Entscheidungsstichwort (Thema)
Ansprüche aus Unfalltod-Zusatzversicherung. Unrichtige Feststellung der Blutalkoholkonzentration. Antrag auf Sachverständigengutachten. Hinwegsetzung ohne ausreichende Sachkunde des Gerichts. Verfahrensfehler
Leitsatz (amtlich)
Wird zur Bestimmung des Blutalkoholgehalts Leichenblut aus dem Herzen einer Leiche entnommen, so muß der Tatrichter prüfen, ob das Analyseergebnis durch Diffusion von Trinkalkohol oder Zersetzungsstoffen aus Magen und Darm beeinflußt sein kann. Dazu bedarf er im Regelfall sachverständiger Hilfe (Fortführung des Urteils vom 20. April 1988 – IVa ZR 269/88 – VersR 1988, 690).
Normenkette
ZPO § 286; AUB 88 § 2 I (1)
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 13. Juli 2001 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin, Mutter des bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückten Versicherungsnehmers, fordert als Bezugsberechtigte vom beklagten Versicherer Leistungen in Höhe von 79.361 DM nebst Zinsen aus der (neben einer Kapitallebensversicherung abgeschlossenen) Unfalltod-Zusatzversicherung ihres Sohnes. Er war am 1. Februar 1999 gegen 21.00 Uhr mit seinem Pkw auf nasser Fahrbahn von einer Landstraße abgekommen, mehrere Meter durch den Straßengraben gefahren und – während das Fahrzeug zuletzt gegen einen Baumstumpf prallte – schließlich aus dem Auto geschleudert worden. Eine Entnahme von Blut aus dem Oberschenkel der Leiche war nicht mehr möglich. Statt dessen ergab eine aus dem Herzen entnommene Blutprobe nach vier Einzelanalysen (je zwei nach GC- und ADH-Verfahren) einen mittleren Blutalkoholgehalt von 1,03 Promille.
Die Beklagte hält sich für leistungsfrei. Sie beruft sich auf § 3 (2) a ihrer Bedingungen für die Unfalltod-Zusatzversicherung (im wesentlichen gleichlautend mit § 2 I (1) AUB 88), wonach unter anderem Unfälle durch Geistes- oder Bewußtseinsstörungen, auch soweit diese auf Trunkenheit beruhen, nicht unter den Versicherungsschutz fallen. Für eine alkoholbedingte Fahruntauglichkeit als Unfallursache spreche auch, daß der Sohn der Klägerin mit seinem Fahrzeug ohne erkennbaren äußeren Anlaß auf gerader Strecke von der Straße abgekommen sei und das weitere Unfallgeschehen nicht mehr beherrscht habe.
Landgericht und Berufungsgericht haben die Klage abgewiesen. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
1. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte habe den Nachweis für eine unfallursächliche alkoholbedingte Bewußtseinsstörung des Versicherungsnehmers geführt. Das Ausmaß seiner Alkoholisierung ergebe sich aus der Blutalkoholbestimmung. Es sei anerkannt, daß auch eine Analyse von Leichenblut zu zuverlässigen Ergebnissen führe. Zwar müsse nach den „Richtlinien des Bundesgesundheitsministeriums” dabei grundsätzlich die Blutprobe aus einer freigelegten Oberschenkelvene der Leiche entnommen werden, was hier nicht mehr möglich gewesen sei. Doch seien keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, daß die Analyse der statt dessen aus dem Herzen der Leiche entnommenen Blutprobe eine unrichtige Feststellung der Blutalkoholkonzentration ergeben habe. Auch daß der BAK-Wert nach dem Widmark-Verfahren nicht festgestellt sei, ändere daran nichts. Selbst wenn sich eine geringfügige Abweichung zum festgestellten BAK-Wert von 1,03 Promille ergäbe, bestehe die gesicherte Gewißheit, daß der Versicherungsnehmer relativ fahruntauglich und diese Bewußtseinsstörung auch unfallursächlich gewesen sei. Denn es stelle einen typischen alkoholbedingten Fahrfehler dar, daß er nach Durchfahren einer langgezogenen Linkskurve schräg von der danach gerade verlaufenden Fahrbahn abgekommen sei. Äußere Ursachen für diesen Fahrfehler seien nicht ersichtlich. Für einen weiteren Fahrfehler spreche, daß das Fahrzeug erst nach 24 Metern Fahrt die Fahrbahn vollständig verlassen habe und dann in Schräglage weitere 17,80 Meter durch den Straßengraben gefahren sei, ohne daß der Versicherungsnehmer noch Gegenmaßnahmen (Gegenlenken oder Bremsen) zur Verhinderung des Unfalls und Korrektur der Fahrtrichtung ergriffen habe. Für eine alkoholbedingte Enthemmung spreche schließlich, daß der Verunglückte nicht angeschnallt gewesen sei. Einem nüchternen Autofahrer wären diese Fahrfehler nicht passiert.
2. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Berufungsgericht hat sich unter Verstoß gegen die §§ 286, 402, 403 ZPO bei der Feststellung der Alkoholisierung des Verunglückten über einen Antrag der Klägerin auf Einholung eines Sachverständigengutachtens hinweggesetzt, ohne über ausreichende eigene Sachkunde zu verfügen.
a) Allerdings geht es im Ansatz zutreffend davon aus, daß der Versicherer, der sich auf Leistungsfreiheit wegen unfallursächlicher alkoholbedingter Bewußtseinsstörung des Versicherungsnehmers beruft, der ihn treffenden Darlegungs- und Beweislast für die zunächst festzustellende Alkoholisierung (vgl. dazu BGH, Urteil vom 24. Februar 1988 – IVa ZR 193/86 – VersR 1988, 733 unter 2) grundsätzlich genügt, wenn er sich auf einen im Ermittlungsverfahren festgestellten Blutalkoholkonzentrationswert beruft (vgl. dazu Grimm, Unfallversicherung 3. Aufl. § 2 AUB Rdn. 12; Knappmann, VersR 2000, 11, 14; OLG Hamm VersR 1995, 949).
b) Die Klägerin hat in ihrer Berufungsbegründung aber Umstände dargelegt, aus denen sich Zweifel an der Aussagekraft der Blutalkoholbestimmung ergeben. Sie hat darauf hingewiesen, daß der Leichnam ihres Sohnes bis zur Blutentnahme dreieinhalb Stunden nach dem Unfall viel Blut verloren hatte und die Blutprobe nicht mehr aus einer Oberschenkelvene entnommen werden konnte, sondern aus dem Herzen entnommen werden mußte, was „den Vorgaben” widersprochen habe. Zur Bekräftigung ihrer Zweifel am Aussagewert der ermittelten Blutalkoholkonzentration hat die Klägerin aus der Ermittlungsakte den Vermerk eines Polizeibeamten zitiert, der wegen der Bewertung des Blutanalyseergebnisses unter anderem darauf hingewiesen hatte, daß die Blutprobe nicht „regelgerecht” entnommen worden sei. Zum Beweis, daß der Polizeibeamte recht habe, hat die Klägerin die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt.
Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung muß der Beweisantritt im Zusammenhang mit den vorangegangenen Ausführungen der Klägerin gesehen werden. Danach ergibt sich, daß er darauf abzielte, die Aussagekraft der Blutalkoholbestimmung mit sachverständiger Hilfe in Zweifel zu ziehen.
c) Das Berufungsgericht hätte das beantragte Sachverständigengutachten einholen müssen, denn die Gründe des Berufungsurteils weisen nicht aus, daß der Tatrichter statt dessen über ausreichende eigene Sachkunde zu Fragen der Entnahme und Untersuchung von Leichenblut verfügte.
