Verfahrensgang
LG Potsdam (Entscheidung vom 06.04.2023; Aktenzeichen 4 S 109/21) |
AG Potsdam (Entscheidung vom 21.10.2021; Aktenzeichen 26 C 15/21) |
Tenor
Die Anträge der Beklagten auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Landgerichts Potsdam - 4. Zivilkammer - vom 6. April 2023, auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen das vorbezeichnete Urteil und auf Verlängerung der in dem vorbezeichneten Urteil bestimmten Räumungsfrist werden zurückgewiesen.
Gründe
I.
Rz. 1
Die Beklagten sind von dem Berufungsgericht mit dem im Tenor genannten, für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteil zur Räumung und Herausgabe der von ihnen bewohnten Wohnung der Klägerin in K. verurteilt worden.
Rz. 2
Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung (ohne Sicherheitsleistung) für vorläufig vollstreckbar erklärt und eine Abwendungsbefugnis gemäß § 711 ZPO nicht ausgesprochen. In erster Instanz haben die Beklagten einen Vollstreckungsschutzantrag nach § 712 ZPO gestellt, diesen in der Berufungsinstanz jedoch nicht wiederholt.
Rz. 3
Über das Vermögen des Beklagten zu 2 ist nach Erlass des Berufungsurteils das Insolvenzverfahren eröffnet worden (Beschluss des Amtsgerichts Potsdam vom 17. April 2023 - 6.70 IN 26/23).
Rz. 4
Mit Schriftsatz ihrer vorinstanzlichen Prozessbevollmächtigten vom 29. April 2023 beantragten die Beklagten die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus dem Berufungsurteil, die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung eines bei dem Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalts für eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Berufungsurteil sowie die Verlängerung der ihnen vom Berufungsgericht bis zum 31. August 2023 gewährten Räumungsfrist.
II.
Rz. 5
1. Der Antrag der Beklagten auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung bleibt ohne Erfolg.
Rz. 6
a) Der Senat ist trotz der Unterbrechung des Rechtsstreits durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Beklagten zu 2 (§ 240 Satz 1 ZPO) nicht gehindert, auch über seinen Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung gemäß § 719 Abs. 2 ZPO zu entscheiden, weil es sich bei dem Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung nicht um eine Prozesshandlung "in Ansehung der Hauptsache" im Sinne des § 249 Abs. 2 ZPO handelt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. Januar 2016 - V ZB 175/13, juris Rn. 4; vom 31. Januar 2000 - XII ZR 3/00, NJW 2001, 375 unter II 1; MünchKommZPO/Stackmann, 6. Aufl., § 249 Rn. 15; jeweils mwN).
Rz. 7
b) Ob die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung über den Wortlaut von § 544 Abs. 7 Satz 2 ZPO und § 719 Abs. 2 ZPO hinaus zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes bereits während der Dauer des Verfahrens auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine von einem beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt noch einzulegende Nichtzulassungsbeschwerde zulässig sein kann, bedarf hier keiner Entscheidung (vgl. Senatsbeschlüsse vom 31. Januar 2023 - VIII ZA 27/22, WuM 2023, 303 Rn. 6; vom 26. September 2018 - VIII ZR 290/18, NJW-RR 2019, 72 Rn. 5 mwN).
Rz. 8
c) Denn der Antrag der Beklagten auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung ist jedenfalls unbegründet. Nach § 719 Abs. 2 ZPO kann das Revisionsgericht die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung aus einem für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteil anordnen, wenn die Vollstreckung dem Schuldner einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde und nicht ein überwiegendes Interesse des Gläubigers entgegensteht. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
Rz. 9
aa) Nicht unersetzlich sind Nachteile, die der Schuldner selbst vermeiden kann. Deswegen kann er sich nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur dann darauf berufen, die Zwangsvollstreckung bringe ihm einen nicht zu ersetzenden Nachteil, wenn er in der Berufungsinstanz einen Vollstreckungsschutzantrag nach § 712 ZPO gestellt hat. Hat der Schuldner dies versäumt, kommt eine Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 719 Abs. 2 ZPO nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn es dem Schuldner im Berufungsverfahren aus besonderen Gründen nicht möglich oder nicht zumutbar war, einen Vollstreckungsschutzantrag zu stellen (st. Rspr.; vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 10. Mai 2023 - VIII ZR 23/23, juris Rn. 6; vom 7. Dezember 2018 - VIII ZR 146/18, NJW-RR 2019, 589 Rn. 5; vom 26. September 2018 - VIII ZR 290/18, aaO Rn. 7; jeweils mwN).
Rz. 10
Die Beklagten haben in der Berufungsinstanz einen Antrag nach § 712 ZPO nicht gestellt. Es ist auch nicht ersichtlich, dass es ihnen nicht möglich oder nicht zumutbar war, einen solchen Antrag zu stellen. Zwar ist die Räumungsklage in erster Instanz abgewiesen worden. Angesichts der von der Klägerin dagegen eingelegten Berufung durften die Beklagten jedoch nicht darauf vertrauen, dass das erstinstanzliche Urteil Bestand hat.
