Entscheidungsstichwort (Thema)
Alkoholgenuß als wahrscheinliche Unfallursache. wehrdiensteigentümliche Verhältnisse
Leitsatz (amtlich)
Der während der Familienheimfahrt erlittene Unfall ist keine Wehrdienstbeschädigung, wenn er allein durch Trunkenheit hervorgerufen worden ist.
Orientierungssatz
1. Die Wahrscheinlichkeit des Geschehensablaufs ist im sozialen Entschädigungsrecht ein zulässiger Maßstab für die Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs. Nach § 1 Abs 3 S 1 BVG, der im Recht der Soldatenversorgung entsprechend anwendbar ist (§ 80 S 1 SVG), reicht es zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung aus, daß die miteinander verbundenen Momente wahrscheinlich, wie angenommen, gewirkt haben. Davon ist auszugehen, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Gegebenheiten den Umständen, die für den Zusammenhang sprechen, ein deutliches Übergewicht zukommt. Darauf kann die richterliche Überzeugung gegründet werden (vgl BSG 1977-09-22 10 RV 15/77 = BSGE 45, 1 = SozR 3900 § 40 Nr 9).
2. Durch ein während einer mehrtägigen Fahrt auf See bestehendes Alkoholverbot ist der Lebensrhythmus nicht derart entscheidend verändert, daß vergleichbare Verhältnisse im zivilen Bereich nicht existierten. Auch dort sind vorübergehende Alkoholbeschränkungen nicht unüblich. Durch die Sperrzeit für die Einnahme von Alkohol war das dienstliche Verhältnis nicht "eigentümlich" geprägt (vgl BSG 1976-02-04 9 RV 152/75 = BSG SozR 3100 § 3 Nr 6 mwN).
Normenkette
SVG § 81 Abs 1 Fassung: 1980-10-09, § 81 Abs 4 S 3 Fassung: 1980-10-09, § 80 S 1 Fassung: 1980-10-09, § 80 S 2 Fassung: 1980-10-09; BVG § 1 Abs 3 S 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 03.12.1981; Aktenzeichen L 7 V 40/80) |
SG Detmold (Entscheidung vom 08.02.1980; Aktenzeichen S 7 V 27/79) |
Tatbestand
Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Klägerin zu 2) (I.) leistete seit April 1975 Dienst bei der Bundesmarine. Er fuhr am 22. Oktober 1976 mit der Bundesbahn von seinem Dienstort A. zu seiner Familienwohnung in B. Auf dieser Fahrt sprang I. im Bahnhof H - A in angetrunkenem Zustand aus dem fahrenden Zug. Der mitfahrende Matrose K. verließ in H - H den Zug, fuhr nach H - A zurück und veranlaßte, daß I. mit dem nächsten Zug die Weiterfahrt antrat. In deren Verlauf nahmen I. und andere im Abteil anwesende Bundeswehrangehörige zusätzlich Alkohol zu sich. Unterwegs stürzte I. aus dem fahrenden Zug; er zog sich tödliche Verletzungen zu. Eine Untersuchung ergab zum Unfallzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 2,67 Promille.
Die Versorgungsverwaltung lehnte es ab, Hinterbliebenenversorgung zu gewähren, da sich I. infolge Volltrunkenheit vom Dienst gelöst habe (Bescheid vom 6. April 1977; Widerspruchsbescheid vom 8. Januar 1979).
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ua ausgeführt: Der Unfall habe sich nicht während der Ausübung des Wehrdienstes ereignet. I. habe sich zur Unfallzeit durch alkoholbedingtes "eigenwirtschaftliches" Tun vom Wehrdienst gelöst. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. G habe der Verunglückte unter hochgradiger Alkoholeinwirkung gestanden. Den einleuchtenden Ausführungen des Sachverständigen sei zu folgen: Zu dem Unfall wäre es ohne die alkoholbedingten Ausfallerscheinungen - insbesondere Störungen des Gleichgewichtssinns, im Sehen und in der Koordination des Gleichgewichtssinns mit dem Sehsinn - nicht gekommen. I. sei zu keinem sinnvollen Tun, auch nicht als passiver Verkehrsteilnehmer, in der Lage gewesen. Nach den besonderen örtlichen Gegebenheiten und insbesondere der Beschaffenheit der Türgriffe des Eisenbahnwaggons sei allein die Trunkenheit für ein Vergreifen oder Verwechseln der Toilettentür mit der Außentür ursächlich. Daß der Zugführer nichts Auffälliges bemerkt habe, als er I. kurz vor dem Unfall auf der Plattform gesehen habe, rechtfertige keine andere Beurteilung. Außerdem seien wehrdiensteigentümliche Verhältnisse für den Unfall nicht verantwortlich. Hierzu rechne nicht ein Übermaß an Alkoholkonsum, selbst wenn I. als Angehöriger der Bundesmarine nach einer einwöchigen Fahrt auf See, bei der die Einnahme von Alkohol untersagt gewesen sei, ein starkes Verlangen nach entsprechenden Getränken verspürt haben sollte.
