV gar nicht entstanden ist (BGH, Beschl. v. 18.8.2009 - VIII ZB 17/09, ZIP 2009, 2313). Der VIII. Zivilsenat hat in Übereinstimmung mit der einhelligen Rechtsprechung der OLG und der ebenso einhelligen Ansicht in der Literatur - insoweit auch bereits zu § 118 Abs. 2 BRAGO - eine Berücksichtigung einer tatsächlich gar nicht entstandenen Geschäftsgebühr im Kostenfestsetzungsverfahren abgelehnt.
Rz. 26
cc) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist das Vorgehen der Beklagten, d.h. die Beauftragung ihrer Prozessbevollmächtigten und deren Akteneinsicht vor Klagezustellung, durch das die Verfahrensgebühren nach Nr. 3101 RVG-VV ausgelöst wurden, nicht rechtsmissbräuchlich, so dass ihrer Erstattung, gemessen an § 91 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbs. ZPO, nichts entgegensteht.
Rz. 27
Gerade bei aktienrechtlichen Anfechtungs-/Nichtigkeitsklagen besteht ein schützenswertes Interesse der Aktiengesellschaft daran, frühzeitig Kenntnis von dem Inhalt der Klageschriften zu erlangen, etwa im Hinblick auf die Stellung eines Freigabeantrags nach § 246a AktG oder nach den spezialgesetzlichen Freigabevorschriften. Da die beklagte Aktiengesellschaft im Freigabeverfahren die Unzulässigkeit bzw. die offensichtliche Unbegründetheit sämtlicher Beschlussmängelklagen darzulegen hat, liegt es auf der Hand, dass die Arbeit an einem Freigabeantrag ohne das Vorliegen der Klageschrift nicht möglich ist. Angesichts dessen wurde bereits bisher von vielen Gerichten den Bevollmächtigten der beklagten Aktiengesellschaften bereits vor Klagezustellung Akteneinsicht nach § 299 ZPO gewährt. Der Gesetzgeber hat diesem geschilderten Bedürfnis im Rahmen des ARUG (vom 4.8.2009, BGBl. I, 2479) Rechnung getragen. Seit dem 1.9.2009 ist in § 246 Abs. 3 Satz 5 AktG bestimmt, dass die (beklagte) Gesellschaft unmittelbar nach dem Ablauf der Anfechtungsfrist eine eingereichte Klage bereits vor der Zustellung einsehen und sich von der Geschäftsstelle Auszüge und Abschriften erteilen lassen kann. Nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers ging es bei dieser Gesetzesänderung darum, die bereits zuvor geübte und von ihm gebilligte Praxis der Akteneinsicht auf eine rechtssichere Grundlage zu stellen (Begr. RegE ARUG BT-Drucks. 847/08 S. 63).
Rz. 28
3. Die den Prozessbevollmächtigten der Beklagten zustehenden Gebühren und damit die außergerichtlichen Kosten der Beklagten errechnen sich danach wie folgt:
3x 0,8 Verfahrensgebühr gem. Nr. 3101 RVG-VV nach einem Gegenstandswert von 100.000 EUR (3x 1.083,20 EUR) = |
3.249,60 EUR |
1x 0,8 Verfahrensgebühr gem. Nr. 3101 RVG-VV nach einem Gegenstandswert von 250.000 EUR = |
1.641,60 EUR |
4x Postentgeltpauschale nach Nr. 7002 RVG-VV = |
80 EUR |
1x 1,2 Terminsgebühr nach Nr. 3104 RVG-VV nach dem Gesamtgegenstandswert von 250.000 EUR = |
2.462,40 EUR |
|
7.433,60 EUR |
Rz. 29
Hiervon hätte die Klägerin 18 %, d.h. 1.338,05 EUR an die Beklagte zu erstatten mit der Folge, dass sie durch die Festsetzung i.H.v. lediglich 1.172,92 EUR nicht beschwert ist.
Fundstellen
Haufe-Index 2361135 |
DB 2010, 1758 |
DStR 2010, 1584 |
EBE/BGH 2010 |
NJW-RR 2010, 1697 |
EWiR 2010, 593 |
NZG 2010, 876 |
ZAP 2010, 836 |
ZIP 2010, 1413 |
AG 2010, 590 |
MDR 2010, 959 |
GWR 2010, 397 |
HRA 2010, 18 |
RENOpraxis 2011, 56 |
RVGreport 2010, 334 |
ZBB 2010, 314 |
Konzern 2010, 424 |