Rz. 11
bb) Dass das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit eine Abwendungsbefugnis nach § 711 ZPO hätte einräumen müssen, weil seine Entscheidung mit der Nichtzulassungsbeschwerde anfechtbar war (§ 522 Abs. 3 ZPO) und somit die - von ihm offensichtlich angenommenen - Voraussetzungen des § 713 ZPO nicht vorlagen, ist unbeachtlich. Ein Vollstreckungsschutzantrag des Beklagten nach § 712 ZPO wäre auch dann nicht entbehrlich gewesen, weil die Abwendungsbefugnis des Schuldners nach § 711 Satz 1 ZPO entfällt, wenn der Gläubiger seinerseits vor der Vollstreckung Sicherheit leistet (vgl. Senatsbeschlüsse vom 7. Dezember 2018 - VIII ZR 146/18, NJW-RR 2019, 589 Rn. 7; vom 27. Februar 2018 - VIII ZR 39/18, WuM 2018, 221 Rn. 9; jeweils mwN; vom 31. Januar 2023 - VIII ZA 27/22, aaO Rn. 10). Denn der bei der Räumungsvollstreckung einer Wohnung regelmäßig drohende unersetzliche Nachteil, der (endgültige) Verlust der Wohnung als der bisherige Lebensmittelpunkt des Schuldners, der wegen zwischenzeitlicher Verfügungen oder Veränderungen durch den Gläubiger meist nicht mehr rückgängig zu machen ist, kann durch eine Abwendungsbefugnis nach § 711 ZPO nicht verhindert werden (Senatsbeschlüsse vom 7. Dezember 2018 - VIII ZR 146/18, aaO; vom 31. Januar 2023 - VIII ZA 27/22, aaO; vom 10. Mai 2023 - VIII ZR 23/23, juris Rn. 7).
Rz. 12
cc) Eine einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung kommt zudem dann nicht in Betracht, wenn das Rechtsmittel keine Aussicht auf Erfolg hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 7. März 2017 - VIII ZR 262/16, WuM 2017, 293 Rn. 2 mwN; vom 26. September 2018 - VIII ZR 290/18, NJW-RR 2019, 72 Rn. 9; vom 25. August 2020 - VIII ZR 59/20, NJW-RR 2020, 1275 Rn. 6; vom 16. Oktober 2019 - XII ZR 101/19, juris Rn. 9; vom 25. Mai 2022 - XII ZR 8/22, juris Rn. 5; vom 9. Februar 2023 - V ZA 3/23, juris Rn. 3). So verhält es sich hier. Einer Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten fehlt es an der für eine Einstellung der Zwangsvollstreckung erforderlichen Erfolgsaussicht. Das Berufungsurteil lässt auch unter Berücksichtigung der Begründung des Prozesskostenhilfeantrags keinen der in § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO geregelten Gründe für die Zulassung der Revision erkennen. Die Sache wirft insbesondere hinsichtlich der Verteilung der Darlegungs- und Beweislast bei einer Mietminderung wegen Schimmelbildung und Feuchtigkeitsmängeln keine Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf; eine Entscheidung des Revisionsgerichts ist auch nicht zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Von einer näheren Begründung der Entscheidung wird auch in diesem Verfahrensstadium in entsprechender Anwendung der Vorschrift des § 544 Abs. 6 Satz 2 ZPO abgesehen.
Rz. 13
2. Die begehrte Prozesskostenhilfe für eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Berufungsurteil ist zu versagen.
Rz. 14
a) Der Senat kann auch über den Antrag des Beklagten zu 2 auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe entscheiden, denn das Prozesskostenhilfeverfahren wird von der durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 240 Satz 1 ZPO eingetretenen Verfahrensunterbrechung nicht erfasst (BGH, Beschlüsse vom 4. Mai 2006 - IX ZA 26/04, NJW-RR 2006, 1208 Rn. 1; vom 17. Mai 2006 - VIII ZB 15/06, juris Rn. 1; vom 8. Januar 2008 - VIII ZB 18/06, NJW-RR 2008, 595 Rn. 2; vom 2. Juni 2022 - III ZA 23/21, juris Rn. 2).
Rz. 15
b) Der Antrag der Beklagten auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des Berufungsgerichts ist abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Rz. 16
3. Der bei dem Bundesgerichtshof nach § 721 Abs. 3 ZPO gestellte Antrag auf Verlängerung der in dem Berufungsurteil bestimmten Räumungsfrist hat keinen Erfolg. Für diesen Antrag ist nach § 721 Abs. 4 Satz 1 ZPO nach Abschluss des Berufungsverfahrens wieder das Prozessgericht erster Instanz zuständig. Das gilt auch, wenn die Sache bei dem Revisionsgericht anhängig ist. Die Regelung in § 721 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 2 ZPO, wonach während des Berufungsverfahrens das Berufungsgericht zuständig ist, ist auf das Revisions- und das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nicht übertragbar (BGH, Beschlüsse vom 27. Juni 1990 - XII ZR 73/90, NJW 1990, 2823; vom 24. April 2014 - V ZR 74/14, WuM 2014, 354 Rn. 8; vom 30. November 2021 - VIII ZR 81/20, juris Rn. 44).
Dr. Bünger |
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Kosziol |
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Dr. Liebert |
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Dr. Schmidt |
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Wiegand |
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Fundstellen
Dokument-Index HI15862577 |