Mit der - vom LSG zugelassenen Revision rügen die Klägerinnen eine Verletzung des § 80 des Soldatenversorgungsgesetzes (SVG). Das LSG habe den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Ausübung des Wehrdienstes zu Unrecht wegen der Alkoholeinwirkung verneint. Das stehe im Widerspruch zu dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) 8 RV 943/63. Nach dieser Entscheidung schließe die auf den Alkoholgenuß zurückzuführende absolute Fahruntüchtigkeit den Versicherungsschutz - abgesehen vom Vollrausch - nur aus, wenn sie die rechtlich allein wesentliche Unfallursache im Sinne der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm gewesen sei. Davon gehe das LSG zwar aus. Der Sachverständige habe aber einschränkend erklärt, daß die Möglichkeit eines Vollrausches allein aus der BAK nicht nachzuweisen sei. Tatsächlich sei nach den Bekundungen des Zugpersonals das Verhalten von I. unauffällig gewesen. Der Entscheidung des LSG fehle es an der erforderlichen Bestimmtheit, um die Ansprüche der Klägerinnen abweisen zu können.
Die Klägerinnen beantragen,
das Urteil des LSG aufzuheben und den Beklagten
zur Gewährung von Hinterbliebenenversorgung zu
verurteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revisionen der Klägerinnen haben keinen Erfolg. Das LSG hat die Ansprüche auf Hinterbliebenenversorgung zu Recht verneint; denn der Tod des I. ist nicht durch eine Wehrdienstbeschädigung verursacht worden.
Die Klägerinnen stützen ihr Klagebegehren auf § 80 Satz 1 und 2 SVG idF vom 5. März 1976 (BGBl I 457). Danach erhält ein Soldat, der eine Wehrdienstbeschädigung erlitten hat, Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Ebenso steht den Hinterbliebenen eines Beschädigten Versorgung zu. Als Wehrdienstbeschädigung in diesem Sinne gilt eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen während des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist (§ 81 Abs 1 SVG). Keiner dieser genannten Schädigungstatbestände ist erfüllt.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ereignete sich der tödliche Unfall auf dem Weg zwischen dem Dienstort und der Familienwohnung. Somit bestehen gegen die Annahme, I. habe sich zur Unfallzeit auf einer Familienheimfahrt befunden (zum Begriff der Familienheimfahrt vgl BSG in Breithaupt 1977, 732, 733 mwN), an sich keine rechtlichen Bedenken. Das Zurücklegen dieses Weges wird dem Wehrdienst gleichgestellt. Dies verdeutlicht die Wortfassung des Gesetzes, wenn es darin heißt "als Wehrdienst gilt auch" (§ 81 Abs 3 Nr 4 in der zur Zeit des Unfallereignisses geltenden Fassung: BSGE 28, 190, 192 = SozR Nr 6 zu § 4 BVG; nunmehr § 81 Abs 4 letzter Satz SVG idF vom 9. Oktober 1980 - BGBl I, 1954). Infolgedessen könnte der Tod durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall verursacht sein (2. Alternative des § 81 Abs 1 SVG). Im Unterschied zur 1. Alternative dieser Vorschrift, die einen sachnotwendigen Zusammenhang mit der Wehrdienstverrichtung erfordert, ist hier der Tatbestand dadurch gekennzeichnet, daß sich der Unfall "während", also zur Zeit der tatsächlichen Ausübung des Dienstes ereignet haben muß (BSGE 7, 19, 20; 8, 264, 273 = SozR Nr 32 zu § 1 BVG; BSGE 41, 153, 154 = SozR 3200 § 81 Nr 5; 3200 § 81 Nrn 6, 7, 8, 11, 14). Allerdings wird dem Gesetz nicht allein genügt, wenn ein Dienstverhältnis überhaupt besteht. Der Verunglückte muß sich vielmehr zum Unfallzeitpunkt im Dienst befunden haben. Das LSG meint, den Klägerinnen stände ein Hinterbliebenenanspruch nicht zu, weil sich I. infolge Trunkenheit vom Wehrdienst gelöst habe. Damit will es das Berufungsgericht darauf abgehoben wissen, daß die hochgradige Alkoholeinwirkung allein den Unfall im Sinne der im sozialen Entschädigungsrecht herrschenden Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung verursacht habe. Ob ein solcher Sachverhalt den Gedanken einer "Lösung vom Dienst" im rechtstechnischen Sinne erfüllt, kann dahinstehen. Es kann namentlich auf sich beruhen, ob eine solche "Lösung" jeden Versorgungsschutz ausschaltet, weil das tatsächliche Geschehen in keiner Beziehung zum Dienstverhältnis zu bringen ist (Urteil des erkennenden Senats und BSG SozR 3200 § 81 Nr 10). Das Tatbestandsmerkmal "Dienst" wäre zu verneinen, eine Lösung im oben genannten Sinne wäre eingetreten, wenn die Tätigkeit überhaupt nicht mehr der Erfüllung dienstlicher Obliegenheiten zugeordnet werden könnte. Daran wäre zu denken, wenn sich ein Soldat im Zustand des Vollrausches zum Dienst einfindet (BSG SozR 3200 § 81 Nr 10; zum Unfallrecht BSGE 48, 224 = SozR 2200 § 548 Nr 45 mwN). Davon unterscheidet sich der hier zu beurteilende Sachverhalt. Trotz eines hohen Trunkenheitsgrades mochte ein sinnvolles Tun bis zu einem gewissen Ausmaß immerhin noch vorstellbar sein (BSG aaO). Bei dieser Sachlage ist zu fragen, ob der alkoholbedingte Leistungsabfall, nicht also der Leistungsausfall, die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls gewesen ist. Dies hat das LSG unbeanstandet bejaht.
Nach der Rechtsprechung des BSG (BSGE 48, 229 = SozR 2200 § 548 Nr 46 mwN), die auf den Bereich des sozialen Entschädigungsrechts (§ 5 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - SGB 1 -) zu übernehmen ist, entfällt der Versorgungsschutz, wenn alkoholbedingtes Verhalten für einen Unfall allein wesentlich bestimmend war. Das ist der Fall, wenn nach den Erfahrungen des täglichen Lebens davon ausgegangen werden kann, daß der Verunglückte, hätte er nicht unter Alkoholeinfluß gestanden, unter gleichen Umständen nicht verunglückt wäre. Er ist dann nicht einer Dienstgefahr erlegen, sondern nur bei "Gelegenheit" einer versorgungsrechtlich erheblichen Tätigkeit verunglückt. Sind sonstige Unfallfaktoren nicht erwiesen, spricht die Lebenserfahrung dafür, daß die durch den Alkoholgenuß hervorgerufenen Untüchtigkeit zu ordnungsgemäßen Handeln den Unfall herbeigeführt hat.
Das Berufungsgericht hat sich an diese Rechtsprechung gehalten. Es hat im Falle des Verunglückten das "negative Tatbestandsmerkmal" des alkoholbeherrschten Zustandes festgestellt (BSGE 35, 216, 218 = SozR Nr 39 zu § 548 Reichsversicherungsordnung -RVO-, BSGE 29, 293 = SozR 2200 § 550 Nr 29). Den erforderlichen Nachweis hat es dem medizinischen Sachverständigengutachten entnommen. Die Klägerinnen haben dagegen lediglich vorgebracht, I. habe nach Auskunft des Zugpersonals unmittelbar vor dem Unfall einen unauffälligen Eindruck gemacht. Dies allein läßt jedoch nicht den Schluß zu, der Verunglückte sei noch klar Herr seiner Sinne gewesen. Das LSG hat hinreichend eindeutige Beweisanzeichen für das Vorliegen der Verkehrsuntüchtigkeit nicht allein anhand des Sachverständigengutachtens festgestellt (BSGE 43, 295, 296 = SozR 2200 § 550 § 29). Vielmehr waren neben dem Ausmaß der alkoholbedingten Ausfallserscheinungen die Auskunft der Deutschen Bundesbahn rechtserheblich. Die daraus gezogene Schlußfolgerung des Berufungsgerichts, ein Vergreifen oder Verwechseln der Toilettentür mit der Außentür sei bei der recht unterschiedlichen Konstruktion der Türgriffe und der Türen sowie der räumlichen Anordnung bei einem seiner Sinne mächtigen Menschen ausgeschlossen, ist nicht zu beanstanden. Aufgrund dessen geht das LSG rechtsfehlerfrei davon aus, daß der Unfall nach den Erfahrungen des praktischen Lebens wahrscheinlich ohne die vorhandene Alkoholeinwirkung nicht eingetreten wäre. Sonach ist eine Divergenz zur Rechtsprechung des BSG nicht erkennbar. Im übrigen steht das Urteil des BSG in SozR Nr 5 zu § 548 RVO (dazu Anmerkung von Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 484) nicht entgegen; es erhält eine andere Fallgestaltung.
Entgegen der Meinung der Klägerinnen ist das Berufungsurteil in seiner Tatsachenfeststellung ausreichend gewiß. Das LSG hat die Wahrscheinlichkeit des Geschehensablaufs genügen lassen. Dies ist im sozialen Entschädigungsrecht ein zulässiger Maßstab für die Beurteilung eines ursächlichen Zusammenhangs. Nach § 1 Abs 3 Satz 1 BVG, der im Recht der Soldatenversorgung entsprechend anwendbar ist (§ 80 Satz 1 SVG), reicht es zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung aus, daß die miteinander verbundenen Momente wahrscheinlich, wie angenommen, gewirkt haben. Davon ist auszugehen, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Gegebenheiten den Umständen, die für den Zusammenhang sprechen, ein deutliches Übergewicht zukommt. Darauf kann die richterliche Überzeugung gegründet werden (BSGE 45, 1 = SozR 3900 § 40 Nr 9).
Schließlich ist der Alkoholexzeß des Verunglückten nicht mit einer wehrdiensttypischen Situation in Verbindung zu bringen. Unter Wehrdiensteigentümliches rechnen die mit den besonderen Gegebenheiten des Dienstes verknüpften Lebensbedingungen, die spezifische Merkmale des Dienstes aufweisen und sich außerdem deutlich von denjenigen des Zivillebens abheben (BSG SozR Nr 69 und 80 zu § 1 BVG; Nr 1 und 2 zu § 81 SVG; 3200 § 80 Nr 2; BSGE 37, 282, 283 = SozR 3200 § 81 Nr 1; SozR 3200 § 81 Nrn 6, 7, 9, 11, 14). Zum Vergleich sind regelmäßig die normalen Umstände und Verhaltensweisen sowie die durchschnittlichen Gefährdungen im Zivilleben heranzuziehen (BSG SozR 3100 § 1 Nr 15 mwN). Selbst wenn, wie im vorliegenden Streitfall, bei einer achttägigen Fahrt auf See Alkoholverbot besteht, ist damit der Lebensrhythmus nicht derart entscheidend verändert, daß vergleichbare Verhältnisse im zivilen Bereich nicht existierten. Auch dort sind vorübergehende Alkoholbeschränkungen nicht unüblich. Durch die Sperrzeit für die Einnahme von Alkohol war das dienstliche Verhältnis nicht "eigentümlich" geprägt (BSG SozR 3100 § 3 Nr 6 mwN). Die Eigentümlichkeit des militärischen Dienstes könnte allenfalls in Betracht kommen, wenn besondere Umstände, etwa ein schwerer Einsatz, strenge Kälte, längere Durchnässung oder die Hebung der Kampfbereitschaft vor besonderen Aufgaben, die Alkoholeinnahme nahelegen. Dann ließe sich vielleicht eine Wehrdienstverrichtung iS der ersten Alternative des § 81 Abs 1 SVG annehmen (BSGE 20, 266, 270 = SozR Nr 69 zu § 1 BVG). Solche Ausnahmetatbestände lagen zweifelsfrei nicht vor.
Aus diesen Gründen sind die Revisionen der Klägerinnen zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen