Entscheidungsstichwort (Thema)
gesetzliche Unfallversicherung. Abgrenzung. Berufskrankheit. Arbeitsunfall. Lärmschwerhörigkeit. Knalltrauma. Wortlaut. Auslegung. Materialien. Merkblatt. Aktualität. medizinische Wissenschaft. Stützrente
Leitsatz (amtlich)
- Bei der Bestimmung des Inhalts der in der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung bezeichneten Berufskrankheiten kommt dem in den Materialien dokumentierten Willen des Verordnungsgebers besondere Bedeutung zu. Soweit auf die vom zuständigen Bundesministerium herausgegebenen Merkblätter zurückgegriffen wird, ist zu prüfen, ob diese noch dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprechen.
- Die Berufskrankheit gem BKV Anl Nr 2301 (Lärmschwerhörigkeit) bezeichnet die durch Dauerlärm am Arbeitsplatz hervorgerufene Schwerhörigkeit. Eine davon abgrenzbare Gehörschädigung durch ein einmaliges Lärmereignis (Knalltrauma) ist als Arbeitsunfall zu entschädigen.
Normenkette
SGB VII § 8 Abs. 1 S. 2; BKV Anl. 1 Nr. 2301
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 12. Januar 2004 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Verletztenrente wegen der Folgen einer von der beklagten Berufsgenossenschaft (BG) anerkannten Berufskrankheit (BK) der Nummer 2301 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) – Lärmschwerhörigkeit – (BK 2301).
Der im Jahre 1948 geborene Kläger ist gelernter Schlosser. Er arbeitete von November 1970 bis August 1985 im Fahrgestellrahmenbau der Firma A…. Seit September 1985 war er als Erprobungshelfer in der wehrtechnischen Dienststelle für Pionier- und Truppengerät in K…, für die die beigeladene Unfallkasse zuständiger Träger der gesetzlichen Unfallversicherung ist, beschäftigt. Während dieser Tätigkeit waren keine Dauerlärmeinwirkungen vorhanden, welche geeignet gewesen wären, einen Lärmschaden zu verursachen. Dort erlitt der Kläger am 18. Juli 1997 und 24. März 2001 zwei sogenannte Knalltraumen, als ein Panzer im Vorbeifahren eine Fehlzündung hatte und eine Späneauffangwanne zu Boden fiel.
Aufgrund der im Dezember 1976 erstatteten ärztlichen Anzeige über eine BK (Lärmschwerhörigkeit) erkannte die beklagte BG mit Bescheid vom 19. März 1981 das Bestehen einer BK 2301 an, lehnte die Gewährung einer Verletztenrente indes ab, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wegen des berufsbedingten Hörverlusts unter 10 vH betrage. Zwei Anträge des Klägers auf Neufeststellung lehnte die Beklagte mit bindenden Bescheiden vom 18. September 1986 und 19. Juni 1992 – jeweils nach Einholung eines HNO-fachärztlichen Gutachtens – ab.
Auf den neuerlichen Verschlimmerungsantrag des Klägers vom 14. August 1997 holte die Beklagte Auskünfte der wehrtechnischen Dienststelle sowie ihres technischen Aufsichtsdienstes ein. Nach Beiziehung eines weiteren HNO-fachärztlichen Gutachtens lehnte sie mit Bescheid vom 10. März 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. August 1999 die Gewährung einer Verletztenrente ab, weil die nach wie vor beginnende Lärmschwerhörigkeit beidseits eine MdE von unter 10 vH bedinge. Das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG) Koblenz hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 17. Oktober 2000). Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 12. Januar 2004). Zwar habe der Kläger in den Jahren 1997 und 2001 zwei sogenannte Knalltraumen erlitten. Auf die Folgen dieser Ereignisse komme es aber nicht entscheidend an, weil diese nicht in die BK 2301 einzubeziehen seien und die Folgen der BK nur eine MdE von weniger als 10 vH bedingten, somit auch eine Stützrente nicht in Betracht komme. Ein Knalltrauma sei dann – aber auch nur dann – der BK 2301 zuzuordnen, wenn es in einen Zeitraum falle, in dem Lärmeinwirkungen über einen längeren Zeitraum vorlagen, die nach dem ermittelten Beurteilungspegel für eine BK 2301 ausreichten. Zwar schließe der Wortlaut der BK 2301 (“Lärmschwerhörigkeit”) es nicht von vornherein aus, ein Knall- oder Explosionstrauma dieser BK zuzuordnen. Eine Einschränkung der Anwendbarkeit der BK 2301 bei einmaligen, das Gehör schädigenden Traumen, ergebe sich indes aus der Entstehungsgeschichte dieser Norm. Diese sei erstmals durch die 4. Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf BKen vom 29. Januar 1943 eingeführt worden und habe ihre heutige Bezeichnung durch die Verordnung zur Änderung der 7. Berufskrankheiten-Verordnung vom 8. Dezember 1976 erhalten. In der dazu erfolgten Bekanntmachung des Bundesministeriums für Arbeit vom 20. Juli 1977 heiße es, dass bei einem Beurteilungspegel von 90 dB (A) und mehr sowie andauernder Einwirkung für einen beträchtlichen Teil der Betroffenen die Gefahr einer Gehörschädigung bestehe. Gehörschäden könnten jedoch auch bereits durch einen Lärm verursacht werden, dessen Beurteilungspegel den Wert von 85 dB (A) erreiche oder überschreite. Diese Erläuterung sei in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Verordnung vom 8. Dezember 1976 ergangen, sodass davon auszugehen sei, dass sie dem Willen des Verordnungsgebers entspreche. Der Hinweis auf die besondere Bedeutung des Beurteilungspegels deute darauf hin, dass ein Knalltrauma durch einmalige Lärmeinwirkung ohne für eine Lärmschwerhörigkeit geeigneten Dauerlärm über einen längeren Zeitraum nicht die Voraussetzungen der BK 2301 erfülle. Hierfür spreche auch die Erwägung, dass, würde man bei Knalltraumen einschränkungslos eine Entschädigung als BK für möglich halten, wegen des Vorrangs der BK gegenüber dem Arbeitsunfall eine Entschädigung als solcher generell ausgeschlossen sei. Es entspreche indes hergebrachter Ansicht, dass Knalltraumen als Arbeitsunfälle zu entschädigen seien.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Dem LSG sei nicht darin zu folgen, dass Knalltraumen nicht der anerkannten BK 2301 zuzurechnen seien. Aus dem Begriff “BK” lasse sich dies nicht herleiten. Erkrankungen, die in der Liste als BKen bezeichnet seien, könnten auch aufgrund einmaliger, auf eine Arbeitsschicht begrenzter Ereignisse eintreten. Eine andere Auslegung sei nicht gerechtfertigt, da dies “beim praktischen Durchführen” zur Verwirrung bezüglich der Verfahrensunterschiede führe. Erfülle ein Tatbestand sowohl die Merkmale eines Arbeitsunfalls als auch einer in der Liste zur BKV aufgeführten BK, müsse das Recht der BKen angewandt werden. Seien hingegen die Tatbestandsmerkmale der BK nicht gegeben und liege das Entstehen durch einen Unfall nahe, seien dessen Voraussetzungen zu prüfen. Daher müsse ein Knalltrauma als BK behandelt werden, wenn – wie hier – das Gehör bereits anerkanntermaßen durch beruflichen Lärm geschädigt sei. Der gesetzliche Zweck wäre sonst verfehlt, denn danach solle “Lärmschwerhörigkeit” zur Entschädigung führen. Eine unterschiedliche Behandlung je nach Art der Einwirkung – wie etwa bei der Wirbelsäulenerkrankung – sei in der Verordnung nicht vorgesehen. Die BK 2301 summiere jeglichen Lärmschaden, sodass bei Vorliegen einer berufsbedingten Lärmschädigung jede weitere Einwirkung nur als “einheitliche” Verschlimmerung der bereits entstandenen Lärmschwerhörigkeit angesehen werden könne. Weniger überzeugend sei das Argument des LSG, die Anerkennung als BK sei nur möglich, wenn die Einwirkung in Form eines Knalltraumas während einer Tätigkeit auftrete, die ohnehin schädigend sei. Denn die Frage bliebe ungeklärt, was gelten solle, wenn zwar die Tätigkeit grundsätzlich lärmschädigend sei, aber das Knalltrauma während eines Arbeitsvorganges auftrete, der selbst nicht mit erhöhtem Lärm einhergehe. Dies zeige, dass die vom LSG vorgenommene Differenzierung willkürlich sei und nicht zu einem sachgerechten Ergebnis führe. Allenfalls dann, wenn ansonsten keine Lärmeinwirkung stattgefunden habe und sich die Entstehung der Lärmschwerhörigkeit “auf ein Ereignis innerhalb einer Schicht erschöpft”, dürfe man von einem Arbeitsunfall ausgehen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 12. Januar 2004, das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 17. Oktober 2000 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. März 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. August 1999 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm wegen der Folgen der BK 2301 Verletztenrente zu gewähren,
hilfsweise,
die Beigeladene entsprechend zu verurteilen,
weiter hilfsweise,
die Beklagte und die Beigeladene zu verurteilen, ihm unter Berücksichtigung der beiden Knalltraumen Stützrente zu gewähren.
Beklagte und Beigeladene beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie schließen sich dem angefochtenen Urteil an.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Aufgrund der mit zulässigen Revisionsrügen nicht angegriffenen und daher für das Revisionsgericht gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG hat der Kläger keinen Anspruch auf Verletztenrente wegen der Folgen der anerkannten BK 2301 und zwar weder gegen die Beklagte noch gegen die Beigeladene.
Gemäß § 56 Abs 1 Satz 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) haben Versicherte Anspruch auf Rente, deren Erwerbsfähigkeit in Folge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist. Unter den Voraussetzungen der Sätze 2 und 3 des § 56 Abs 1 SGB VII kann Anspruch auf Rente bestehen, wenn in Folge mehrerer Versicherungsfälle jeweils eine MdE von wenigstens 10 vH besteht und die vH-Sätze gemeinsam wenigstens die Zahl 20 erreichen (sog Stützrente). Versicherungsfälle sind gemäß § 7 Abs 1 SGB VII Arbeitsunfälle und BKen. Arbeitsunfälle sind gemäß § 8 Abs 1 SGB VII Unfälle von Versicherten in Folge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit, wobei Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen, sind (§ 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII). BKen sind nach § 9 Abs 1 SGB VII Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet und die Versicherte in Folge einer den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit erleiden. Nach § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII wird die Bundesregierung ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Als eine solche BK ist in der Anlage zur BKV unter Nr 2301 “Lärmschwerhörigkeit” bezeichnet. Der Kläger leidet, wie die Beklagte in ihrem bindenden Bescheid vom 19. März 1981 festgestellt hat, an einer BK 2301. Die Folgen dieser BK bedingen indes auch heute keine MdE von wenigstens 10 vH. Dies hat das LSG festgestellt. Der Senat ist an diese Feststellung gebunden (§ 163 SGG). Die möglichen Folgen der beiden Knalltraumen aus den Jahren 1997 und 2001 können sich auf die MdE wegen der BK 2301 nicht auswirken, weil sie dieser BK nicht zuzuordnen sind.
Die BK 2301 ist bezeichnet als “Lärmschwerhörigkeit”. Sie wurde mit der Umschreibung “durch Lärm verursachte Taubheit oder an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit” bereits durch die Zweite Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom 11. Februar 1929 (RGBl I 1929, 27) unter der Nr 18 der Spalte II der Anlage eingeführt und zwar beschränkt auf Tätigkeiten in Betrieben der Metallverarbeitung und Metallbearbeitung. Ihre heute noch geltende Fassung hat die BK durch die Verordnung zur Änderung der Siebenten BKV vom 8. Dezember 1976 (BGBl I 3329) erhalten.
Der Revision ist zuzugeben, dass der Begriff “Lärmschwerhörigkeit” bei bloßer Betrachtung des Wortlauts es nicht ausschließt, einen durch ein Knalltrauma hervorgerufenen Gehörschaden darunter zu fassen, denn auch ein einmaliger Knall kann als Lärm, der Schwerhörigkeit verursachen kann, angesehen werden. Allein nach dem Wortlaut einer Nummer der Anlage zur BKV kann indes der Inhalt einer bestimmten BK oftmals nicht bestimmt werden. Der Verordnungsgeber der BKV hat im Laufe der Jahrzehnte BKen in unterschiedlicher Fassung in die Anlage aufgenommen. So finden sich heute Krankheiten ohne Bezeichnung mit konkretisierten Einwirkungen (zB 1303: Erkrankungen durch Benzol), bezeichnete Krankheiten ohne konkretisierte Einwirkungen (zB 5101: Schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, …), bezeichnete Krankheiten mit konkretisierten Einwirkungen (zB 2401: Grauer Star durch Wärmestrahlung oder auch 2301: Lärmschwerhörigkeit) und bezeichnete Krankheiten mit näher definierten besonderen Einwirkungen (zB 4111: Chronische obstruktive Bronchitis oder Emphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlebergbau bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren).
