Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr
Leitsatz (amtlich)
Zum Begriff der Teilnahme am allgemeinen Verkehr i.S. des § 636 Abs. 1 S. 1 RVO (hier: Verkehrsunfall auf dem Werksgelände)
Normenkette
RVO § 636
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 10. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 10. Juli 1987 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Revision fallen dem Kläger zur Last.
Tatbestand
Der Kläger erlitt am Morgen des 3. April 1985 Verletzungen, als er auf dem Werksgelände der Erstbeklagten mit seinem Motorrad mit einem bei der Drittbeklagten haftpflichtversicherten Pkw der Erstbeklagten zusammenstieß, den der Zweitbeklagte fuhr. Der Kläger befand sich auf der Fahrt zu seinem Arbeitsplatz, der Zweitbeklagte mit dem werkseigenen Pkw auf einer Dienstfahrt. Sie sind beide Betriebsangehörige der Erstbeklagten. Die zuständige Berufsgenossenschaft hat den Unfall als Arbeitsunfall anerkannt.
Die Erstbeklagte stellt u.a. militärische Ausrüstungen her. Ihr gesichertes Werksgelände darf nur mit Sondergenehmigung befahren werden; die Zufahrt wird kontrolliert. Auf dem weitläufigen Areal befindet sich eine Vielzahl von Gebäuden, die durch Straßen und Wege miteinander verbunden sind. Die Fahrgeschwindigkeit auf dem Werksgelände ist auf 30 km/h begrenzt, die Vorschriften der StVO gelten sinngemäß.
Der Kläger trägt vor, der Unfall beruhe auf dem alleinigen Verschulden des Zweitbeklagten. Er begehrt die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines angemessenen - über einen vorprozessual gezahlten Betrag hinausgehenden - Schmerzensgeldes sowie die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz seines materiellen und immateriellen Schadens.
Die Beklagten machen geltend, der Kläger habe den Unfall selbst verschuldet, im übrigen sei ihre Haftung nach §§ 636, 637 RVO ausgeschlossen.
Das Landgericht hat durch Teilurteil die Klage hinsichtlich des Schmerzensgeldes und des Antrages auf Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz des immateriellen Zukunftsschadens abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist ohne Erfolg geblieben.
Mit der (zugelassenen) Revision verfolgt der Kläger seinen Schmerzensgeldanspruch sowie seinen Feststellungsanspruch hinsichtlich seines immateriellen Zukunftsschadens weiter.
Entscheidungsgründe
I.
Das Berufungsgericht ist mit dem Landgericht der Auffassung, daß die Beklagten nach §§ 636, 637 RVO von der Haftung für die hier zur Erörterung stehenden Unfallfolgen befreit sind. Die Ausnahmeregelung des § 636 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz RVO, nach der es bei der Haftung des Schädigers verbleibt, wenn der Arbeitsunfall bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr eingetreten ist, greife nicht ein. Es handele sich um einen Unfall, der sich im betrieblichen Gefahrenbereich der Erstbeklagten zugetragen habe, und nicht um einen Arbeitsunfall bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr. Das folge zwar nicht schon daraus, daß sich der Unfall auf dem Werksgelände zugetragen habe. Entscheidend sei vielmehr, daß sich bei dem Unfall neben den allgemeinen Gefahren des Straßenverkehrs auch die Gefahren ausgewirkt hätten, denen der Geschädigte durch die Zugehörigkeit zu seinem Betrieb ausgesetzt gewesen sei. Bei der Unfallstelle handele es sich um eine Einmündung einer Verbindungsstraße in einen Platz vor einem Gebäude, die trotz ihrer Unübersichtlichkeit im Zeitpunkt des Unfalls noch nicht abgesichert gewesen sei; hätte es sich hingegen um eine öffentliche Straße gehandelt, so wäre die besondere Gefahrenträchtigkeit dieser Einmündung durch eine Verkehrsregelung verringert worden.
II.
Diese Erwägungen halten im Ergebnis einer Überprüfung stand.
1.
Das Berufungsgericht geht mit Recht davon aus, daß die Voraussetzungen der Haftungsfreistellung nach §§ 636 Abs. 1, 637 Abs. 1 RVO für alle Beklagten vorliegen.
