Leitsatz (redaktionell)

Ein Kraftradfahrer ist - auch bei Nachtfahrten - erst bei einem Blutalkoholgehalt von 1,3 0/00 absolut fahruntüchtig.

Den besonderen Schwierigkeiten, die beim Fahren während der allgemeinen Dunkelheit auftreten, kann durch Ermittlung der Fahruntüchtigkeit im Einzelfall (relative Fahruntüchtigkeit) Rechnung getragen werden.

 

Normenkette

RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 25. April 1957 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger hatte als Helfer in einem der beklagten Berufsgenossenschaft angehörenden Tiefbauunternehmen am 21. Februar 1953 auf einer Baustelle in M bei H Arbeitslöhne auszuzahlen. Einige Arbeiter mußte er, weil sie alsbald nach Arbeitsschluß die Baustelle verlassen hatten, in ihren Wohnungen aufsuchen. Bei dieser Gelegenheit trank er hier und dort etwas Wein; schon vorher hatte er in einer Gaststätte 1/4 Liter Wein zum Essen getrunken. Gegen 22 Uhr trat er mit einem Kraftrad die Heimfahrt an; sie führte ihn durch das Stadtinnere von H. Dort fuhr er gegen 22.50 Uhr auf die linke hintere Seite eines in seiner Fahrtrichtung rechts parkenden unbeleuchteten Personenkraftwagens auf. Er zog sich mehrere komplizierte Brüche des rechten Beines zu, die dessen Absetzung erforderlich machten. Eine um 23.45 Uhr entnommene Blutprobe enthielt nach der Auswertung im Institut für gerichtliche Medizin der Universität H 1,48 0 / 00 Alkohol.

Den Anspruch des Klägers auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 23. Juli 1953 mit der Begründung ab, der Kläger sei im Zeitpunkt des Unfalls infolge des vorausgegangenen Alkoholgenusses fahruntüchtig gewesen und habe deshalb nicht unter Versicherungsschutz gestanden.

Die hiergegen gerichtete Klage ist durch Urteil des Sozialgerichts (SG.) Darmstadt vom 20. März 1956 abgewiesen worden. Auch die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg gehabt. Das Hessische Landessozialgericht (LSG.) hat in seinem Urteil vom 25. April 1957 ausgeführt: Es könne davon ausgegangen werden, daß die unfallbringende Fahrt unter Versicherungsschutz gestanden hätte, wenn der Kläger fahrtüchtig gewesen wäre. Dies treffe aber nicht zu. Er habe unter Umrechnung des festgestellten Alkoholgehalts der Blutprobe auf den Unfallzeitpunkt und unter Berücksichtigung seines Blutverlustes infolge der Verletzungen einen Blutalkoholgehalt von 1,28 0 / 00 gehabt. Danach sei er absolut fahruntüchtig gewesen. Bei Tagfahrten eines Kraftfahrers liege die Grenze der absoluten Fahruntüchtigkeit bei 1,3 0 / 00 , bei Nachtfahrten dagegen niedriger. Ob sie schon bei 1,0 0 / 00 zu ziehen sei, wie zuweilen angenommen werde, bedürfe nicht der Entscheidung; jedenfalls liege sie unter 1,28 0 / 00 . Die somit feststehende Fahruntüchtigkeit des Klägers habe den Ausschluß vom Versicherungsschutz zur Folge.

Gegen das am 4. Mai 1957 zugestellte Urteil hat der Kläger am 31. Mai 1957 die vom LSG. zugelassene Revision eingelegt. Nachdem die Frist zur Begründung bis zum 4. August 1957 verlängert worden war, hat er das Rechtsmittel am 3. August 1957 damit begründet, daß er nicht absolut fahruntüchtig gewesen sei und daß Versicherungsschutz auch deshalb gewährt werden müsse, weil der Unfall auch ohne den vorausgegangenen Alkoholgenuß eingetreten wäre.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Hessischen LSG. vom 25. April 1957 und den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 23. Juli 1953 aufzuheben sowie diese zu verurteilen, wegen des Unfalls vom 21. Februar 1953 Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren,

hilfsweise,

die Sache an das LSG. zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie tritt den Ausführungen des LSG. bei.

II

Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie hatte auch Erfolg.