Wegen der oftmals recht unbestimmten Fassung der BKen sind die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung und die Gerichte indes verpflichtet, über den Wortlaut hinaus den Inhalt der BKen zu bestimmen. Für diese Auslegung gelten die allgemein anerkannten juristischen Regeln und Methoden (Wortlaut, Zusammenhang, Historie, Zweck). Dabei kommt für die Auslegung von BKen dem Willen des Verordnungsgebers, also dem Sinn und Zweck der Vorschrift, besondere Bedeutung zu, sodass auch eine Einschränkung des Anwendungsbereichs einer Norm gegenüber ihrem Wortlaut (sog teleologische Reduktion) möglich ist (BSG SozR 3-5671 Anl 1 Nr 4104 Nr 1 mwN). Darüber hinaus ist insbesondere zu beachten, dass der Verordnungsgeber die BKen zum Teil bewusst offen formuliert hat, damit Verwaltung und Rechtsprechung die sich ändernden Erkenntnisse berücksichtigen können, ohne dass der Wortlaut der Verordnung geändert werden muss (Begründung zur Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche Berufskrankheiten, RArbBl-Amtl Teil, 1925, 263). Somit kann insbesondere auf die zu den Entwürfen der jeweiligen Verordnung verfasste Begründung als Material zurückgegriffen werden (BSG aaO). Daneben können die vom jeweils zuständigen Bundesministerium zu einzelnen BKen herausgegebenen Merkblätter herangezogen werden. Diese wurden bisher im Bundesarbeitsblatt veröffentlicht und richten sich an den Allgemeinarzt, dem sie rechtlich unverbindliche Hinweise für die Beurteilung im Einzelfall aus arbeitsmedizinischer Sicht bieten sollen. Sie sind aber auch vom einschlägig tätigen Juristen zumindest in Teilen zu verstehen und daher verwertbar. Sie stellen eine wichtige, aber nicht unbedingt ausreichende Informationsquelle für die Praxis dar. Ihnen kommt indes keinerlei rechtliche Verbindlichkeit zu (BSG SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2401 Nr 1; BSG SozR 3-5670 Anl 1 Nr 2108 Nr 2; BSG SozR 3-2200 § 551 Nr 16; Krasney, ASU 1994, 525). Obgleich sie in der Regel einen guten Überblick über die jeweilige BK bieten, sind sie nicht immer auf dem neuesten Stand, sodass sie insbesondere für die Entnahme medizinischer Erfahrungssätze der Auswertung durch einen medizinischen Sachverständigen bedürfen (BSG SozR 3-2200 § 551 Nr 16). Über Materialien und Merkblätter hinaus muss für die Auslegung der BKen auf den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zurückgegriffen werden, wie er sich aus der einschlägigen Fachliteratur und anderen Veröffentlichungen ergibt (BSG SozR 3-2200 § 551 Nr 16; BSGE 91, 23 = SozR 4-2700 § 9 Nr 1).
Stellt sich bei einer derartigen über den bloßen Wortlaut einer BK hinausgehenden Auslegung heraus, dass der Verordnungsgeber etwa bei einer BK ohne Krankheitsbezeichnung eine bestimmte Art von Erkrankungen im Blick hatte, zB Krebserkrankungen verschiedener Organe, dürfen Verwaltung und Gerichte für Krebserkrankungen die gesetzlichen Voraussetzungen des § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII nicht prüfen (für die BK 2402 der Anlage zur BKV – Erkrankungen durch ionisierende Strahlen – s BSG Urteil vom 18. August 2004 – B 8 KN 1/03 U R – SozR 4-5670 Anl 1 Nr 2402 Nr 1 RdNr 21-23, auch für BSGE vorgesehen). Hat sich der Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft nach der Einführung der BK indes weiter entwickelt und stellt sich heraus, dass auch andere als Krebserkrankungen durch die bestimmte Einwirkung verstärkt hervorgerufen werden können, dürfen und müssen Verwaltung und Gerichte den Inhalt der BK entsprechend weiter bestimmen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine gänzlich offen formulierte BK wie etwa die der BK 1303 oder 5101 handelt, oder ob es um eine BK wie etwa bei der BK 2301 geht, die zwar sowohl hinsichtlich der Erkrankung als auch der geeigneten Einwirkung (Schwerhörigkeit und Lärm) durchaus konkreter gefasst ist, gleichwohl aber allein vom Wortlaut her nicht exakt definiert werden kann.
