Leitsatz (amtlich)
1. Bei einem Fußgänger liegt eine Bewußtseinsstörung im Sinne von §3 Ziff. 5 AUB vor, wenn seine Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit durch Trunkenheit so erheblich geschwächt ist, daß er nicht mehr imstande ist, eine Gefahrenlage wie ein Nüchterner zu erkennen und zu meistern.
2. Stößt einem Unfallversicherten in einem solchen Zustand der Trunkenheit infolge einer Unachtsamkeit, die die typische Auswirkung einer alkoholischen Bewußtseinsstörung ist, ein Unfall zu, so wird der Beweis des ersten Anscheins nicht schon durch die Möglichkeit entkräftet, daß auch ein Nüchterner die gleiche Unachtsamkeit, die zu dem Unfall geführt hat, begehen kann. Der Anscheinsbeweis kann in diesem Fall vielmehr nur dann als entkräftet angesehen werden, wenn konkrete Tatsachen die naheliegende Möglichkeit ergeben, daß auch ein Nüchterner eine solche Gefahrenlage bei Aufwendung üblicher Aufmerksamkeit und Sorgfalt nicht gemeistert hätte.
Normenkette
ZPO § 286; AUB § 3 Ziff. 5
Verfahrensgang
OLG Celle (Entscheidung vom 17.05.1956) |
LG Hannover (Entscheidung vom 19.11.1954) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts in Celle vom 17. Mai 1956 aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 13. Zivilkammer des Landgerichts in Hannover vom 19. November 1954 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin hat auch die weiteren Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Ehemann der Klägerin war bei der Beklagten gegen Unfall mit 9.000,- DM versichert. In der Nacht vom 15. zum 16. Februar 1954 hatte er als Polizeihauptwachtmeister von 19-7 Uhr Dienst. Danach begab er sich in eine Gaststätte, wo er sich mit einer kurzen Unterbrechung bis in die späten Mittagsstunden aufhielt und alkoholische Getränke zu sich nahm. Gegen 15 Uhr ging er zu seiner in der Nähe gelegenen Wohnung. Kurz darauf wurde er im Kellerschacht des Hauses mit schweren Verletzungen aufgefunden, an denen er noch am selben Tag um 18.30 Uhr im Krankenhaus starb. Eine am Abend entnommene Blutprobe ergab einen Blutalkoholgehalt von 2,25 %o. Die Klägerin fordert als Erbin des Verunglückten und Berechtigte aus dem Versicherungsvertrag von der Beklagten die Versicherungssumme. Sie hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie 9.000,- DM nebst Zinsen zu zahlen.
Die Beklagte hat um Klageabweisung gebeten und geltend gemacht, der Unfall sei nach §3 Ziff. 5 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen für Unfallversicherung (AUB) von der Versicherung ausgeschlossen, weil er die Folge einer Bewußtseinsstörung gewesen sei. Der Verunglückte sei nämlich sinnlos betrunken gewesen und infolge dieses Zustandes über das Eisengeländer, das sich zwischen dem Treppenaufgang in die oberen Stockwerke und der Kellertreppe befindet, in den Kellerschacht gestürzt.
Die Klägerin hat dies bestritten und vorgetragen, der Sturz ihres Ehemannes habe mit seinem Alkoholgenuß nichts zu tun gehabt. Er müsse darauf zurückzuführen sein daß ihr Ehemann auf den Weg in den Keller, wo sie an diesem Tage gewaschen habe, mit seinen neu besohlten Stiefeln auf den letzten Stufen der sehr steilen und gefährlichen Treppe ausgeglitten sei.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Oberlandesgericht hat ihr stattgegeben. Mit der Revision, um deren Zurückweisung die Klägerin bittet, erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Das Berufungsgericht hält es nicht für erwiesen, daß der Ehemann der Klägerin infolge einer alkoholbedingten Bewußtseinsstörung im Sinne des §3 Ziff. 5 AUB verunglückt ist. Diese Entscheidung beruht auf rechtlich fehlerhaften Erwägungen.
1.
