Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorgerichtlich entstandene Geschäftsgebühr. Anrechnung. Anschluss an Rechtsprechung der anderen Zivilsenate
Leitsatz (amtlich)
Der VIII. Zivilsenat schließt sich zur Frage der Anrechnung einer vorgerichtlich entstandenen Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 RVG-VV auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 RVG-VV der eine Anwendung des § 15a RVG befürwortenden Rechtsprechung anderer Zivilsenate (Beschlüsse v. 2.9.2009 - II ZB 35/07, NJW 2009, 3101; 9.12.2009 - XII ZB 175/07, NJW 2010, 1375; v. 3.2.2010 - XII ZB 177/09, AGS 2010, 106; v. 11.3.2010 - IX ZB 82/08, juris; v. 29.4.2010 - V ZB 38/10, AGS 2010, 263) zur Vermeidung eines der Sache nicht angemessenen Vorgehens nach § 132 GVG an.
Normenkette
RVG § 15a; RVG VV Vorbemerkung 3 Abs. 4
Verfahrensgang
OLG Celle (Beschluss vom 29.01.2010; Aktenzeichen 2 W 40/10) |
LG Hannover (Beschluss vom 02.11.2009; Aktenzeichen 13 O 55/09) |
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten wird der Beschluss des 2. Zivilsenats des OLG Celle vom 19.1.2010 aufgehoben.
Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten wird der Kostenfestsetzungsbeschluss des LG Hannover vom 2.11.2009 dahin abgeändert, dass über die dort festgesetzten Kosten hinaus die von dem Kläger an die Beklagte aufgrund des Urteils des LG Hannover vom 10.7.2009 zu erstattenden Kosten auf weitere 318,68 EUR nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.7.2009 festgesetzt werden.
Der Kläger hat die Kosten der Rechtsmittelverfahren zu tragen.
Streitwert: 318,68 EUR.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Parteien haben um die Rückabwicklung eines Kaufvertrages über ein Gebrauchtfahrzeug gestritten. Das LG hat die Klage durch rechtskräftiges Urteil vom 10.7.2009 abgewiesen und dem Kläger die Kosten des Rechtsstreits nach einem Streitwert von 8.000 EUR auferlegt. Hierauf gestützt hat die Beklagte unter dem 15.7.2009 die Festsetzung von Kosten i.H.v. 1.359,58 EUR gegen den Kläger beantragt. In ihrem Ansatz, dem sie einen Streitwert von 8.028,02 EUR zugrunde gelegt hatte, war eine 1,3-fache Verfahrensgebühr gem. § 13 RVG, Nr. 3100 RVG-VV i.H.v. 583,70 EUR netto enthalten.
Rz. 2
Das LG hat die nach einem Streitwert von 8.000 EUR bemessenen Kosten der Beklagten auf insgesamt 930,82 EUR festgesetzt und dabei die Verfahrensgebühr mit Rücksicht auf das vorprozessuale Tätigwerden ihrer Prozessbevollmächtigten nur mit dem 0,65-fachen Satz (267,80 EUR netto = 318,68 EUR brutto) in Ansatz gebracht. Ihre mit dem Ziel eingelegte sofortige Beschwerde, die Anrechnung der außergerichtlichen Gebühr zu beseitigen, hatte keinen Erfolg. Mit ihrer vom OLG zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Festsetzung einer ungekürzten 1,3-fachen Verfahrensgebühr weiter.
II.
Rz. 3
Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde (§§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 575 ZPO) hat Erfolg.