Für die vorliegend in Rede stehende BK 2301 findet sich zunächst die für die Nr 18 der Anlage zur Zweiten Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom 11. Februar 1929 (aaO) zu dieser Verordnung veröffentlichte Begründung (Amtliche Nachrichten für Reichsversicherung Nr 1, 1929, IV 11, IV 14). Es heißt dort: Bei den mit Körpererschütterung und starkem Lärm verbundenen Formen der Metallverarbeitung und Metallbearbeitung (Kessel- und Nagelschmieden, Nietereien, Bronzestampfereien usw) können bis zur völligen Taubheit führende Schädigungen des inneren Ohres entstehen. Das vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung im zeitlichen Zusammenhang mit der Neufassung der BK 2301 zum 1. Januar 1977 veröffentlichte Merkblatt (wiedergegeben in Mehrtens/Perlebach, BKV, M 2301 S 1 ff), erläutert, dass Lärm Schall ist, der das Gehör schädigen kann. Weiter heißt es: “Bei einem Beurteilungspegel von 90 dB (A) und mehr sowie andauernder Einwirkung, besteht für einen beträchtlichen Teil der Betroffenen die Gefahr einer Gehörschädigung. Gehörschäden können jedoch auch bereits durch einen Lärm verursacht werden, dessen Beurteilungspegel den Wert von 85 dB (A) erreicht oder überschreitet”. Ferner heißt es dort: “Am Arbeitsplatz kann Lärm nach mehrjähriger Einwirkung zu Lärmschäden des Gehörs führen. Bei sehr hohen Lautstärken sind bleibende Gehörschäden schon nach wenigen Tagen oder Wochen möglich”. Danach zeigt sich, dass der Verordnungsgeber – schon im Jahre 1929 – davon ausgegangen ist, dass der Begriff der Lärmschwerhörigkeit die durch einen gewissen Zeitraum andauernde Lärmbelastung in bestimmter Höhe hervorgerufene Schwerhörigkeit meint. Auch dem sog Königsteiner-Merkblatt, welches von “führenden deutschen Audiologen in Zusammenarbeit mit dem Berufsgenossenschaftlichen Forschungsinstitut für Lärmbekämpfung (später Berufsgenossenschaftliches Institut für Arbeitssicherheit) erarbeitet ist” und “Empfehlungen für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit” enthält (Fassung 4. Auflage 1995 wiedergegeben in Mehrtens/Perlebach, BKV, M 2301 S 6 ff), ist nicht zu entnehmen, dass die nach dem Merkblatt erforderliche Notwendigkeit der dauerhaften Einwirkung von Lärm inzwischen überholt wäre. Schließlich geht auch die einschlägige unfallmedizinische Literatur bis heute davon aus (Mehrtens/Perlebach, BKV, M 2301, S 31 mwN; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Auflage 2003, S 417; Mehrhoff/Meindl/Muhr, Unfallbegutachtung, 11. Auflage 2005, S 296 ff). Das schließt es, ohne dass dies hier abschließend zu entscheiden ist, nicht aus, während einer derartigen Dauerlärmbelastung auftretende Lärmspitzen der BK 2301 zuzurechnen. Eindeutig davon abgrenzbare Lärmereignisse wie etwa Knalltraumen (dh kurzdauernde, jedoch sehr laute Schallerlebnisse wie zB Mündungsknall, Knallkörper … – vgl Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, S 413) fallen indes nicht unter den Begriff des Lärms iS der BK 2301.
