Leitsatz (amtlich)
›Der Zulässigkeit einer innerhalb der laufenden Rechtsmittelfrist erneut eingelegten Berufung steht nicht die Rechtskraft einer Entscheidung entgegen, durch die die erste Berufung mangels rechtzeitiger Begründung verworfen worden ist.‹
Verfahrensgang
Gründe
Durch Urteil vom 19. Dezember 1989 hat das Landgericht die Klage, mit der die Klägerin die Beklagte auf Zahlung von 24.200,89 DM in Anspruch genommen hat, abgewiesen. Die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin bestätigten am 21. Dezember 1989 den Empfang einer Ausfertigung des Urteils gemäß § 212 a ZPO. Der auf dem Urteil befindliche Ausfertigungsvermerk ist vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle nicht unterschrieben worden.
Die Klägerin hat am 12. Januar 1990 Berufung eingelegt und diese am 16. Februar 1990 begründet. Ihren Antrag vom 21. Februar 1990 auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Begründungsfrist hat das Berufungsgericht durch den unangefochten gebliebenen Beschluß vom 28. Februar 1990 zurückgewiesen und gleichzeitig die Berufung als unzulässig verworfen. Am 10. Mai 1990 hat die Klägerin gegen das landgerichtliche Urteil erneut Berufung eingelegt und diese begründet. Sie hat die Auffassung vertreten, das Rechtsmittel sei zulässig; die einmonatige Berufungsfrist sei nicht in Lauf gesetzt worden. Die Zustellung des Urteils sei nämlich unwirksam, weil die zum Zwecke der Zustellung an ihre Prozeßbevollmächtigte übersandte Ausfertigung entgegen § 317 Abs. 3 ZPO nicht die Unterschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle trage.
Durch den den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 23. Juli 1990 zugestellten Beschluß vom 12. Juli 1990 hat das Oberlandesgericht die erneute Berufung mit der Begründung als unzulässig verworfen, daß ihr die Rechtskraft des Verwerfungsbeschlusses vom 28. Februar 1990 entgegenstehe. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der sofortigen Beschwerde vom 3. August 1990.
Diese hat Erfolg. Sie ist zulässig (§§ 519 b Abs. 2, 547, 577 , 569Abs. 2 Satz 1 und begründet.
1.a) Es ist allgemein anerkannt, daß eine Berufung, auch wenn sie als unzulässig verworfen worden und diese Entscheidung - wie hier - rechtskräftig geworden ist, erneut eingelegt werden kann, solange die Rechtsmittelfrist noch nicht abgelaufen ist (vgl. u.a. RGZ 158, 53; BAG AP § 9 ArbGG 1953 Nr. 16 mit Anmerkung Grunsky; BGH, Urteil vom 7. Mai 1981 - VII ZR 366/80 = NJW 1981, 1962 m.w.Nachw.). Dabei ist es unerheblich, ob das (erste) Rechtsmittel bereits unzulässig eingelegt oder - was vorliegend der Fall war - erst später durch Versäumung der Begründungsfrist unzulässig wurde (RGZ 158, 53, 56; a.A. - allerdings ohne Begründung - Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, 20. Aufl., § 519 b Rdnr. 15). Eine solche Unterscheidung fände im geltenden Recht keine Grundlage.
b) Die Rechtsmittelfrist war noch nicht abgelaufen, als die Klägerin am 10. Mai 1990 erneut Berufung eingelegt hat. Die am 21. Dezember 1989 erfolgte Zustellung des angefochtenen Urteils war unwirksam und konnte daher die an die Zustellung geknüpfte einmonatige Berufungsfrist (§ 516 ZPO) nicht in Lauf setzen. Soll, wie hier, eine Urteilsausfertigung zugestellt werden, muß das Schriftstück einen vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle entsprechend § 317 Abs. 3 ZPO unterschriebenen Ausfertigungsvermerk enthalten (BGHZ 100, 234, 237). Fehlt die Unterschrift unter dem Vermerk, so handelt es sich in Wahrheit nicht um eine Ausfertigung, sondern allenfalls um den Entwurf einer Ausfertigung (BGH, Urteil vom 10. Juni 1964 - VIII ZR 286/63 = LM § 317 ZPO Nr. 8; BGHZ 100, 234, 237). Die Zustellung eines solchen Entwurfes genügt nicht der Vorschrift des § 170 ZPO und ist daher unwirksam. So liegt der Fall hier. Ausweislich der von der Klägerin vorgelegten, ihrem Prozeßbevollmächtigten zum Zwecke der Zustellung übergebenen Urteilsausfertigung ist der Ausfertigungsvermerk nicht vom Urkundsbeamten unterzeichnet. Unter den für die Unterschrift freigehaltenen Zeilen ist lediglich maschinenschriftlich der Name des Urkundsbeamten angegeben.
