Leitsatz (amtlich)
Die Einführung eines Anspruchs auf häusliche Pflegehilfe nach §§ 53 ff. SGB V a.F. stellt sich als Systemänderung dar. Der Übergang eines kongruenten Schadensersatzanspruchs des Geschädigten auf den Sozialversicherungsträger konnte daher frühestens mit dem Inkrafttreten des SGB V erfolgen.
Normenkette
SGB V § 33 ff. a.F.; SGB X § 116; BGB § 843
Verfahrensgang
OLG Celle (Urteil vom 18.01.1996) |
LG Hannover |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 18. Januar 1996 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Die Klägerin, eine Ersatzkasse, macht aus übergegangenem Recht ihres Mitglieds M. gegen die Bundesrepublik Deutschland Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 19. Oktober 1979 geltend, für dessen Folgen die Beklagte unstreitig nach dem NATO-Truppenstatut zu 50 % einzustehen hat. Bei diesem Unfall wurde M. so schwer verletzt, daß er seither erwerbsunfähig und pflegebedürftig ist. In einem Vorprozeß haben M. und die Beklagte am 24. November 1987 vor dem Landgericht Hannover einen Vergleich geschlossen, in dem sich die Beklagte verpflichtet hat, an M „zur Abgeltung aller gegenseitigen Ansprüche aus dem Verkehrsunfall vom 19.10.1979” 175.000 DM zu zahlen.
Im vorliegenden Verfahren begehrt die Klägerin von der Beklagten die Erstattung der auf 2.008,00 DM bezifferten Hälfte ihrer Aufwendungen für die häusliche Pflegehilfe, die sie gemäß §§ 53 ff. SGB V a.F. von April bis Dezember 1993 sowie von April bis Juni 1994 an M. erbracht hat. Ferner begehrt sie die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten, jien ihr entstehenden zukünftigen Schaden hinsichtlich der häuslichen Pflegehilfe für M. zu 50 % zu ersetzen.
Die Beklagte hält diesem Vorbringen entgegen, daß die Schadensersatzansprüche des M., die mit den Aufwendungen der Klägerin für dessen häusliche Pflege kongruent seien, erst mit dem Inkrafttreten der §§ 53 ff. SGB V a.F. (1. Januar 1989) auf die Klägerin hätten übergehen können; ein solcher Anspruchsübergang scheitere aber deshalb, weil M. in dem am 24. November 1987 geschlossenen Vergleich auf alle Ansprüche aus dem Unfall verzichtet habe.
Hierzu entgegnet die Klägerin, daß es sich bei der Einführung der häuslichen Pflegehilfe nach §§ 53 ff. SGB V a.F. nur um eine Erweiterung ihrer bisherigen Leistungspflicht und nicht um eine Systemänderung gehandelt habe, so daß der gesetzliche Forderungsübergang auf sie, der im Unfallzeitpunkt erfolgt sei, auch die mit ihren Leistungen für die häusliche Pflegehilfe kongruenten Schadensersatzansprüche des M. erfasse.
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Berufung hatte nur zu einem geringen Teil Erfolg. Mit ihrer (zugelassenen) Revision verfolgt die Beklagte das Ziel der Klageabweisung weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht ist mit dem Landgericht der Auffassung, daß der Anspruchsübergang auf die Klägerin, der sich im Unfallzeitpunkt vollzogen hat, auch die mit den Aufwendungen der Klägerin für die häusliche Pflegehilfe des M. kongruenten Schadensersatzansprüche erfasse. Die (inzwischen durch das SGB XI abgelöste) Regelung der §§ 53 ff. SGB V a.F. habe nicht zu einer Systemänderung geführt; auch schon vor dem Jahre 1979 habe die häusliche Pflege nach § 185 RVO zu den Pflichtleistungen der Krankenkassen gehört. Allerdings erstrecke sich die Leistungspflicht nach §§ 53 ff. SGB V a.F. auch auf die häusliche Pflege von nicht kranken, hilflosen Behinderten, während nach dem zuvor geltenden Recht nur eine Krankenpflege anstelle einer Krankenhausbehandlung vorgesehen gewesen sei. Diese Gesetzesänderung habe aber nur eine eher quantitative Bedeutung. Der Vergleich vom 24. November 1987 habe deshalb den Bestand der auf die Klägerin übergegangenen Schadensersatzansprüche des M. nicht mehr berühren können. Nur hinsichtlich der für die Zeit von April bis Juni 1994 geltend gemachten Aufwendungen der Klägerin für die häusliche Pflegehilfe in Höhe von 553,34 DM habe die Berufung Erfolg, weil der klägerische Vortrag insoweit unverständlich und nicht nachprüfbar sei.
II.
Die Erwägungen des Berufungsgerichts zum Anspruchsübergang wegen der Aufwendungen der Klägerin für die häusliche Pflegehilfe halten einer Nachprüfung nicht stand.
1. Allerdings sind die Überlegungen des Berufungsgerichts im Ansatz nicht zu beanstanden.
a) Das Berufungsgericht geht mit Recht davon aus, daß einem Anspruchsübergang auf die Klägerin im Unfallzeitpunkt nicht schon entgegensteht, daß der geltend gemachte Obergang der Ansprüche auf Leistungen beruht, die die Klägerin erst ab 1. Januar 1991 zu erbringen hatte (§ 55 Abs. 2 SGB V).
Der Anspruchsübergang bestimmt sich nach dem im Zeitpunkt des Schadensereignisses geltenden § 1542 RVO (Art. II § 22 des Gesetzes vom 4. November 1982 – BGBl. I S. 1450). Danach vollzog sich der Forderungsübergang schon im Zeitpunkt des Unfalls und er erfaßte bereits in diesem Zeitpunkt auch die Ersatzansprüche des Geschädigten in bezug auf solche Leistungen des Sozialversicherungsträgers, die von ihm erst in der Folgezeit zu erbringen waren, sofern diese nur nach den Umständen des Schadensfalls in Betracht zu ziehen waren. Dabei reichte selbst eine weit entfernte Möglichkeit des Eintritts solcher Tatsachen aus, aufgrund deren Versicherungsleistungen zu erbringen waren; die Entstehung solcher Leistungspflichten durfte nur nicht völlig unwahrscheinlich, also geradezu ausgeschlossen sein (st. Rspr., vgl. Senatsurteil vom 17. April 1990 – VI ZR 276/89 – VersR 1990, 1028, 1029 m.w.N.).
Voraussetzung für einen solchen Forderungsübergang war, daß der Sozialversicherungsträger dem Geschädigten Leistungen zu gewähren hatte, die sachlich und zeitlich mit der Schadenselrsatzpflicht des Schädigers bzw. des hinter ihm stehenden Haftpflichtversicherers kongruent waren. Insoweit bestehen hier keine Bedenken. Die Leistungen zur häuslichen Pflegehilfe sind mit der Schadensersatzpflicht der Beklagten wegen vermehrter Bedürfnisse kongruent (§ 843 Abs. 1 BGB).
b) Die in die Zukunft gerichtete Wirkung des Anspruchsübergangs ist allerdings – wovon das Berufungsgericht im Ansatz gleichfalls zutreffend ausgeht – inhaltlich eingeschränkt. Der Anspruchsübergang erfaßt nämlich nicht zukünftige Leistungsberechtigungen, die auf einer „Systemänderung” beruhen. Insoweit findet ein Forderungsübergang erst mit dem Inkrafttreten der Neuregelung statt (vgl. Senatsurteil vom 17. April 1990 – VI ZR 276/89 – a.a.O.). Eine Systemänderung in diesem Sinne liegt vor, wenn eine Leistungspflicht des Versicherungsträgers begründet wird, für die es bisher an einer gesetzlichen Grundlage gefehlt hat (vgl. Senatsurteil vom 11. Januar 1966 – VI ZR 173/64 – VersR 1966, 233, 234), wenn eine gesetzliche Neuregelung eine Anspruchsberechtigung, die im bisherigen Leistungssystem noch, nicht enthalten war, neu schafft (vgl. Senatsurteil vom 4. Oktober 1983 – VI ZR 44/82 – VersR 1984, 35, 36). Es kommt also darauf an, ob aufgrund einer Änderung der Sozialversicherungsgesetzgebung ganz neue Ansprüche gegen den Sozialversicherungsträger gewährt werden (st. Rspr. seit Senatsurteil vom 24. März 1954 – VI ZR 24/53 – VersR 1954, 537). Im Gegensatz zur Systemänderung steht die Erhöhung bereits früher vorgesehener Leistungen (vgl. Senatsurteil vom 12. Juli 1960 – VI ZR 122/59 – VersR 1960, 830).
Eine solche Systemänderung hat der Senat angenommen für eine gesetzliche Regelung, durch die der Witwe die bis dahin nur bei Nachweis der Invalidität oder bei Vollendung des 65. Lebensjahres gewährte Witwenrente nunmehr ohne besonderen Nachweis der Invalidität schon vom 60. Lebensjahr an gewährt wurde (Senatsurteil vom 24. März 1954 – VI ZR 24/53 – a.a.O.), für die Begründung eines neuen Anspruchs auf Witwenrente ab Vollendung des 45. Lebensjahres bzw. bei Erziehung nur eines waisenrentenberechtigten Kindes (Senatsurteil vom 9. Juli 1963 – VI ZR 197/62 – VersR 1963, 1164, 1165), für eine Neuregelung, durch die Hinterbliebene, die bis dahin mangels Erfüllung einer Anwartschaft des Verletzten keine Renten erhielten, nunmehr rentenberechtigt wurden (Senatsurteil vom 11. Januar 1966 – VI ZR 173/64 – a.a.O.), für eine Gesetzesänderung, durch die für eine bis dahin nur im Ermessenswege zu gewährende Witwen- und Waisenbeihilfe nunmehr ein Rechtsanspruch begründet wurde (Senatsurteil vom 4. Oktober 1983 – VI ZR 44/82 – a.a.O.) oder für die Einführung einer Beitragspflicht des Krankengeldbezugs zur Arbeitslosenversicherung (Senatsurteil vom 17. April 1990 – VI ZR 276/89 – a.a.O.).
2. Auf dieser Grundlage ist der Senat im Gegensatz zum Berufungsgericht der Auffassung, daß der mit dem Gesundheitsreformgesetz vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I 1988, 2477 ff.) eingeführte Anspruch auf häusliche Pflegehilfe nach §§ 53 ff. SGB V a.F. als Systemänderung zu bewerten ist.
Vor dem Inkrafttreten der §§ 53 ff. SGB V a.F. waren in der gesetzlichen Krankenversicherung Leistungen grundsätzlich nur bei Krankheit, nicht aber bei reiner Pflegebedürftigkeit Vorgesehen. Obwohl man das Problem der hohen finanziellen Belastung der Pflegebedürftigen mit den Kosten der Pflege erkannte, sah die Bundesregierung zunächst keine Möglichkeit, auf den Begriff der Krankheit als Anknüpfungsmerkmal für Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung für Pflegebedürftige zu verzichten (vgl. Bericht der Bundesregierung zu Fragen der Pflegebedürftigkeit vom 5. September 1984 – BT-Drucks. 10/1943 S. 15). Nach damaligem Recht wurde eine Pflegehilfe nur im Rahmen einer häuslichen Krankenpflege gewährt. Versicherungsfall der Krankenhilfe nach § 182 RVO a.F., zu der auch die häusliche Krankenpflege gemäß § 185 RVO a.F. gehörte, war dabei eine behandlungsbedürftige und behandlungsfähige Krankheit. Die Vorschrift des § 185 RVO a.F. setzte darüber hinaus eine neben der häuslichen Krankenpflege stattfindende ärztliche Bei handlung voraus (BSGE 50, 73, 76 f.). Nach der ab 1. Januar 1989 geltenden Rechtslage übernimmt die gleiche Regelungsfunktion mit nur geringfügigen Änderungen der neu eingeführte § 37 SGB V, der damit als Nachfolgevorschrift des § 185 RVO a.F. angesehen werben kann (vgl. hierzu Begründung zum Entwurf des Gesundheits-Reformgesetzes –BT– Drucks. 11/2237 S. 176). Auch hier setzt die häusliche Krankenpflege, die nunmehr ausdrücklich auch die hauswirtschaftliche Versorgung umfaßt, eine behandlungsfähige und behandlungsbedürftige Krankheit voraus (Krauskopf, SozKV, § 37 SGB V Rdn. 2; GKV-Kommentar/Zipperer, § 37 SGB V Rdn. 5).
Demgegenüber haben §§ 53 ff. SGB V a.F. erstmals einen Anspruch auf Pflegeleistungen gewährt, der vom Vorliegen einer Krankheit unabhängig war. Das wird schon in der Gesetzeskonzeption deutlich. Während der fünfte Abschnitt des dritten Kapitels des SGB V die Leistungen bei Krankheit regelt, hat der sechste Abschnitt abschließend und eigenständig die Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit behandelt. Dies geschah in Vollzug der ausdrücklichen gesetzgeberischen Konzeption, nach der es darauf ankam, den Anspruch auf Pflegeleistungen vom Vorliegen einer Krankheit als Voraussetzung zu lösen und damit den Schwerpflegebedürftigen neue Leistungen zugute kommen zu lassen (BT-Drucks. 11/2237 S. 183). Dem läßt sich nicht mit der Revisionserwiderung entgegenhalten, daß die Leistungspflicht auch solche Fälle erfaßt habe, in denen die Pflegebedürftigkeit wegen einer Krankheit bestanden habe. Entscheidend ist vielmehr, daß durch die Neuregelung allein die Pflegebedürftigkeit unabhängig von einer Krankheit einen Anspruch des Versicherten auf häusliche Pflegehilfe ausgelöst hat. Dies war eine in der gesetzlichen Krankenversicherung neue und neuartige Leistung (vgl. Begründung des Pflege-Versicherungsgesetzes – BT-Drucks. 12/5262 S. 70; GKV-Kommentar/Zipperer, § 53 SGB V Rdn. 3).
Die Einführung eines Anspruchs auf häusliche Pflegehilfe nach §§ 53 ff. SGB V a.F. stellt sich damit als Systemänderung dar. Dies bedeutet, daß sich der Anspruchsübergang nach § 1542 RVO a.F. im Unfallzeitpunkt nicht auf die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche des M. wegen vermehrter Bedürfnisse aus § 843 Abs. 1 BGB erstreckt hat.
3. Ein Übergang solcher Ansprüche auf die Klägerin kann vielmehr nur auf der Grundlage des § 116 SGB X mit dem Inkrafttreten der §§ 53 ff. SGB V a.F. am 1. Januar 1989 erfolgt sein. Inzwischen hatte M. aber mit dem Vergleich vom 24. November 1987 über alle Ansprüche aus dem Verkehrsunfall vom 19. Oktober 1979 verfügt. Das Berufungsgericht hat sich – aus seiner Sicht folgerichtig – nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob sich die im Vergleich getroffene Vereinbarung auch auf die hier in Rede stehenden Ansprüche des Geschädigten aus § 843 Abs. 1 BGB erstrecken sollte. Der Senat hat deshalb das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur weiteren Sachaufklärung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Unterschriften
Dr. Lepa, Dr. v. Gerlach, Dr. Müller, Dr. Dressler, Dr. Greiner
Fundstellen
BGHZ |
BGHZ, 381 |
NJW 1997, 1783 |
Nachschlagewerk BGH |
MDR 1997, 646 |
SozSi 1997, 434 |