Das LSG. hat mit Recht die Grenze der absoluten Fahruntüchtigkeit für Kraftradfahrer niedriger gezogen als diejenige für Kraftwagenfahrer. Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 30. Juni 1960 - 2 RU 86/56 - ausgeführt hat, werden an Kraftradfahrer im Straßenverkehr erheblich höhere Anforderungen gestellt als an Kraftwagenfahrer. Dies beruht vor allem auf dem Erfordernis, das Kraftrad nicht nur zu lenken, sondern auch im Gleichgewicht zu halten, auf dem höheren Beschleunigungsvermögen eines Kraftrades bei verlängertem Bremsweg und auf der Beschaffenheit der Lenkeinrichtung, die schon eine geringfügige Fehlleistung im Lenken in eine entsprechende Änderung der Fahrtrichtung umsetzt. Der Senat sieht deshalb in Übereinstimmung mit dem Bundesgerichtshof (NJW. 1959 S. 1046 und 1047) und der herrschenden Meinung im Schrifttum einen Kraftradfahrer nicht erst - wie den Kraftwagenfahrer - bei einem Blutalkoholgehalt von 1,5 0 / 00 , sondern schon bei einem solchen von 1,3 0 / 00 als absolut fahruntüchtig an.

Entgegen der Auffassung des LSG. erscheint es jedoch nicht gerechtfertigt, bei Nachtfahrten von Kraftradfahrern die Grenze der absoluten Fahruntüchtigkeit noch weiter herabzusetzen. In der Regel werden zwar, wie das LSG. ausgeführt hat, in der Dunkelheit besondere Anforderungen an die Konzentrationsfähigkeit des Kraftfahrers gestellt. Andererseits verschaffen aber auch z.B. die nächtliche Verkehrsstille und die Möglichkeit, entgegenkommende und kreuzende Fahrzeuge infolge des Scheinwerferlichts schon von weit her zu erkennen, gewisse Erleichterungen. Ebenso bietet das nächtliche Fahren auf einer gutbeleuchteten Straße, wie dies im Stadtinnern oft der Fall sein wird, keine nennenswert größeren Schwierigkeiten als das Fahren bei Tage. Der Senat ist deshalb, wie er in seinem Urteil vom 16. August 1960 - 2 RU 119/58 - näher ausgeführt hat, der Auffassung, daß auch bei Nachtfahrten ein Kraftradfahrer erst bei einem Blutalkoholgehalt von 1,3 0 / 00 absolut fahruntüchtig ist. Den besonderen Schwierigkeiten, die beim Fahren während der allgemeinen Dunkelheit auftreten, kann durch Ermittlung der Fahruntüchtigkeit im Einzelfall (relative Fahruntüchtigkeit) Rechnung getragen werden.

Da der Blutalkoholgehalt des Klägers nach den vom LSG. getroffenen, das Bundessozialgericht bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) im Zeitpunkt des Unfalls 1,28 0 / 00 , also weniger als 1,30 0 / 00 betrug, war der Kläger nicht ohne weiteres fahruntüchtig. Ob sonstige Beweisanzeichen bei ihm auf Fahruntüchtigkeit schließen lassen, hat das LSG. nicht festgestellt. Einer solchen Feststellung hätte es aber bedurft, wenn der Ausschluß des Versicherungsschutzes aus dem Gesichtspunkt der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit gerechtfertigt werden soll.

Außerdem ist nicht geklärt, ob und inwieweit die Fahruntüchtigkeit des Klägers, falls sie bestanden hat, sich auf den Unfall ausgewirkt hat. Sie konnte, wie der Senat in seinem Urteil vom 30. Juni 1960 - 2 RU 86/56 - ausgeführt hat, den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nur ausschließen, wenn sie als die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls anzusehen ist.

Da somit noch tatsächliche Feststellungen über die Fahruntüchtigkeit des Klägers und - gegebenenfalls - über deren Auswirkungen zu treffen sind, im übrigen auch noch nicht feststeht, ob der Kläger bei einer versicherten Tätigkeit verunglückt ist, konnte das Bundessozialgericht in der Sache nicht selbst entscheiden. Es mußte deshalb das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverweisen.

Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird im abschließenden Urteil zu entscheiden sein.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325532

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