Konnte daher die fehlerhafte Zustellung vom 21. Dezember 1989 die einmonatige Berufungsfrist nicht in Lauf setzen, so begann diese erst mit dem Ablauf von fünf Monaten nach Verkündung des angefochtenen Urteils (§ 516 ZPO). Demgemäß war die am 10. Mai 1990 eingelegte (zweite) Berufung rechtzeitig.
2. Die Zulässigkeit des Rechtsmittels scheitert entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht an der rechtskräftig gewordenen (ersten) Verwerfungsentscheidung vom 28. Februar 1990.
a) Zwar darf die Zulassung eines wiederholten Rechtsmittels nicht in Widerspruch zu einer früheren Verwerfungsentscheidung stehen, weil dieser innerprozessuale Bindungswirkung zukommt, die dem Richter, soweit sie reicht, im weiteren Verfahren ein abweichendes Erkenntnis verwehrt. Wie weit die Bindung an die Vorentscheidung reicht, bestimmt sich nach deren Rechtskraftumfang. An diesem findet jede weitere Entscheidung ihre Grenze. Das bedeutet, daß derselbe Sachverhalt, der bereits Gegenstand einer früheren Verwerfungsentscheidung war, bei der Prüfung der Zulässigkeit des erneut eingelegten Rechtsmittels nicht anders beurteilt werden darf (vgl. BGH, Urteil vom 7. Mai 1981 aaO.; Jauernig in MDR 1982, 286). Ist dagegen der mit dem wiederholten Rechtsmittel unterbreitete Sachverhalt in entscheidungserheblichen Punkten anders gelagert, hindert die Bindungswirkung der früheren Verwerfungsentscheidung den Richter nicht daran, nunmehr die Zulässigkeit des Rechtsmittels zu bejahen. So liegt der Fall hier.
b) Der Sachverhalt, der Gegenstand des Beschlusses vom 28. Februar 1990 war, drehte sich allein um die Prozeßfrage, ob die Klägerin ihre (erste) Berufung fristgerecht begründet hatte. Durch die dies verneinende Verwerfungsentscheidung wurde auch nur hierüber befunden und daher mit Bindundungswirkung allein festgestellt, daß die Berufung wegen Versäumun der Begründungsfrist, also wegen dieses bestimmten Mangels unzulässig war (vgl. BGH, Urteil vom 7. Mai 1981 aaO. S. 1263). Die Zulässigkeit der erneuten Berufung, bei der dieser Mangel vermieden wurde, ist dagegen auf der Grundlage eines anderen Sachverhalts zu beurteilen, nämlich der Tatsachen, die für den Beginn der Berufungsfrist und damit die fristgerechte Einlegung des Rechtsmittels bestimmend sind und bei der ersten Verwerfungsentscheidung keine Rolle spielten.
Soweit das Berufungsgericht ausführt, in dem Beschluß vom 28. Februar 1990 sei "implizite" die Wirksamkeit der Urteilszustellung vom 21. Dezember 1989 mitentschieden worden, und dies damit zu begründen versucht, daß ohne wirksame Zustellung die Berufungsfrist und anschließend die Berufungsbegründungsfrist nicht wirksam hätten in Lauf gesetzt werden können, kann dem nicht gefolgt werden. Die Unzulässigkeit der (ersten) Berufung ist in diesem Beschluß allein aus der Versäumung der Begründungsfrist abgeleitet worden. Hierfür bedurfte es nicht der Feststellung, ob und wann die Berufungsfrist in Lauf gesetzt wurde. Der Beginn der Begründungsfrist ist hiervon unabhängig. Er bestimmt sich ausschließlich nach dem Zeitpunkt der Einlegung der Berufung (§ 519 Abs. 2 Satz 2 ZPO).
Etwas anderes würde nur gelten, wenn das Berufungsgericht, was möglich gewesen wäre, die verspätete Begründung der ersten Berufung als erneute Berufung behandelt und diese - von der Wirksamkeit der Zustellung vom 21. Dezember 1989 ausgehend - als verfristet gleichfalls durch den Beschluß vom 28. Februar 1990 verworfen hätte. Das ist indessen nicht geschehen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
Fundstellen
Haufe-Index 2993667 |
NJW 1991, 1116 |
BGHR ZPO § 170 Abs. 1 Urteilsausfertigung 2 |
BGHR ZPO § 317 Abs. 3 Unterschrift 2 |
BGHR ZPO § 318 Bindungsgrenzen 2 |
BGHR ZPO § 322 Abs. 1 Berufungsverwerfungsbeschluß 1 |
BGHR ZPO § 519b Abs. 1 Berufungswiederholung 1 |
WM 1991, 882 |
VersR 1991, 1193 |