Leitsatz (amtlich)
Eine ergänzende Zulassung der Rechtsbeschwerde analog § 321a ZPO ist möglich, wenn in der Beschwerdeentscheidung durch willkürliche Nichtzulassung Verfahrensgrundrechte des Beschwerdeführers verletzt worden sind.
Normenkette
ZPO §§ 321a, 574 Abs. 1 Nr. 2 (1.1.2002)
Verfahrensgang
LG Lüneburg (Beschluss vom 03.07.2002; Aktenzeichen 8 T 52/02) |
AG Uelzen |
Tenor
1. Der Gläubigerin wird auf ihre Kosten Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 8. Zivilkammer des LG Lüneburg v. 3.7.2002 in Verbindung mit dem Beschluss v. 2.8.2002 gewährt.
2. Auf die Rechtsbeschwerde der Gläubigerin wird der Beschluss der 8. Zivilkammer des LG Lüneburg (Einzelrichter) v. 3.7.2002 i.V.m. dem Beschluss v. 2.8.2002 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das LG zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die Gläubigerin betreibt aus zwei Urteilen des AG Uelzen, zwei Beschlüssen des AG Essen und einer Urkunde des Jugendamts Uelzen gegen den Schuldner die Zwangsvollstreckung wegen laufender und rückständiger Unterhaltsansprüche. Durch Pfändungs- und Überweisungsbeschluss v. 17.4.2002 setzte das AG Uelzen den Pfändungsfreibetrag auf 573,67 EUR anstelle beantragter 300 EUR fest. Die sofortige Beschwerde hiergegen verwarf das LG Lüneburg durch Beschluss v. 3.7.2002. Dieser wurde der Gläubigerin am 9.7.2002 zugestellt. Die am 23.7.2002 beim LG eingegangene Gegenvorstellung, mit der die Gläubigerin weiterhin die Herabsetzung des pfandfreien Betrages erstrebte, wies das LG durch Beschluss v. 2.8.2002 zurück; zugleich ließ es die Rechtsbeschwerde gegen seinen Beschluss v. 3.7.2002 zu.
Der Gläubigerin wurde durch Beschluss des Senats v. 5.5.2003 - IXa ZA 2/03, der ihr am 22.5.2003 zugestellt wurde, für die Rechtsbeschwerde gegen den vorgenannten Beschluss des LG Lüneburg Prozesskostenhilfe gewährt. Der Verfahrensbevollmächtigte der Gläubigerin hat mit seinem am selben Tage beim BGH eingegangenen Schriftsatz v. 2.6.2003 Rechtsbeschwerde eingelegt, diese begründet und beantragt, der Gläubigerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen zu gewähren.
II.
Der Gläubigerin ist auf ihren innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 ZPO gestellten Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde zu gewähren, da sie ohne ihr Verschulden, nämlich wegen ihrer Mittellosigkeit, verhindert war, die Fristen zur Einlegung und Begründung der Rechtsbeschwerde einzuhalten (§ 233 ZPO).
III.
Die Rechtsbeschwerde ist statthaft.
1. Die Rechtsbeschwerde ist nicht deshalb unzulässig, weil sich die Gläubigerin in einer privatschriftlichen Vereinbarung v. 20.9.2003 zur Rücknahme der Rechtsbeschwerde verpflichtet hat. Wesentlicher Teil dieser Vereinbarung ist der unter Ziff. 5 getroffene Unterhaltsverzicht für die Zukunft, der nach § 1614 Abs. 1 BGB unwirksam ist. Dies führt trotz der Klausel unter Ziff. 6, wonach im Falle der Unwirksamkeit einer Regelung die restlichen Regelungen weiterhin bestehen bleiben, zur Unwirksamkeit der gesamten Vereinbarung.
2. Soweit der Schuldner vorträgt, das Rechtsschutzbedürfnis der Gläubigerin sei entfallen, weil das der Lohnpfändung zu Grunde liegende Arbeitsverhältnis längst beendet sei, ist dieser Vortrag unbeachtlich, weil er nicht durch einen beim BGH zugelassenen Anwalt erfolgt ist. Unter den Anwaltszwang fallen alle verfahrensgestaltenden Handlungen, auch bestimmende und vorbereitende Schriftsätze (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 24. Aufl., § 78 Rz. 9). Aus den Schriftsätzen des Verfahrensbevollmächtigten der Gläubigerin ergibt sich kein Anhalt dafür, dass das Rechtsschutzinteresse entfallen sein könnte.