Sowohl nach Nr. 9 c des von den Bundesländern 1977 vereinbarten „Gemeinsamen Erlasses über die Feststellung von Alkohol im Blut bei Straftaten und Ordnungswidrigkeiten” (zuletzt abgedruckt bei Mühlhaus/Janiszewski, StVO 13. Aufl. 4. Teil E § 316 StGB Rdn. 40) als auch nach Ziffer 3.5.1 der von den Bundesländern später vereinbarten „Richtlinien über die Feststellung von Alkohol-, Medikamenten- und Drogeneinfluß bei Straftaten und Ordnungswidrigkeiten sowie für die Sicherstellung und Beschlagnahme von Fahrausweisen” (RiBA, die seit 1995 von den Bundesländern als entsprechende Erlasse umgesetzt worden sind; abgedruckt bei Janiszewski/Jagow/Burmann, StVO 16. Aufl. 4. Teil E § 316 StGB Rdn. 40) ist Leichenblut für Untersuchungszwecke grundsätzlich aus einer freigelegten Oberschenkelvene zu entnehmen. Der Bundesgerichtshof hat bereits in seiner Entscheidung vom 20. April 1988 (IVa ZR 269/88 – VersR 1988, 690 unter 1) dargelegt, Zweck der Regel sei es, eine Verunreinigung der Blutprobe, etwa durch Trinkalkohol aus dem Magen oder Fäulniserscheinungen aus dem Darm, auszuschließen.
Ob bei dem Sohn der Klägerin eine Diffusion des vor dem Unfall getrunkenen Biers aus dem Magen oder Darm in die Herzgegend stattgefunden haben kann, ob sie insbesondere durch innere Verletzungen begünstigt worden ist, so daß die aus dem Herzen entnommene Blutprobe durch Trinkalkohol verunreinigt sein könnte, hat das Berufungsgericht nicht erörtert. Seine Auffassung, es seien keinerlei Anhaltspunkte für eine fehlerhafte BAK-Feststellung erkennbar, zeigt, daß es die Zwecksetzung der vorgenannten Richtlinie nicht erkannt hat und schon deshalb nicht in der Lage gewesen ist, die maßgeblichen Fragen zu stellen. Ausreichende eigene Sachkunde zu den Alkoholfragen ist damit jedenfalls nicht belegt. Sie wird auch durch die – freilich nicht tragende – Annahme des Berufungsgerichts in Frage gestellt, vieles spreche dafür, daß der Sohn der Klägerin – bei einem Rückrechnungswert von 0,1 Promille pro Stunde – in Wahrheit womöglich sogar mehr als 1,1 Promille Alkohol im Blut gehabt habe, weil das Blut dreieinhalb Stunden nach dem Unfall entnommen sei. Das übersieht, daß der Sohn der Klägerin schon bei dem Unfall den Tod fand. Ein Alkoholabbau war danach ausgeschlossen.
Das Berufungsgericht hätte nach allem den geforderten Sachverständigenbeweis zur Aussagekraft des ermittelten BAK-Wertes einholen müssen.
3. Schon das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht, weil nicht ausgeschlossen werden kann, daß das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruht. Die bisherigen Feststellungen des Berufungsurteils zum Trinkverhalten des Verunglückten vor dem Unfall ermöglichen auch keine Blutalkoholberechnung nach der Widmark-Formel. Ohne jede Bestimmung der Alkoholisierung lassen allein die Fahrfehler des Verunglückten einen hinreichend sicheren Rückschluß auf eine alkoholbedingte Fahruntauglichkeit nicht zu.
Unterschriften
Terno, Dr. Schlichting, Seiffert, Dr. Kessal-Wulf, Felsch
Fundstellen
NJW 2002, 3112 |
BGHR 2002, 1054 |
BGHR |
Nachschlagewerk BGH |
DAR 2002, 504 |
MDR 2002, 1247 |
NZV 2002, 516 |
VRS 2002, 365 |
VersR 2002, 1135 |
ZfS 2002, 488 |