Es besteht aus Rechtsgründen auch anderweitig keine Veranlassung, Knalltraumen der BK 2301 der Anlage zur BKV generell zuzuordnen. Denn ein Knalltrauma erfüllt ohne weiteres die Merkmale des in § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII inzwischen gesetzlich definierten Unfallbegriffs, kann also als Arbeitsunfall zu entschädigen sein. Nach dieser Vorschrift sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Dem Unfallbegriff immanent ist seit jeher, dass das auf den Körper einwirkende Ereignis zu einem sog Erstschaden – und sei er auch gering – führt. Später zusätzlich eintretende Folgen des Unfalls sind ihm selbstverständlich auch zuzurechnen. Diese Unterscheidung zwischen Erstschaden und Folgeschaden ist geläufig (s nur Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 8 RdNr 270, 291 mwN). Führt das auf den Körper einwirkende Ereignis nicht zu einem Erstschaden, handelt es sich nicht um einen Unfall iS des § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII.
Die Rechtsprechung des BSG zur BK 3102 – Infektionskrankheiten – (SozR 5670 Anl 1 Nr 3102 Nr 1, s auch Urteile vom 28. August 1990 – 2 RU 64/89 – USK 90180 und 18. November 1997 – 2 RU 15/97 – USK 97103) steht der soeben dargestellten Trennung von Dauerlärmschäden als BK 2301 und Knalltraumen als (Arbeits-)unfälle aufgrund der anderen Struktur der beschriebenen Einwirkung nicht entgegen. Die andere rechtliche Behandlung des vorliegend zu beurteilenden Falles beruht darauf, dass die BK 2301 – wie dargestellt – als Schwerhörigkeit durch Dauerlärm zu bestimmen ist, während die BK 3102 davon ausgeht, dass die einmalige Infektion eines Menschen zur BK führen kann.
In Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich aufgrund der mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG), dass die beim Kläger vorliegende BK 2301 eine MdE von mindestens 10 vH nicht hervorruft (nach der st Rspr des BSG ist die Beurteilung der MdE eine tatsächliche Feststellung, s BSGE 4, 147, 149; BSG SozR 3-2200 § 581 Nr 7 und 8), sodass es auch zu einer sog Stützrente danach nicht kommen kann. Die möglichen Gesundheitsschäden aufgrund der erst nach dem Ende der Dauerlärmbelastung im Jahr 1985 erfolgten sog Knalltraumen sind in die anerkannte BK 2301 nicht einzubeziehen.
Es muss daher nicht abschließend erörtert werden, ob, folgte man der Auffassung der Revision, der Hauptantrag schon deshalb scheitern muss, weil nicht die Beklagte sondern die Beigeladene als derjenige Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, unter dessen Zuständigkeit die letzte gehörschädigende Tätigkeit stattgefunden hat, für die Entschädigung der BK 2103 zuständig wäre. Zudem erübrigt sich die Erörterung der Frage, ob die bisher nicht festgestellten Folgen der Knalltraumen wegen der Grundsätze über sog Nachschäden (s nur Keller bzw Kranig in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 8 RdNr 322 und K § 56 RdNr 43 mwN) überhaupt zu der von der Revision erstrebten Erhöhung der MdE führen können.
Die vom Kläger hilfsweise beantragte Verurteilung der Beigeladenen kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil ein Anspruch des Klägers auf Verletztenrente wegen der Folgen der BK 2301 nicht besteht. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, warum die Beigeladene für die Entschädigung der von der Beklagten anerkannten BK zuständig sein sollte. Eine Verurteilung der Beigeladenen gemäß § 75 Abs 5 SGG kommt nicht in Betracht. Diese Vorschrift erlaubt nur, statt des passiv nicht legitimierten Beklagten den tatsächlich leistungspflichtigen Beigeladenen zu verurteilen (Littmann in Hk-SGG, § 75 RdNr 14). Scheitert der erhobene Anspruch dagegen aus anderen Gründen als denen der sachlichen Zuständigkeit des Versicherungsträgers, ist eine Verurteilung nach § 75 Abs 5 SGG nicht möglich. Für die – mögliche – Entschädigung der Knalltraumen wäre zwar wohl die Beigeladene zuständig. Ihrer Verurteilung auf den weiter hilfsweise gestellten Antrag steht indes entgegen, dass bisher ein Feststellungsverfahren nicht stattgefunden hat und eine mit der Klage anfechtbare Entscheidung noch nicht vorliegt.
Die Revision des Klägers ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen