Verfahrensgang
OLG Dresden (Entscheidung vom 08.07.2022; Aktenzeichen 1 U 830/22) |
LG Dresden (Entscheidung vom 05.04.2022; Aktenzeichen 5 O 2550/20) |
Tenor
Die Rechtsbeschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 8. Juli 2022 - 1 U 830/22 - wird auf deren Kosten als unzulässig verworfen.
Streitwert: 78.400 €
Gründe
I.
Rz. 1
Die Klägerin nimmt den beklagten Freistaat nach einer Beschlagnahme, Pfändung und Einziehung von Bargeld auf Schadensersatz in Anspruch.
Rz. 2
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das klageabweisende Urteil ist den erstinstanzlichen Bevollmächtigten der Klägerin am 8. April 2022 zugestellt worden. Mit am 3. Mai 2022 beim Oberlandesgericht eingegangenem Schriftsatz ihres zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten hat die Klägerin gegen dieses Urteil Berufung eingelegt. In einem weiteren Schriftsatz vom 10. Mai 2022 hat dieser Folgendes ausgeführt:
"In dem Rechtsstreit …
beantragt der Unterzeichner Akteneinsicht.
Der Unterzeichner hat das Verfahren von einem Kollegen übernommen und zur Erstellung der Berufungsbegründung wäre es erforderlich, dass der Unterzeichner in die Prozessakten Akteneinsicht erhält. Aus dem Urteil ist bekannt, dass offensichtlich auch ein Ermittlungsverfahren hier eine Rolle spielt. Deshalb wäre es auch erforderlich, dass der Unterzeichner Akteneinsicht in die Ermittlungsakten erhält. Diese Feststellungen in dem Ermittlungsverfahren haben offensichtlich auch Einfluss auf die Entscheidung des angefochtenen Urteils gefunden. Auch diese Akten müssten noch ausgewertet werden.
Der Unterzeichner beantragt deshalb, die Akten des Ermittlungsverfahrens beizuziehen und nach Vorlage dieser Ermittlungsakten dem Unterzeichner ebenfalls Akteneinsicht in diese Ermittlungsakten zu gewähren.
Der Unterzeichner kündigt aus diesem Grund bereits jetzt an, dass die Frist zur Begründung der Berufung verlängert werden muss."
Rz. 3
Die erstinstanzliche Verfahrensakte ist am 10. Juni 2022 beim Berufungsgericht eingegangen. Mit Schriftsatz vom 12. Juni 2022 hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass ihr bisher Akteneinsicht nicht gewährt worden sei. Sie gehe davon aus, dass die reguläre Möglichkeit der Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 3. Juli 2022 durch den Senat gewährt worden sei. Es werde nunmehr, da Akteneinsicht in die erstinstanzlichen Prozessakten bisher nicht gewährt worden sei, die Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 3. August 2022 beantragt. Das Berufungsgericht hat die Klägerin sodann darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, die Berufung als unzulässig zu verwerfen; da ein ausdrücklicher Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist erstmals nach deren Ablauf gestellt worden sei, könne eine Fristverlängerung nicht mehr erfolgen. Zugleich ist angeordnet worden, die erstinstanzliche Verfahrensakte an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin zu übersenden. Mit Schriftsatz vom 16. Juni 2022 hat die Klägerin einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Mit Verfügung vom 20. Juni 2022 hat der Vorsitzende des Berufungssenats den mit Schriftsatz vom 12. Juni 2022 gestellten Antrag der Klägerin auf Fristverlängerung zurückgewiesen, weil eine abgelaufene Berufungsbegründungsfrist nicht verlängert werden könne. Mit Schriftsatz vom 24. Juni 2022 hat die Klägerin die Berufung begründet.
Rz. 4
Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin zurückgewiesen und die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es unter anderem ausgeführt: Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin sei nicht ohne Verschulden an einer fristgerechten Begründung der Berufung gehindert gewesen. Zwar sei der Antrag auf Akteneinsicht mit Schriftsatz vom 10. Mai 2022 rechtzeitig gestellt worden. Das der Klägerin gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbare Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten sei jedoch darin zu sehen, dass vor Fristablauf kein ordnungsgemäßer Antrag auf Fristverlängerung - etwa unter Hinweis auf die nicht gewährte Akteneinsicht - gestellt worden sei, mit dem diese ohne Einwilligung des Beklagten gemäß § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO hätte erfolgen können.
Rz. 5
Der Satz im Schriftsatz vom 10. Mai 2022 "Der Unterzeichner kündigt aus diesem Grunde bereits jetzt an, dass die Frist zur Begründung der Berufung verlängert werden muss" sei nicht als ordnungsgemäßer Antrag im Sinne von § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO zu werten. Zwar seien Fristverlängerungsanträge einer Auslegung zugänglich. Diese führe hier aber eindeutig dazu, dass kein Fristverlängerungsantrag gestellt worden sei. Vielmehr habe der Prozessbevollmächtigte der Klägerin dargelegt, weshalb einem - nach Gewährung der Akteneinsicht - noch zu stellenden Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist seiner Ansicht nach stattgegeben werden müsse. Dies ergebe sich bereits aus dem Wort "angekündigt", welches auf ein künftiges Ereignis hinweise. Zudem setze ein ordnungsgemäßes Fristverlängerungsgesuch zumindest voraus, dass eine Frist genannt werde, um die die Berufungsbegründungsfrist verlängert werden solle. Denn die Fristverlängerung könne nur auf Antrag gewährt werden mit der Folge, dass der Vorsitzende von sich aus keine Verlängerungsfrist bestimmen könne. Eine allgemeine Vermutung, dass der Berufungskläger stets die Maximalfristverlängerung nach § 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO begehre, gebe es nicht.
Rz. 6
Eine Fristverlängerung sei der Klägerin auch nicht nach den Grundsätzen des fairen Verfahrens zu gewähren.
Rz. 7
In der Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand liege auch keine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte im Hinblick auf die nicht gewährte Akteneinsicht ohne Weiteres eine erstmalige einmonatige Fristverlängerung beantragen und zugleich an die Akteneinsicht erinnern können. Darin seien keine überspannten verfahrensrechtlichen Anforderungen zu sehen.
Rz. 8
Mit ihrer hiergegen erhobenen Rechtsbeschwerde begehrt die Klägerin, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und nach ihren zuletzt gestellten Anträgen zu erkennen, hilfsweise die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
II.
Rz. 9
Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.
Rz. 10
1. Die nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthafte und auch den Form- und Fristerfordernissen genügende Rechtsbeschwerde ist unzulässig. Denn die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO, die auch bei einer Rechtsbeschwerde gegen einen die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss gewahrt sein müssen (stRspr, zB Senat, Beschluss vom 26. August 2021 - III ZB 9/21, NJW-RR 2022, 204 Rn. 9; BGH, Beschluss vom 16. November 2021 - VIII ZB 70/20, NJW-RR 2022, 201 Rn. 9 mwN), sind nicht erfüllt. Die Rechtssache wirft weder entscheidungserhebliche Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf, noch erfordert sie eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung. In Sonderheit verletzt der angefochtene Beschluss die Klägerin nicht in ihren Ansprüchen auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip), auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) und auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG).
Rz. 11
2. Eine Verletzung der vorgenannten Verfahrensgrundrechte liegt nicht vor, denn das Oberlandesgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag der Klägerin mit Recht zurückgewiesen. Ihr Prozessbevollmächtigter hat die Frist zur Begründung der Berufung schuldhaft versäumt. Das der Klägerin gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnende Verschulden ihres Bevollmächtigten ist darin zu sehen, dass er vor Ablauf der Frist keinen Antrag auf Fristverlängerung nach § 520 Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO gestellt hat. Denn ein Rechtsanwalt muss, wenn er erkennt, dass er eine Frist zur Rechtsmittelbegründung nicht einhalten kann, durch einen rechtzeitig gestellten Antrag auf Fristverlängerung dafür Sorge tragen, dass ein Wiedereinsetzungsgesuch gar nicht erst notwendig wird (BGH, Beschluss vom 16. November 2021 aaO Rn. 15; vgl. außerdem BGH, Beschlüsse vom 7. Februar 2013 - V ZB 176/12, juris Rn. 9 f und 13 und vom 9. Februar 2022 - XII ZB 474/21, NJW 2022, 1325 Rn. 11). Einen solchen Antrag enthält der Schriftsatz vom 10. Mai 2022, wie das Berufungsgericht zutreffend gewürdigt hat, entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde nicht.
Rz. 12
a) Prozessuale Erklärungen einer Partei kann der Bundesgerichtshof uneingeschränkt nachprüfen und selbst auslegen. Dabei darf die Auslegung auch im Prozessrecht nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks haften, sondern hat den wirklichen Willen der Partei zu erforschen. Bei der Auslegung von Prozesserklärungen ist der Grundsatz zu beachten, dass im Zweifel dasjenige gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der wohlverstandenen Interessenlage entspricht (zB Senat, Versäumnisurteil vom 6. Juni 2019 - III ZR 83/18, juris Rn. 8; BGH, Urteile vom 17. Mai 2000 - VIII ZR 210/99, NJW 2000, 3216, 3217; vom 16. Mai 2017 - XI ZR 586/15, WM 2017, 1258 Rn. 11; Beschlüsse vom 10. Juni 2003 - VIII ZB 126/02, NJW 2003, 3418, 3419; vom 8. Juli 2021 - I ZR 196/15, NJW-RR 2021, 1653 Rn. 14 und vom 13. Dezember 2022 - VIII ZB 43/22, juris Rn. 10 f; jew. mwN). Soweit irgend möglich, soll die Klärung materieller Rechtsfragen durch Formvorschriften nicht beeinträchtigt werden (BGH, Urteil vom 17. Mai 2000 aaO). Dieser Grundsatz muss allerdings mit dem öffentlichen Interesse an Klarheit über die Rechtsbeständigkeit gerichtlicher Entscheidungen in Einklang gebracht und auch unter dem Gesichtspunkt eingeschränkt werden, dass mit einer Prozesshandlung der einen Partei regelmäßig erhebliche Folgen für die andere Partei verbunden sind, die es in ihren berechtigten Interessen zu schützen gilt (vgl. BGH aaO). Bei der hiernach erforderlichen Prüfung der Willensrichtung des Berufungsklägers kommt es allein auf dessen erklärten, nach außen hervorgetretenen Willen im Zeitpunkt der Einreichung des Schriftsatzes an; "klarstellende" Parteierklärungen nach Ablauf der Begründungsfrist bleiben unberücksichtigt (BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2022 aaO Rn. 11 mwN).
Rz. 13
b) Die Auslegung des Schriftsatzes des (zweitinstanzlichen) Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 10. Mai 2022 nach diesen Maßstäben führt zu dem Ergebnis, dass darin kein Fristverlängerungsantrag nach § 520 Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO sondern nur ein Antrag auf Akteneinsicht - in die Verfahrensakte erster Instanz und in Ermittlungsakten - enthalten ist. Dafür sprechen der klare Wortlaut und die Gliederung des Schriftsatzes. In den ersten drei Absätzen wird Akteneinsicht ausdrücklich schon "beantragt", im vierten und letzten Absatz jedoch "kündigt" der Unterzeichner die Notwendigkeit einer Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist lediglich "bereits jetzt an". Die Formulierung "kündigt" an bedeutet bereits dem allgemeinen Wortlaut nach, dass die in Aussicht genommene Fristverlängerung erst künftig beantragt werden soll. Hinzu kommt, dass es sich bei dem Unterzeichner des Schriftsatzes um einen Rechtsanwalt handelt; vor Zivilgerichten tätige Rechtsanwälte kennen indes den Unterschied und wissen zwischen einer Antragstellung und einer bloßen Ankündigung eines Antrags zu differenzieren. Infolgedessen vermag sich der Senat - auch unter Einbeziehung der weiteren von der Rechtsbeschwerde vorgetragenen Argumente (Rechtsbeschwerdebegründung, Seiten 2 bis 6) - nicht davon zu überzeugen, dass der nach außen kundgetane wirkliche Wille (des Prozessbevollmächtigten) der Klägerin schon am 10. Mai 2022 dahingegangen ist, (auch) einen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist zu stellen. Von einer (konkludenten) Stellung eines Fristverlängerungsantrags bereits mit Eingang des Schriftsatzes vom 10. Mai 2022 beim Berufungsgericht kann daher nicht ausgegangen werden.
Rz. 14
c) Da der im Schriftsatz vom 12. Juni 2022 enthaltene Fristverlängerungsantrag erst nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am 8. Juni 2022 beim Berufungsgericht eingegangen ist, trifft den seinerzeitigen Prozessbevollmächtigten der Klägerin das - ihr zuzurechnende (§ 85 Abs. 2 ZPO) - schuldhafte Versehen, nicht rechtzeitig einen Antrag auf Fristverlängerung gestellt zu haben. Einen solchen anzubringen, wäre ihm jedoch ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen, weil an die Begründung des ersten Antrags auf Fristverlängerung keine hohen Anforderungen gestellt werden und er mit dessen positiver Verbescheidung hätte rechnen dürfen (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Februar 2013 aaO Rn. 10 und 13).
Herrmann |
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Fundstellen
Dokument-Index HI15745592 |