Normenkette
BGB § 2247 Abs. 4
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde des Beklagten wird die Revision gegen das Urteil des Oberlandesgerichts München - 33. Zivilsenat - vom 19. April 2021 zugelassen.
Das vorbezeichnete Urteil wird gemäß § 544 Abs. 9 ZPO aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 50.000 €
Gründe
Rz. 1
I. Die Klägerin macht gegen den Beklagten, testamentarischer Erbe der am 28. August 2016 im Alter von 94 Jahren verstorbenen Erblasserin, Ansprüche aus einem Vermächtnis geltend. Am 20. August 2016 errichtete die Erblasserin ein Schriftstück, in dem sie verfügte, dass die Klägerin "von meinem Vermögen 50.000 € erben..." solle. Der Beklagte macht geltend, die letztwillige Verfügung sei gemäß § 2247 Abs. 4 BGB unwirksam, weil die Erblasserin im Zeitpunkt der Verfassung des Schriftstücks nicht mehr lesefähig gewesen sei.
Rz. 2
II. Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens der Sachverständigen F. vom 16. März 2020. Mit Urteil vom 29. September 2020 hat es der Klage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Sachverständige ergänzend angehört sowie Zeugen vernommen. Mit dem angefochtenen Urteil hat es die Berufung zurückgewiesen. Nach seiner Auffassung hat der Beklagte nicht den Beweis erbringen können, dass die Erblasserin wegen Leseunfähigkeit testierunfähig gewesen sei. Dies ergebe sich nicht allein aus der Aussage der Zeugin S.. Demgegenüber ergebe sich aus der Aussage des Zeugen P., dass die Erblasserin noch im August 2016 mehrere Schriftstücke eigenhändig unterschrieben habe. Schließlich habe die Sachverständige überzeugend erläutert, dass keine Zweifel an der Lesefähigkeit der Erblasserin zur Zeit der Errichtung des Testaments bestanden hätten. Einer weiteren Beweisaufnahme habe es nicht bedurft. Für die Einvernahme der Zeugin W. gelte dies bereits deshalb, weil die Beweisbehauptungen des Beklagten nicht entscheidungserheblich seien und es sich im Übrigen um reine Schlussfolgerungen handele.
Rz. 3
III. Die Beschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die angefochtene Entscheidung verletzt den Anspruch des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Er rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht dem Beweisantrag auf Vernehmung der Zeugin W. hätte nachgehen und eine Ergänzung des Sachverständigengutachtens hätte veranlassen müssen.
Rz. 4
1. Gemäß § 2247 Abs. 4 BGB kann derjenige, der Geschriebenes nicht zu lesen vermag, kein eigenhändiges Testament errichten. Die Darlegungs- und Beweislast für die mangelnde Lesefähigkeit des Erblassers trägt grundsätzlich derjenige, der sich auf diesen Einwand beruft (OLG Hamburg ZErb 2016, 186 [juris Rn. 47]; OLG Dresden, Beschluss vom 12. Januar 2015 - 17 W 1341/14, juris Rn. 6; OLG Düsseldorf OLGR 2000, 240 [juris Rn. 126]; BayObLG FamRZ 1987, 1199, 1200). Kann die Beweisaufnahme keine Klarheit hierüber erbringen, so ist vom Regelfall auszugehen, nämlich der Lesefähigkeit des Testierenden (OLG Hamburg aaO).
Rz. 5
2. Zwar hat das Berufungsgericht diese Grundsätze zutreffend zugrunde gelegt und ist von einer Beweislast des Beklagten ausgegangen. Soweit es sich nach dem Ergebnis der von ihm durchgeführten Beweisaufnahme die Überzeugung gebildet hat, dass der Beklagte den Beweis der Leseunfähigkeit der Erblasserin nicht habe erbringen können, beruht dies aber auf einem Verstoß gegen den Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör. Das Berufungsgericht hat erhebliche Beweisanträge des Beklagten übergangen und den Kern seines Vortrags nicht vollständig zur Kenntnis genommen.