Richtig ist der Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, daß nicht nur ein Kraftfahrer (BGHZ 18, 311; RGZ 164, 49), sondern auch ein Fußgänger dann an einer Bewußtseinsstörung leidet, wenn seine Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit durch Alkoholgenuß so erheblich geschwächt ist, daß er nicht mehr imstande ist, eine Gefahrenlage wie ein nüchterner Mensch zu erkennen und zu meistern. Dann tritt nämlich jene unnatürliche Steigerung des normalen Unfallrisikos ein, um deretwillen der Versicherungsschutz nach dem Sinn und Zweck des §3 Ziff. 5 AUB entfallen soll. Richtig ist andererseits auch, daß der Führer eines Kraftfahrzeugs im Verkehr ein höheres Maß an Aufmerksamkeit, Geistesgegenwart und Geschicklichkeit benötigt als ein Fußgänger, wenn er Unfälle vermeiden will. Aus diesem Grund ist es fraglich, ob die Blutalkoholgrenze von 1,5 %o, oberhalb deren bei jedem Kraftfahrer eine wesentliche Beeinträchtigung des Aufnahme- und Reaktionsvermögens und damit eine Bewußtseinsstörung im Sinne des §3 Ziff. 5 AUB anzunehmen ist (BGH a.a.O.), ohne weiteres auch für den Fußgänger gilt. Doch bedarf diese Frage hier keiner abschließenden Entscheidung; denn nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hatte der Ehemann der Klägerin zur Zeit des Unfalls einen Blutalkoholgehalt von etwa 2 %o. Jedenfalls bei einem solchen Grad von Trunkenheit ist, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, in aller Regel auch ein Fußgänger bewußtseinsgestört, wobei nicht erforderlich ist, daß dieser Zustand für die Umwelt offen zutage liegt; denn vielfach zeigen sich die Wirkungen des Alkohols erst im Augenblick der Gefahr, wenn es auf eine schnelle und richtige Reaktion ankommt.
2.
Wie das Berufungsgericht ferner zutreffend angenommen hat, spricht hier der Beweis des ersten Anscheins dafür, daß der Rauschzustand des Verunglückten für seinen Sturz ursächlich gewesen ist. Denn nach der Lebenserfahrung sind Trunkene infolge der Störung ihrer Wahrnehmungs- und Abwehrfähigkeit und insbesondere ihres Gleichgewichtssinns besonders stark der Gefahr ausgesetzt, an unebenen Stellen, vor Bodenvertiefungen oder beim Begehen einer Treppe zu stürzen, wogegen sich nüchterne Personen in derselben Lage und zumal dann, wenn ihnen, wie hier, das Gelände vertraut ist, im allgemeinen mit der nötigen Vorsicht und Sicherheit bewegen und deshalb ohne Körperschaden davonkommen. Stößt unter solchen Umständen einem unter erheblicher Alkoholeinwirkung stehender Fußgänger ein Unfall zu, so entspricht es dem typischen Geschehensablauf, daß der Unfall auf die Trunkenheit zurückzuführen ist (BGH VersR 1956, 195).
3.
Das Berufungsgericht meint jedoch weiter, die Klägerin habe diesen ersten Anschein eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Alkoholrausch des Verunglückten und seinem tödlichen Sturz durch den Nachweis von Umständen entkräftet, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Sachablaufs ergebe. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei der Ehemann der Klägerin nämlich nicht über das zwischen dem Treppenhausflur und dem Kellerschacht befindliche Geländer gestürzt, sondern auf einer der oberen Stufen der zum Keller führenden Steintreppe ausgeglitten und mit dem Hinterkopf auf der unteren Stufenkante oder dem Kellerboden aufgeschlagen. Der Kellerschacht sei unbeleuchtet, die Steinstufen seien zum Schacht hin verjüngt, abgenutzt und feucht das Geländer zum Schacht hin bestehe nur aus einem losen Eisenstab und an der Wand sei keine Möglichkeit, sich festzuhalten. Angesichts dieser örtlichen Verhältnisse lasse sich die Möglichkeit nicht ausschließen, daß der Ehemann der Klägerin beim Herabsteigen auf der Treppe allein schon auf Grund ihres schlechten Zustands ausgerutscht sei und auch ausgerutscht wäre, wenn sein Bewußtsein nicht durch den Einfluß des genossenen Alkohols