Rz. 4
1. Das Beschwerdegericht ist mit dem LG der Auffassung, dass es nach Vorbemerkung 3 Abs. 4 RVG-VV zu einer Kürzung der von der Beklagten angesetzten Verfahrensgebühr gem. Nr. 3100 RVG-VV auf den 0,65-fachen Satz kommen müsse. Daran ändere auch § 15a RVG nichts, weil diese Bestimmung im Hinblick auf die Überleitungsvorschrift des § 60 RVG hier keine Anwendung finde. Denn die in Vorbemerkung 3 Abs. 4 RVG-VV vorgeschriebene Anrechnung, die allein das Innenverhältnis zwischen Rechtsanwalt und Mandant betreffe, sei durch § 15a RVG nicht außer Kraft gesetzt worden. Vielmehr habe der Gesetzgeber mit § 15a Abs. 2 RVG erstmals eine Regelung zu der Frage getroffen, wann sich ein Dritter auf eine Anrechnungsvorschrift wie diejenige in Vorbemerkung 3 Abs. 4 RVG-VV berufen könne. Entgegen der Auffassung des II. Zivilsenats des BGH (Beschl. v. 2.9.2009 - II ZB 35/07, NJW 2009, 3101) habe der Gesetzgeber mit § 15a RVG auch keine Vorschrift geschaffen, die die bisher schon geltende Rechtslage lediglich klarstelle. Der Gesetzgeber habe vielmehr erstmals die von ihm zuvor nicht bedachte Frage geregelt, ob und inwieweit die im Verhältnis zwischen Mandant und Rechtsanwalt intern vorzunehmende Anrechnung auch für das auf eine Kostenerstattung gerichtete Außenverhältnis zwischen den Parteien eines Rechtsstreits Geltung beanspruchen könne. Darin habe eine lediglich in die Zukunft wirkende Gesetzesänderung gelegen, deren Inkrafttreten sich wegen einer sonst eintretenden (unechten) Rückwirkung, die der Gesetzgeber angesichts der daraus resultierenden weitreichenden Folgen mit seiner Gesetzesänderung nicht beabsichtigt haben könne, allein nach § 60 Abs. 1 RVG bestimme.
Rz. 5
2. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Rz. 6
Die Rechtsbeschwerde macht zutreffend geltend, dass die in Vorbemerkung 3 Abs. 4 RVG-VV vorgeschriebene Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens im Rahmen des Kostenfestsetzungsverfahrens der Parteien in der Weise hätte erfolgen müssen, wie sie nunmehr in § 15a RVG beschrieben ist, der durch Art. 7 Abs. 4 Nr. 3 des Gesetzes zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Änderung sonstiger Vorschriften vom 30.7.2009 (BGBl. I, 2449) in das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz eingefügt worden und gem. Art. 10 Satz 2 dieses Gesetzes am 5.8.2009 in Kraft getreten ist.
Rz. 7
a) Die Frage, ob sich durch die anteilige Anrechnung einer vorgerichtlich entstandenen Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 RVG-VV die in einem anschließenden gerichtlichen Verfahren anfallende Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 RVG-VV gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 RVG-VV vermindert, war bislang umstritten und ist auch nach Einfügung des § 15a RVG umstritten geblieben, soweit es den zeitlichen Geltungsbereich dieser Anrechnungsvorschrift betrifft. Dessen Abs. 1 bestimmt zur Anrechnung einer Gebühr, dass in Fällen, in denen das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz die Anrechnung einer Gebühr auf eine andere Gebühr vorsieht, der Rechtsanwalt beide Gebühren fordern kann, jedoch nicht mehr als den um den Anrechnungsbetrag verminderten Gesamtbetrag der beiden Gebühren. Abs. 2 sieht vor, dass ein Dritter sich auf die Anrechnung nur berufen kann, soweit er den Anspruch auf eine der beiden Gebühren erfüllt hat, wegen eines dieser Ansprüche gegen ihn ein Vollstreckungstitel besteht oder beide Gebühren in demselben Verfahren gegen ihn geltend gemacht werden.
Rz. 8
b) Der Senat hat bis zum Erlass des § 15a RVG in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass sich durch die anteilige Anrechnung einer vorgerichtlich entstandenen Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 RVG-VV auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 RVG-VV nicht die bereits entstandene Geschäftsgebühr, sondern die in dem anschließenden gerichtlichen Verfahren nach Nr. 3100 RVG-VV anfallende Verfahrensgebühr vermindert und dass es für die Anrechnung ohne Bedeutung ist, ob die Geschäftsgebühr auf materiell-rechtlicher Grundlage vom Prozessgegner zu erstatten und ob sie unstreitig, geltend gemacht, tituliert oder bereits beglichen ist oder nicht (BGH v. 22.1.2008 - VIII ZB 57/07, NJW 2008, 1323, Tz. 6 ff.; v. 10.3.2009 - VIII ZB 111/07, juris, Tz. 6; jeweils m.w.N.). Dem sind mehrere Zivilsenate des BGH (Beschlüsse v. 14.8.2008 - I ZB 103/07, AGS 2008, 574, unter [II] 1b; v. 30.4.2008 - III ZB 8/08, NJW-RR 2008, 1095, Tz. 4; v. 16.7.2008 - IV ZB 24/07, AGS 2008, 377, unter [II] 2b, c; v. 3.6.2008 - VI ZB 55/07, NJW-RR 2008, 1528, Tz. 5 f.; v. 25.9.2009 - VII ZB 93/07, juris, Tz. 5; v. 25.9.2008 - IX ZR 133/07, NJW 2008, 3641, Tz. 12) sowie das BVerwG (JurBüro 2009, 594) gefolgt.
Rz. 9
c) Der II. Zivilsenat des BGH (Beschl. v. 2.9.2009 - II ZB 35/07, a.a.O., Tz. 6 ff.) hat sich dem nicht anzuschließen vermocht, seine Bedenken jedoch nicht näher ausgeführt, weil er den zwischenzeitlich in Kraft getretenen § 15a RVG auch auf noch nicht abgeschlossene Kostenfestsetzungsverfahren angewandt wissen will. Dies hat er damit begründet, dass der Gesetzgeber mit dem neu eingefügten § 15a RVG das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz nicht geändert, sondern lediglich die seiner Ansicht nach bereits vor dessen Einfügung bestehende Rechtslage klargestellt habe, derzufolge sich die Anrechnung gemäß Vorbemerkung 3 Abs. 4 RVG-VV grundsätzlich im Verhältnis zu Dritten, also insb. im Kostenfestsetzungsverfahren, nicht auswirke, sondern nur das Innenverhältnis zwischen Anwalt und Mandant betreffe. Dieser vor allem in der Instanzrechtsprechung seither umstrittenen Sichtweise haben sich mittlerweile mehrere Zivilsenate des BGH angeschlossen (Beschlüsse v. 9.12.2009 - XII ZB 175/07, NJW 2010, 1375, Tz. 11 ff. m.w.N. zum Streitstand; v. 3.2.2010 - XII ZB 177/09, AGS 2010, 106, unter [III] 3; v. 11.3.2010 - IX ZB 82/08, juris, Tz. 6; v. 29.4.2010 - V ZB 38/10, AGS 2010, 263, unter [III] 1), während der X. Zivilsenat (Beschl. v. 29.9.2009 - X ZB 1/09, NJW 2010, 76, Tz. 23 f.) dagegen - allerdings in einer nicht entscheidungstragenden Erwägung - Bedenken erhoben hat.
Rz. 10
Der Senat schließt sich zur Vermeidung eines der Sache nicht angemessenen Vorgehens nach § 132 GVG der vorgenannten, eine Anwendung des § 15a RVG befürwortenden Rechtsprechung ebenfalls an. Danach ist auch für die Zeit vor Inkrafttreten des Änderungsgesetzes davon auszugehen, dass die in Vorbemerkung 3 Abs. 4 RVG-VV angeordnete Anrechnung für die Höhe der gesetzlichen Gebühren, deren Erstattung § 91 Abs. 2 Satz 1 ZPO im Verhältnis der Prozessparteien untereinander vorsieht, ohne Bedeutung ist und eine obsiegende Prozesspartei mithin die Erstattung einer ungekürzten Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 RVG-VV beanspruchen kann.
Rz. 11
3. Die Rechtsbeschwerde rügt hiernach zu Recht, dass das Beschwerdegericht die angemeldete Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 RVG-VV nur gekürzt und nicht mit dem 1,3-fachen Satz in Ansatz gebracht hat. Da in der Sache keine weiteren Feststellungen zu treffen sind, sondern der Sachverhalt zur Endentscheidung reif ist, hat der Senat gem. § 577 Abs. 5 ZPO nach Maßgabe vorstehender Beschlussformel in der Sache selbst zu entscheiden.
Fundstellen
Haufe-Index 2422683 |
EBE/BGH 2010 |
FamRZ 2011, 104 |
JurBüro 2011, 22 |
ZIP 2010, 2268 |
AnwBl 2010, 878 |
MDR 2010, 1426 |
Rpfleger 2011, 48 |
VersR 2011, 283 |
RVGreport 2010, 424 |
BRAK-Mitt. 2010, 274 |
Mitt. 2010, 591 |