Leitsatz (amtlich)
Zum Vorliegen eines Gehörsverstoßes wegen unterbliebener Berücksichtigung von in der Berufungsbegründung gehaltenem Vortrag.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 544 Abs. 9
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird das Urteil des 4. Zivilsenats des OLG Bamberg vom 6.7.2020 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der 1. Zivilkammer des LG Bamberg vom 16.5.2019 zurückgewiesen worden ist.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: bis 22.000 EUR
Gründe
I.
Rz. 1
Der Kläger nimmt den beklagten Fahrzeughersteller wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung, die zu erhöhten Schadstoffemissionen führte, auf Schadensersatz in Anspruch.
Rz. 2
Der Kläger behauptet, er habe von seinem Vater einen VW Tiguan, der mit einem Dieselmotor des Typs EA189 ausgestattet ist, gebraucht zum Kaufpreis von 31.500 EUR erworben.
Rz. 3
Das LG hat die Beklagte zur Zahlung von 22.589,91 EUR nebst Delikts- und Prozesszinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Übergabe des Fahrzeugs sowie vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten verurteilt und den Annahmeverzug festgestellt. Das OLG hat, nachdem der Kläger seine Berufung zurückgenommen hat, auf die Berufung der Beklagten unter teilweiser Abänderung des Urteils des LG die Beklagte zur Zahlung von 21.741,35 EUR nebst Prozesszinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs sowie vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten verurteilt, im Übrigen die Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der Nichtzulassungsbeschwerde, mit der sie eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör rügt.
II.
Rz. 4
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gem. § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.
Rz. 5
1. Das Berufungsgericht hat - soweit hier erheblich - zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Kläger sei aktivlegitimiert. Das Berufungsgericht folge insoweit den eingehend begründeten Feststellungen des LG, die von der Beklagten im Berufungsverfahren nicht angegriffen worden seien. Die bloße Behauptung, die Aktivlegitimation fehle, begründe keine Zweifel an den vom LG getroffenen Feststellungen.
Rz. 6
Auf Antrag der Beklagten hat das Berufungsgericht das Berufungsurteil mit Beschluss vom 16.9.2020 in der Weise berichtigt, dass es anstelle von "Der Kläger erwarb mit Kaufvertrag vom 12.03.2015 von seinem Vater (...) zu einem Kaufpreis von 31.500 EUR" heißen müsse "Der Kläger behauptet, dass er von seinem Vater mit Kaufvertrag vom 12.03.2015 den Pkw (...) zu einem Kaufpreis von 31.500 EUR erworben habe." Soweit die Beklagte darüber hinaus beantragt hat, die Angabe "Kaufvertrag vom 12.03.2015" durch die Angabe "Kaufvertrag vom 08.04.2013" zu ersetzen, ist keine Berichtigung erfolgt (GA 467).
Rz. 7
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde macht zu Recht geltend, dass das Berufungsgericht die von der Beklagten zur Frage des Fahrzeugerwerbs erhobenen Rügen in der Berufungsbegründung nicht berücksichtigt habe.
Rz. 8
a) Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Gerichte sind aber nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen einer Partei ausdrücklich auseinanderzusetzen. Vielmehr ist auch ohne ausdrückliche Erwähnung von Parteivorbringen grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen eines Beteiligten auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kann aber dann festgestellt werden, wenn sich aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles deutlich ergibt, dass das Gericht Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei seiner Entscheidung nicht in Erwägung gezogen hat (vgl. BVerfGE 54, 86, 91; BGH, Beschl. v. 8.11.2016 - VI ZR 512/15 VersR 2017, 316 Rz. 6).
Rz. 9
b) So liegt es im Streitfall. Entgegen den Angaben im Berufungsurteil hat die Beklagte in der Berufungsbegründung nicht nur behauptet, die Aktivlegitimation des Klägers fehle, sondern u.a. ausgeführt, dass der vorgelegte schriftliche Kaufvertrag, der auf einem Formular aus dem Jahr 2017 erstellt worden sei, nicht geeignet sei, den behaupteten Vertragsschluss im Jahr 2013 zu belegen. Die Angaben des Klägers zum Vertragsschluss seien widersprüchlich. Das LG, das ausgeführt habe, die Beklagte habe keine Umstände aufgezeigt, die dafür sprächen, dass der in der Kaufvertragsurkunde niedergelegte Erwerb nur ein Scheingeschäft gewesen oder der vereinbarte Kaufpreis nicht geflossen sei, habe die Darlegungs- und Beweislast für das Zustandekommen des Kaufvertrags und die Kaufpreiszahlung verkannt (GA 324 f.).
Rz. 10
Die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Frage des Fahrzeugerwerbs und damit der Aktivlegitimation des Klägers legen nahe, dass das Berufungsgericht diesen Vortrag der Beklagten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen hat.
Rz. 11
3. Die Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht unter Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens zu einer anderen Beurteilung gekommen wäre. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Fundstellen
NJW-RR 2021, 1072 |
WM 2021, 1557 |
JZ 2021, 543 |
VersR 2021, 1457 |
ErbR 2021, 908 |