3. Die Voraussetzungen des § 574 Abs. 1 Nr. 2 ZPO liegen vor. An sich muss zwar die Rechtsbeschwerde in dem Beschluss, mit dem über die sofortige Beschwerde entschieden wurde, sei es im Tenor oder in den Gründen, ausdrücklich zugelassen sein (vgl. BGH, Beschl. v. 11.7.2002 - IX ZB 80/02, BGHReport 2002, 945 = MDR 2002, 1449 = ZIP 2002, 1589 [1590], zu II. 2; Beschl. v. 24.11.2003 - II ZB 37/02, MDR 2004, 465 = BGHReport 2004, 477 = BB 2004, 244; OLG Koblenz JurBüro 2002, 437; Zöller/Gummer, ZPO, 24. Aufl., § 574 Rz. 14; Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 25. Aufl., § 574 Rz. 7). Eine Ergänzungsentscheidung entsprechend § 321 ZPO ist grundsätzlich unzulässig. Jedoch ist eine ergänzende Zulassung der Rechtsbeschwerde analog § 321a ZPO möglich, wenn in der Beschwerdeentscheidung Verfahrensgrundrechte des Beschwerdeführers verletzt wurden.
a) Nach der neueren Rechtsprechung des BGH ist die Verletzung eines Verfahrensgrundrechts durch eine Beschlussentscheidung von dem Gericht, das sie begangen hat, auf Gegenvorstellung zu beheben, selbst wenn der Beschluss nach Prozessrecht unabänderlich ist, weil Entscheidungen, die unter Verletzung eines Verfahrensgrundrechts ergangen sind, auf eine Verfassungsbeschwerde hin aufzuheben wären und damit letztlich keine Bestandskraft entfalten können (BGH v. 7.3.2002 - IX ZB 11/02, BGHZ 150, 133 = BGHReport 2002, 431 = MDR 2002, 901; v. 20.6.1995 - XI ZB 9/95, BGHZ 130, 97 = MDR 1996, 195; Beschl. v. 25.11.1999 - IX ZB 95/99, MDR 2000, 291 = NJW 2000, 590). Diese Rechtsprechung, der sich das BVerwG (NJW 2002, 2657) und der BFH (BFH v. 5.12.2002 - IV B 190/02, NJW 2003, 919) angeschlossen haben, ist durch die Entscheidung des Plenums des BVerfG v. 30.4.2003 (BVerfG v. 30.4.2003 - 1 PBvU 1/02, MDR 2003, 886 = NJW 2003, 1924) für den gegenwärtigen Zeitpunkt bestätigt worden. Zwar genügen danach die von der Rechtsprechung teilweise außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffenen außerordentlichen Rechtsbehelfe nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit. In der Übergangszeit bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, die bis zum 31.12.2004 zu erfolgen hat, kann die bisherige Rechtslage jedoch unter Einschluss der von der Rechtsprechung entwickelten außerordentlichen Rechtsbehelfe hingenommen werden (BVerfG v. 30.4.2003 - 1 PBvU 1/02, MDR 2003, 886 = NJW 2003, 1924 [1929]; v. 7.10.2003 - 1 BvR 10/99, NJW 2003, 3687 [3688]).
b) Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung des BGH durfte das LG seinen Beschluss v. 3.7.2002 in analoger Anwendung des § 321a ZPO abändern und die Rechtsbeschwerde zulassen. Die Gläubigerin hat die Gegenvorstellung rechtzeitig erhoben und die Verletzung eines Verfahrensgrundrechts gerügt. Zwar stellt die Gläubigerin in der Gegenvorstellung in erster Linie auf eine Verletzung des in Art. 103 Abs. 1 GG enthaltenen Grundrechts auf rechtliches Gehör ab; durch den ausdrücklichen Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde hat sie aber auch einen Verstoß gegen das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) geltend gemacht. Eine Verletzung dieses Verfahrensgrundrechts liegt hier auch vor.
Das Beschwerdegericht hat gegen das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters verstoßen. Es hat in seinem Ersten Beschluss v. 3.7.2002 zur Begründung ausgeführt, dass die Bemessung des notwendigen Unterhalts in der Praxis der Gerichte unterschiedlich gehandhabt werde. Danach drängte sich die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache für die Gerichtspraxis förmlich auf. Der Einzelrichter hätte deshalb das Verfahren zur Entscheidung auf die Kammer übertragen müssen, § 568 S. 2 ZPO (vgl. BGH, Beschl. v. 13.3.2003 - IX ZB 134/02, BGHZ 154, 200 = MDR 2003, 588 = BGHReport 2003, 627 = NJW 2003, 1254). Durch seine Entscheidung in der Sache ist die Rechtsbeschwerdeführerin ihrem gesetzlichen Richter entzogen worden. Jedenfalls hätte der Einzelrichter bereits in dem ersten Beschluss die Rechtsbeschwerde zulassen müssen, als er seine Verpflichtung übersah, die Sache der Kammer vorzulegen. Denn die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO lagen unzweifelhaft vor. Im vergleichbaren Fall der Revision verstößt die Entscheidung eines Gerichts, die Revision nicht zuzulassen, wenn sie willkürlich ist, nach der Rechtsprechung des BVerfG gegen die Gewährleistung des gesetzlichen Richters in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG (BVerfG v. 7.1.2004 - 1 BvR 31/01 m.w.N.). Auf die in der Sache vergleichbare Zulassung der Rechtsbeschwerde hatte die Gläubigerin demgemäß unter dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Richters einen Anspruch. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und die Verletzung des Verfahrensgrundrechts hat der Einzelrichter auf die Gegenvorstellung der Gläubigerin zumindest insoweit erkannt, als er die Rechtsbeschwerde nunmehr im Zweiten Beschluss v. 2.8.2002 zugelassen hat.
Dieser Auffassung stehen die Entscheidungen des IX. Zivilsenats v. 11.7.2002 und des II. Zivilsenats v. 24.11.2003 (BGH, Beschl. v. 11.7.2002 - IX ZB 80/02, BGHReport 2002, 945 = MDR 2002, 1449 = ZIP 2002, 1589 [1590], zu II. 2; Beschl. v. 24.11.2003 - II ZB 37/02, MDR 2004, 465 = BGHReport 2004, 477 = BB 2004, 244) nicht entgegen. Sie befassen sich nur mit der allgemeinen Regel des § 321 ZPO. Hier liegt demgegenüber der besondere Fall der Verletzung eines Verfahrensgrundrechtes vor, wie sie der Gesetzgeber für den Verstoß gegen das rechtliche Gehör ausdrücklich in § 321a ZPO geregelt hat. Mit dieser Frage befassen sich die genannten Entscheidungen nicht. Im Übrigen war im Fall der Entscheidung des II. Zivilsenats v. 24.11.2003 die 2-Wochen-Frist des § 321 ZPO und des § 321a ZPO nicht gewahrt.
IV.
Entscheidet der Einzelrichter in einer Sache, der er rechtsgrundsätzliche Bedeutung beimisst, über die Beschwerde und lässt die Rechtsbeschwerde - wenn auch erst auf Gegenvorstellung - zu, so ist die Entscheidung auf die Rechtsbeschwerde wegen fehlerhafter Besetzung des Beschwerdegerichts von Amts wegen aufzuheben (vgl. BGH, Beschl. v. 13.3.2003 - IX ZB 134/02, BGHZ 154, 200 = MDR 2003, 588 = BGHReport 2003, 627 = NJW 2003, 1254).
Für die Neuentscheidung des LG weist der Senat hin auf seinen Beschluss v. 18.7.2003 (BGH v. 18.7.2003 - IXa ZB 151/03, BGHZ 156, 30 = BGHReport 2003, 1237 = MDR 2004, 53 = NJW 2003, 2918).
Fundstellen
NJW 2004, 2529 |
BGHR 2004, 1306 |
FamRZ 2004, 1278 |
ZAP 2004, 1026 |
InVo 2005, 15 |
MDR 2004, 1254 |
JWO-FamR 2004, 281 |
ProzRB 2004, 271 |