gestört gewesen wäre. Dabei könne nicht außer acht gelassen werden, daß der Verunglückte neue Langschäfter getragen habe, deren Sohlen bis dahin kaum begangen gewesen seien. Die Annahme, daß der Verstorbene ohne den vorausgegangenen Alkoholgenuß die hier zur Vermeidung eines Sturzes erforderliche, ganz besondere Achtsamkeit aufgebracht hätte, werde dadurch entkräftet, daß er beim Heimweg schon 20 Stunden unterwegs gewesen sei, ohne geschlafen oder eine ausreichende Mahlzeit zu sich genommen zu haben. Unter diesen Umständen könne der Sturz auf der Treppe allein schon auf die natürliche Übermüdung zurückzuführen sein. Ferner sei erwiesen, daß der Ehemann der Klägerin nicht in der typischen Geisteshaltung eines Bewußtseinsgestörten, sondern mit voller Absicht in den Keller, wo sich die Waschküche befinde, gegangen sei, um der Klägerin, die damals Waschtag gehabt habe, eine mitgebrachte Tafel Schokolade zu übergeben Alle diese nachgewiesenen Tatumstände ergäben die ernstliche Möglichkeit, daß der Verunglückte entgegen dem ersten Anschein infolge einer Unachtsamkeit oder in Übermüdung auf den schlechten Steinstufen der Kellertreppe ausgeglitten und nach unten gestürzt sei, ohne daß die Bewußtseinsstörung hierfür ursächlich gewesen sei. Der Beklagten obliege mithin der volle Beweis, daß gleichwohl ein solcher Ursachenzusammenhang bestehe. Diesen Beweis habe sie nicht geführt. Die Annahme, daß der Alkoholeinfluß mitwirkend ursächlich für den Unfall gewesen sei, reiche hierfür nicht aus.
4.
Mit diesen Ausführungen hat das Berufungsgericht die Rechtsgrundsätze über den Anscheinsbeweis und seine Entkräftung in mehrfacher Hinsicht verkannt.
a)
Unrichtig ist insbesondere seine Auffassung, für den Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Trunkenheit des Verunglückten und seinem Sturz auf der Kellertreppe genüge nicht die Annahme einer nur mitwirkenden Verursachung. Jeder Unfall beruht auf dem ursächlichen Zusammenwirken mannigfacher äußerer und innerer Tatumstände. Liegt nur eine dieser mehreren Ursachen nach dem ersten Anschein darin, daß das Bewußtsein des Verunglückten infolge Alkoholgenusses erheblich gestört war, wie es hier nach der zutreffend auf den Blutalkoholbefund gestützten Feststellung des Berufungsgerichts eindeutig der Fall gewesen ist, so ist der Ausschlußtatbestand des §3 Ziff. 5 AUB als erwiesen anzusehen, es sei denn, daß bestimmte Tatsachen den Schluß auf einen vom typischen Sachverhalt abweichenden Geschehensablauf, d.h. hier auf einen von jenen Alkoholwirkungen völlig unbeeinflußten Unfallhergang, nahelegen.
b)
Tatsachen dieser Art, die geeignet wären, den ersten Anschein eines als Folge der Bewußtseinsstörung eingetretenen Sturzes auszuräumen, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Mit Recht weist die Revision darauf hin, daß hierfür nur solche Umstände in Betracht kämen, die außerhalb des üblichen Geschehensablaufs liegen. Das hat das Berufungsgericht übersehen. Alle von ihm hervorgehobenen Tatumstände lassen sich nämlich ohne weiteres in das typische Erscheinungsbild einordnen, wie es sich nach der Lebenserfahrung regelmäßig bei Unfällen auf Grund einer alkoholbedingten Bewußtseinsstörung ergibt. So spielt es hier namentlich keine Rolle, ob der Versicherte über das Geländer in den Kellerschacht gestürzt ist, oder ob er, wie das Berufungsgericht feststellt, mit voller Absicht in den Keller gegangen und auf den schlechten Steinstufen infolge Unachtsamkeit ausgeglitten ist. Denn auch bei diesem Unfallhergang spricht die allgemeine Lebenserfahrung dafür, daß die durch den Alkoholgenuß hervorgerufene wesentliche Beeinträchtigung der Aufnahme- und Reaktionsfähigkeit für den Unfall auf der dem Versicherten bekannten Treppe mindestens mitursächlich gewesen ist. Nach ihr sind gerade solche Unachtsamkeiten typische Auswirkungen der alkoholischen Bewußtseinsstörung.
c)
Dasselbe gilt von der Feststellung des Berufungsgerichts, der Versicherte sei zur Zeit des Unfalls übermüdet gewesen. Es ist eine Erfahrungstatsache, daß die Wirkungen des Alkohols bei Übermüdung um so stärker sind, wie auch umgekehrt der Alkoholgenuß das Auftreten von Müdigkeitserscheinungen erheblich fördern kann. Der Umstand, daß der Verunglückte 20 Stunden ohne Schlaf und ohne ausreichende Mahlzeit unterwegs war, kann daher ebenfalls den auf erste Sicht anzunehmenden Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfall und der Trunkenheit des Verunglückten, zumindest im Sinne einer mitwirkenden Verursachung, nicht ernstlich infrage stellen.
d)
Ebenso wenig kann der Anscheinsbeweis mit der Erwägung entkräftet werden, es lasse sich nicht ausschließen, daß auch ein Nüchterner, zumal in übermüdetem Zustand, bei gleicher Gefahrenlage hätte verunglücken können, wenn er sich ebenfalls unachtsam verhalten hätte. Es gehört nämlich gerade zum Wesen des Anscheinsbeweises, daß andere Möglichkeiten eines Geschehensablaufs an sich denkbar sind; scheiden sie nach der Sachlage völlig aus, so handelt es sich in Wahrheit gar nicht um einen Anscheinsbeweis, vielmehr ist dann der volle, wenn nicht sogar denkgesetzlich zwingende Beweis für den behaupteten Tatbestand geführt (BGH VersR 1954, 401). Wenn daher, wie im vorliegenden Fall, der erste Anschein dafür spricht, daß das Versagen eines Betrunkenen in einer bestimmten Gefahrenlage die Folge seines Rauschzustandes war, so bedarf es zur Erschütterung dieser Annahme zwar nicht des vollen Gegenbeweises, wohl aber muß auf Grund der vom Gegner zu beweisenden Tatsachen mit einem anderen als dem gewöhnlichen Verlauf ernstlich zu rechnen sein. Dazu genügt hier nicht die theoretische Überlegung, daß auch ein nicht unter Alkoholeinfluß stehender Mensch einmal unaufmerksam sein und dadurch auf einer gefährlichen Kellertreppe ausrutschen kann. Vielmehr muß sich aus konkreten Tatsachen die naheliegende Möglichkeit ergeben, daß auch ein Nüchterner eine solche Gefahrenlage selbst dann nicht gemeistert hätte, wenn er das übliche Maß an Aufmerksamkeit und Sorgfalt aufgewandt hätte (BGHZ 18, 311 [319]; BGH VersR 1956, 195).
Solche Tatsachen hat die Klägerin nicht vorgetragen, geschweige denn bewiesen. Der Umstand, daß das Betreten der abgenutzten, feuchten, unbeleuchteten und schlecht gesicherten Kellerstufen, zumal mit neuen Stiefeln, besonders gefährlich war und deshalb eine erhöhte Aufmerksamkeit erforderte, bietet keinen genügenden Anhalt dafür, die Möglichkeit eines vom typischen Geschehen abweichenden Verlaufs ernstlich in Betracht zu ziehen, sondern liegt durchaus noch im Rahmen des erfahrungsgemäß anzunehmenden Unfallhergangs, wie er sich regelmäßig als Folge einer alkoholischen Bewußtseinsstörung darstellt. Denn gerade in einer solchen Lage pflegen sich nüchterne Personen, die sich auf Grund ihrer Kenntnis der Örtlichkeit der Unfallgefahr voll "bewußt" werden, besonders vorsichtig, Betrunkene hingegen nur sehr unachtsam und unsicher zu bewegen. Die Klägerin hat selbst nicht vorgetragen, daß auf der Kellertreppe schon einmal jemand verunglückt sei Hiernach besteht kein hinreichender Grund für die Annahme, daß die Gefahren, die aus dem Zustand der Treppe drohten, bei üblicher Aufmerksamkeit nicht hätten gemeistert werden können.
Da die Klägerin auch sonst keine Gesichtspunkte vorgetragen hat, die einen ernstlichen Zweifel am Vorliegen des von der Beklagten auf erste Sicht bewiesenen Ausschlußtatbestandes des §5 Ziff. 5 AUB begründen könnten, und somit eine weitere Sachaufklärung nicht in Betracht kommt, war unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung das klageabweisende Urteil des Landgerichts wieder herzustellen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §91 ZPO.
Fundstellen
Haufe-Index 3018545 |
NJW 1957, 1479 |
NJW 1957, 1479 (amtl. Leitsatz) |