Bei dem Unfall des in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Klägers handelt es sich um einen Arbeitsunfall im Sinne der genannten Bestimmungen; dies folgt schon aus dem entsprechenden Bescheid der zuständigen Berufsgenossenschaft (§ 638 Nr. 1 RVO). Der Kläger ist in dem Unternehmen der Erstbeklagten tätig (§ 636 Abs. 1 Satz 1 RVO). Zu dem Unfall ist es durch eine betriebliche Tätigkeit des Zweitbeklagten i.S. von § 637 Abs. 1 RVO gekommen; er befand sich mit dem werkseigenen Pkw der Erstbeklagten auf einer Dienstfahrt.
2.
Das Berufungsgericht ist auch - jedenfalls im Ergebnis - zutreffend der Auffassung, daß der Ausnahmetatbestand der Teilnahme am allgemeinen Verkehr, bei dessen Vorliegen Schadensersatzansprüche des Klägers nach § 636 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz RVO entsperrt würden, nicht vorliegt.
Nach dem Zweck dieser Regelung sollen die Haftungsbefreiungen, die die §§ 636, 637 RVO an das betriebsbezogene Verhältnis zwischen dem versicherten Verletzten und dem Schädiger knüpfen, für einen Bereich entfallen, in dem der Versicherte jedem anderen Verkehrsteilnehmer gleichsteht, so daß es unbillig wäre, ihn insoweit gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern durch eine Beschränkung seiner Ansprüche zu benachteiligen. Die Regelung will diejenigen Fälle erfassen, in denen der Versicherte den Gefahrenbereich, in dem er durch die Zugehörigkeit zu seinem Betrieb betroffen ist, verläßt und sich als normaler Verkehrsteilnehmer in den Gefahrenbereich des allgemeinen Verkehrs begibt. Deshalb ist nicht allein maßgebend, wo sich der Unfall ereignet hat, sondern auch, inwieweit er mit dem Betrieb und der Berufstätigkeit des Versicherten zusammenhängt. Entscheidend ist, ob sich im Unfall das betriebliche Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigtem manifestiert, oder ob dieses Verhältnis zum Unfall keinen oder nur einen äußeren Zusammenhang hat. Dies ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht erst seit dem Urteil des erkennenden Senats vom 8. Mai 1973 - VI ZR 148/72 - VersR 1973, 736 = NJW 1973, 1326, sondern seit jeher anerkannt (vgl. die Nachweise in RGRK - BGB, 12. Aufl., Rd. 99 ff. und 112 ff. vor § 823).
Danach hat sich der Unfall nicht bei der Teilnahme des Klägers am allgemeinen Verkehr im Sinne des § 636 RVO ereignet.
Der Kläger hat den Unfall erlitten, als er sich auf der Fahrt zu seinem Arbeitsplatz befand. Bei einem solchen Sachverhalt werden allerdings - wie das Berufungsgericht nicht verkennt - grundsätzlich die Schadensersatzansprüche des Verletzten entsperrt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist der Hin- und Rückweg eines Betriebsangehörigen zur und von seiner Arbeitsstätte in der Regel als Teilnahme am allgemeinen Verkehr von der Haftungsfreistellung der §§ 636, 637 RVO ausgeschlossen, weil normalerweise jeder Arbeitnehmer selbst dafür zu sorgen hat, daß er zur Arbeitsstelle und von dort nach Hause kommt (vgl. Senatsurteil vom 13. Januar 1976 - VI ZR 58/74 - VersR 1976, 539 m.w.N.). Indes hat sich der Kläger im Unfallzeitpunkt schon im Gefahrenbereich seines Betriebes bewegt. Das Werksgelände der Erstbeklagten ist ein nach außen abgesichertes Areal. Die Erstbeklagte allein entscheidet darüber, wer zu diesem Gelände Zutritt hat, und sie entscheidet über die Bedingungen des Fahrzeugverkehrs auf diesem Gelände, insbesondere über die Straßenführung, die Sicherung gefährlicher Stellen und die Fahrgeschwindigkeit. Das bedeutet, daß derjenige, der in das Werksgelände einfährt, in den der Organisationsmacht der Erstbeklagten unterstehenden Gefahrenkreis gelangt. Bereits dieser innere Zusammenhang des Unfalls des Klägers mit dem Gefahrenbereich der Erstbeklagten reicht aus, um im Verhältnis zu ihr den Unfall nicht der Teilnahme am allgemeinen Verkehr zuzurechnen; erforderlich ist weder - wovon das Berufungsgericht möglicherweise ausgeht -, daß der Kläger wegen der Unübersichtlichkeit der Unfallstelle einer durch den Betrieb gesteigerten Gefahr ausgesetzt gewesen ist, der er im öffentlichen Straßenverkehr so nicht ausgesetzt gewesen wäre, noch daß nur Betriebsangehörige zu der Unfallstelle Zugang hatten (vgl. Senatsurteil vom 12. März 1974 - VI ZR 2/73 - VersR 1974, 784, 785). Insoweit ist der Begriff der Teilnahme am allgemeinen Verkehr ein relatives, nicht auf die Art des Risikos, sondern auf das Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger abhebendes Kriterium. Begibt sich - wie der Kläger - ein Arbeitnehmer in den Gefahrenkreis, der zur Organisationsaufgabe seines Unternehmens gehört, so erleidet er einen Verkehrsunfall innerhalb dieses Gefahrenkreises im Verhältnis zu seinem Unternehmer nicht als "normaler Verkehrsteilnehmer", sondern der Unfall ist Ausdruck auch der betrieblichen Verbindung zwischen ihm und dem Unternehmer, deretwegen das Haftungsprivileg des § 636 RVO besteht. Aus denselben Erwägungen ist der Unfall des Klägers auch im Verhältnis zum Zweitbeklagten nicht der Teilnahme am allgemeinen Verkehr zuzurechnen; auch in diesem Verhältnis besteht ein innerer Zusammenhang mit der gemeinsamen betrieblichen Zugehörigkeit der Parteien (vgl. dazu Senatsurteile vom 14. Januar 1964 - VI ZR 88/62 - VersR 1964, 270, 271 und vom 8. Februar 1972 - VI ZR 173/70 - VersR 1972, 491, 492; vgl. ferner BGH, Urteil vom 23. Januar 1964 - III ZR 15/63 - VersR 1964, 530, 531).
3.
Ohne Erfolg beruft sich demgegenüber die Revision darauf, daß sich die Zweckrichtung des Handelns des Klägers - seiner Fahrt zu seiner Arbeitsstelle - mit dem Passieren der Schranke zum Werksgelände nicht geändert habe. Dieses Argument läßt unberücksichtigt, daß sich der Kläger eben mit dem Passieren der Schranke in den Organisationsbereich der Erstbeklagten begeben hat, dem er durch seine Betriebszugehörigkeit angehört hat. Nicht gefolgt werden kann auch der weiteren Erwägung der Revision, daß die Feststellung des Berufungsgerichts, der Unfall beruhe auf der Unübersichtlichkeit der Unfallstelle, durch den Parteivortrag nicht gedeckt sei und damit gegen § 286 ZPO verstoße. Denn dieser Feststellung kommt kein entscheidendes Gewicht zu. Entscheidend ist vielmehr, daß sich der Unfall im Gefahrenbereich des Betriebes der Erstbeklagten zugetragen und der Kläger diesem Gefahrenkreis durch seine Berufstätigkeit angehört hat; auf die Modalitäten des Unfalls und etwaige Versäumnisse der Erstbeklagten kommt es für die Beurteilung der Frage, ob sich der Unfall bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr ereignet hat, nicht an. Im Gegensatz zur Auffassung der Revision ist es auch nicht von Bedeutung, daß sich ein solcher Unfall auch zwischen betriebsfremden Personen hätte zutragen können. Das berührt, wie schon gesagt, die Einordnung des Unfalls im Verhältnis zu den Beklagten nicht.
Unterschriften
Dr. Steffen
Dr. Kullmann
Dr. Macke
Dr. Lepa
Dr. Birkmann
Fundstellen