Rz. 6
a) Das Berufungsgericht hat sich den Ausführungen der Sachverständigen angeschlossen, dass keine Zweifel an der Lesefähigkeit der Erblasserin zur Zeit der Errichtung des Testaments bestanden hätten. Insoweit hatte die Sachverständige in ihrem schriftlichen Gutachten vom 16. März 2020 ausgeführt, es ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Erblasserin nicht in der Lage gewesen sei, das Schriftstück vom 20. August 2016 zu lesen. Denn von den verschiedenen Möglichkeiten, die Lesbarkeit der Schrift weiter zu erhöhen, habe sie keinen Gebrauch gemacht. Es habe offenbar nicht die Notwendigkeit bestanden, sich solcher Hilfsmittel zu bedienen (Seite 27 des Gutachtens). Zusammenfassend lasse sich feststellen, die erhobenen Befunde sprächen dafür, dass die Erblasserin mit Hilfe ihrer Brille zum fraglichen Zeitpunkt noch in der Lage gewesen sei, das Vermächtnis vom 20. August 2016 zu lesen. Soweit sich das Berufungsgericht den Ausführungen der Sachverständigen angeschlossen hat, hat es den vom Beklagten mehrfach unter Beweisantritt von Zeugen gehaltenen Vortrag übergangen, dass die Erblasserin im August 2016 keine Brille als Lesehilfe mehr besessen habe (vgl. Schrift-sätze vom 23. Mai 2018, Seite 5; vom 15. September 2020, Seite 2; vom 5. Januar 2021, Seite 6). Die Erblasserin habe auch mit den beiden zuletzt erworbenen Brillen nicht mehr lesen können. Die Zeugin S. habe diese Brillen daher auf ihr Bitten in dem Optikergeschäft zurückgegeben. Zum Ankauf der von der Erblasserin gewünschten Lupenbrille sei es dann in der Folgezeit indessen nicht mehr gekommen. Soweit die Revisionserwiderung vorbringt, die Erblasserin habe nur mit den zuletzt angeschafften Brillen nicht mehr lesen können, kann der Vortrag des Beklagten so nicht verstanden werden. Sollte die Erblasserin im Zeitpunkt der Errichtung des Testaments über keine Brille mehr verfügt haben, wäre den Feststellungen der Sachverständigen in ihrem schriftlichen Gutachten insoweit die Grundlage entzogen.
Rz. 7
Hinzu kommt, dass die Angaben der Sachverständigen anlässlich ihrer Anhörung vor dem Berufungsgericht in teilweisem Widerspruch zu ihren Ausführungen in ihrem schriftlichen Gutachten stehen. So heißt es dort zunächst, die Erblasserin habe keine Lesehilfsmittel mehr gehabt. Sie habe keine Brille mehr gehabt, ihr Sehvermögen sei eingeschränkt gewesen und darum habe sie nicht mehr lesen können. Unmittelbar im folgenden Satz ist dann indessen protokolliert, das Vergleichsmaterial, das ihr - der Sachverständigen - vorgelegt worden sei, sei sehr einheitlich. Darum sei sie davon ausgegangen, dass die Erblasserin das Schriftstück habe lesen können. Diese Ausführungen sind in sich widersprüchlich und mit dem schriftlichen Gutachten, in dem die Sachverständige noch die Benutzung einer Brille zugrunde gelegt hatte, nicht zu vereinbaren. Auf diese unterschiedlichen Ausführungen und Feststellungen der Sachverständigen ist das Berufungsgericht nicht eingegangen. Bereits insoweit hätte es den Sachverhalt weiter aufklären müssen.
Rz. 8
b) Ebenfalls unter Verstoß gegen den Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör hat es das Berufungsgericht unterlassen, die von diesem benannte Zeugin W. zu vernehmen. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die in die Kenntnis der Zeugin gestellten Beweisbehauptungen seien teilweise nicht entscheidungserheblich für eine behauptete Leseunfähigkeit im Sinne von § 2247 Abs. 4 BGB, teilweise handele es sich um keine Tatsachenbehauptungen, sondern lediglich um die Schlussfolgerung der Zeugin, die Erblasserin habe nicht mehr lesen können. Insoweit hat das Berufungsgericht indessen entscheidungserheblichen Vortrag des Beklagten nicht bzw. nicht hinreichend berücksichtigt. Der Beklagte hat vorgetragen (vgl. u.a. Schriftsätze vom 23. Mai 2018, Seite 6; vom 24. Oktober 2018, Seite 6; vom 25. Juli 2019, Seite 5; vom 5. Januar 2021, Seiten 6 f.),
- die Erblasserin habe wegen extrem eingeschränkter Sehfähigkeit ab August 2016 den Schlüssel aus ihrem Portemonnaie nicht mehr in das Schloss des Bürotresors einführen können,
- sie habe nicht mehr erkennen können, welche Geldscheine sich in ihrem Portemonnaie befanden,
- sie habe sich wegen eingeschränkter Sehfähigkeit nicht mehr ohne stützende Begleitperson in der Wohnung bewegen können,
- sie habe die Tabletten sowie die Speisen auf ihrem Teller nicht mehr erkennen können, sondern abtasten müssen, weil sie diese nicht mehr nach Form und Farbe erkannt habe,
- die Zeugin W. habe gegenüber der Zeugin S. am 21. August 2016 erklärt, dass die Erblasserin bereits seit einigen Wochen nicht mehr habe lesen oder schreiben können.
Rz. 9
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts geht es hier nicht um reine Schlussfolgerungen der Zeugin W., sondern um konkret von dieser gemachte Beobachtungen. Diese können erheblich für die von der Sachverständigen zu beurteilende Frage der Leseunfähigkeit der Erblasserin sein.
Rz. 10
IV. Die Sache war daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, welches die erforderlichen Beweise zu erheben haben wird.
Mayen |
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Prof. Dr. Karczewski |
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Dr. Brockmöller |
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Dr. Götz |
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Rust |
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Fundstellen
Haufe-Index 15024221 |
ZAP 2022, 60 |
ZEV 2022, 19 |
ZErb 2022, 61 |