Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsunfall. Kausalität. Alkohol

 

Orientierungssatz

Die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit eines Kraftfahrers schließt den Versicherungsschutz nur dann aus, wenn sie die unternehmensbedingte Umstände derart in den Hintergrund drängt, daß sie als die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls anzusehen ist (vgl BSG 1960-06-30 2 RU 86/56 = BSGE 12, 242).

 

Normenkette

RVO § 542

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 23.01.1959)

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 23. Januar 1959 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Die Kläger sind die Hinterbliebenen des Schachtmeisters W... G... (G.), der am 13. November 1956 gegen 2000 Uhr als Fahrer eines Motorrades tödlich verunglückte. G., der in K... wohnte und damals auf einer Baustelle zwischen K... und R... beschäftigt war, hatte um 1730 Uhr die Arbeit beendet und bald danach die Heimfahrt angetreten. Während er diese für gewöhnlich mit seinem eigenen Motorrad auf einer südwärts verlaufenden Strecke über K... zurücklegte, wurde er, da sein Rad sich in Reparatur befand, am 13. November 1956 von dem Bauarbeiter P.... H... (H.) auf dessen Motorrad mitgenommen; die Fahrt sollte auf einer etwa gleichlangen Strecke in nördlicher Richtung zunächst über R... nach T... führen, wo G. Geschäftspapiere im Büro seines Arbeitgebers abzuliefern hatte. Durch einige Unterbrechungen - ua wegen notwendiger Säuberung von Vergaser und Zündkerze - verzögerte sich die Zurücklegung des Weges. H., der zunächst sein Rad selbst steuerte, überließ dem G. schließlich auf dessen Wunsch die Führung und stieg auf den Soziussitz um. Vor einer scharfen Rechtskurve rief G. ihm zu, er solle sich festhalten. G. verlor in der Kurve die Gewalt über das Rad und stieß gegen einen Telefonleitungsmast; während H. unverletzt blieb, erlitt G. einen offenen Schädeldachbruch, dem er einige Stunden später erlag. Die bei G. um 2135 Uhr entnommene Blutprobe wies einen Alkoholgehalt von 1,1 bis 1,15 ‰ auf. Prof. Dr. W... vom Gerichtsmedizinischen Universitäts-Institut M... führte in seinem von der Beklagten eingeholten Gutachten aus, für den Unfallzeitpunkt sei eine Blutalkoholkonzentration zwischen 1,25 und 1,3 ‰ anzunehmen; wegen des verzögerten Abbaus der Alkoholkonzentration infolge der schweren Hirnverletzung könne der Promillesatz auch etwas niedriger gewesen sein, mit einem Mindestwert von 1,2 ‰ müsse jedoch gerechnet werden. Etwa gegen 1830 Uhr habe der Blutalkoholgehalt wahrscheinlich 1,5 bis 1,55 ‰ betragen. Im Unfallzeitpunkt sei G. nicht mehr in der Lage gewesen, ein Motorrad mit der erforderlichen Sicherheit zu führen. Daraus, daß G. darauf gedrängt habe, das Motorrad selbst zu führen, daß er ferner mit einer Geschwindigkeit von über 60 km/h gefahren sei und die Kurve zu spät erkannt habe, sei zu folgern, daß er durch Alkoholgenuß enthemmt sowie in seiner Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit beeinträchtigt gewesen sei. Es sei demnach nicht zweifelhaft, daß der dem Unfall vorangegangene Alkoholgenuß zumindest eine ganz entscheidende Mitursache, wenn nicht die Ursache überhaupt für das Zustandekommen des Unfalls darstelle. Die Beklagte ließ den Zeugen H. durch die Polizei und das Sozialgericht (SG) vernehmen. Dieser gab an, vor dem Erreichen der Rechtskurve habe die Geschwindigkeit des Motorrades etwa 40 bis 60 km/h betragen. Er habe nicht den Eindruck gehabt, daß G. betrunken gewesen sei. Aus einer Auskunft des zur Unfallstelle gerufenen Arztes Dr. S... ging hervor, daß dieser in der Atmungsluft des G. keinen Alkoholgeruch wahrnehmen konnte. Dagegen wurde in dem polizeilichen Ermittlungsbericht vermerkt, der Atem habe leicht nach Alkohol gerochen. Der Gendarmeriebeamte meinte, G. müsse schneller als 60 km/h gefahren sein, der Unfall sei nur auf die zu hohe Geschwindigkeit des Kradfahrers zurückzuführen.

Durch Bescheid vom 2. Juni 1958 lehnte die Beklagte die Entschädigungsansprüche der Hinterbliebenen ab: Nach dem gerichtsmedizinischen Gutachten sei G. bei Antritt der Fahrt durch Alkoholeinwirkung fahruntüchtig gewesen; durch den übermäßigen Alkoholgenuß sei der innere Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit gelöst worden.

Das SG hat die Beklagte am 17. August 1958 verurteilt, den Klägern die Hinterbliebenenentschädigung zu zahlen: Aus dem von Prof. Dr. ... erstatteten Gutachten lasse sich die Annahme einer Fahruntüchtigkeit des G. nicht herleiten, vielmehr spreche das Verhalten des G. kurz vor dem Unfall dafür, daß er noch reaktionsfähig gewesen sei. Seine zu schnelle Fahrweise schließe den Versicherungsschutz nicht aus.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 23. Januar 1959 zurückgewiesen: Absolute Fahruntüchtigkeit liege bei einem Kraftradfahrer erst bei einem Blutalkoholgehalt von 1,5 ‰ vor. Dieser Grenzwert sei im Unfallzeitpunkt von G. nicht erreicht worden, vielmehr könne bei ihm nach dem Gutachten des Prof. Dr. W... sogar ein Wert von nur 1,2 ‰ nicht ausgeschlossen werden. In solchen Fällen sei auch bei einem Kraftradfahrer nur dann Verkehrsunsicherheit anzunehmen, wenn - abgesehen vom Ergebnis der Blutalkoholbestimmung - auch äußere Anzeichen, insbesondere die Fahrweise, auf Alkoholeinwirkung deutlich hinwiesen, wenn also ein durch Alkoholeinwirkung erklärbares Versagen im Straßenverkehr das Zustandekommen des Unfalls verursacht habe. Ein auffälliges Fehlverhalten, das für einen alkoholbeeinflußten Verkehrsteilnehmer typisch sei, habe G. nicht gezeigt. Zwar sei er mit überhöhter Geschwindigkeit in die scharfe Rechtskurve hineingefahren und habe es dadurch an der erforderlichen Aufmerksamkeit und Besonnenheit fehlen lassen. Als Ursache hierfür komme jedoch nicht ohne weiteres Alkoholgenuß in Betracht, denn auch nüchterne Kraftfahrer pflegen häufig zu schnell zu fahren. Für das bei G. noch vorhandene Reaktionsvermögen sprächen sein warnender Zuruf an H. beim Anfahren der Kurve - durch Alkohol enthemmte Kraftfahrer täten das wahrscheinlich nicht - sowie der Versuch des Abbremsens. Das Zustandekommen des Unfalls sei wahrscheinlich auch durch die Witterungsverhältnisse - nebligen Novemberabend - begünstigt worden. Bedeutsam sei auch, daß dem Soziusfahrer H. irgendwelche Anzeichen einer Alkoholbeeinflussung des G. nicht aufgefallen seien. Dem Umstand, daß sich im Polizeibericht der Vermerk über einen Alkoholgeruch des Atems finde, käme angesichts der entgegenstehenden Bekundung des Dr. S... keine Bedeutung zu. Hiernach sei das Vorliegen alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit bei G. nicht hinreichend nachgewiesen und deshalb ein Lösung vom Betrieb zu verneinen. -

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 6. April 1959 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 22. April 1959 Revision eingelegt und sie am 16. Mai 1959 begründet. Die Revision macht geltend, das LSG habe zu Unrecht für die Beurteilung der Fahruntüchtigkeit von Kraftradfahrern den Blutalkoholgehalt von 1,5 ‰ zugrunde gelegt, der nur für Kraftwagenfahrer als Grenzwert in Betracht komme. Kraftradfahrer seien, zumal bei Fahrten zur Nachtzeit, schon bei einem Blutalkoholgehalt von 1 ‰ als absolut fahruntüchtig anzusehen. Bei G. habe nach dem gerichtsmedizinischen Gutachten zur Unfallzeit eine Blutalkoholkonzentration zwischen 1,25 und 1,3 ‰ bestanden. Allein hierdurch sei - ohne Berücksichtigung sonstiger Anhaltspunkte - seine Fahruntüchtigkeit erwiesen. Darüber hinaus sei der Versicherungsschutz aber auch schon deshalb entfallen, weil im ersten Teil der Fahrt - etwa zwischen 1800 und 1830 Uhr - die Alkoholkonzentration bei G. sogar den Wert von 1,5 ‰ erheblich überschritten habe. Diese Darlegungen des Prof. Dr. W... habe das LSG rechtsirrtümlich nicht beachtet, sie sprächen dafür, daß G. bereits bei Antritt der Fahrt sich endgültig vom Betrieb gelöst habe. Schließlich rügt die Beklagte, das LSG habe bei seiner Annahme, der Unfall sei nicht auf ein alkoholbedingtes Fehlverhalten zurückzuführen, sich nicht eingehend genug mit den Beweisergebnissen, insbesondere mit den dieser Annahme entgegenstehenden Schlußfolgerungen im Gutachten des Prof. Dr. W... auseinandergesetzt. Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kläger beantragen die Zurückweisung der Revision; sie pflichten dem angefochtenen Urteil bei.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erklärt.

Die Revision ist statthaft und zulässig; sie hatte jedoch keinen Erfolg.

Die im angefochtenen Urteil vertretene Auffassung, G. habe im Augenblick des Unfalls unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden, trifft im Ergebnis zu, wenngleich die hierfür gegebene Begründung nicht in allen Einzelheiten zu billigen ist.

In der Frage, bei welchem Blutalkoholgehalt ein Kraftradfahrer als absolut, d.h. unabhängig von sonstigen Beweisanzeichen, fahruntüchtig anzusehen sei, ist das LSG von dem Grenzwert von 1,5 ‰ ausgegangen, während die Revision den Standpunkt vertritt, diese Folgerung ergebe sich bereits bei einem Blutalkoholgehalt von 1 ‰. Beiden Ansichten kann nicht beigepflichtet werden. Vielmehr hat das Bundessozialgericht (BSG) angenommen, bei einem Kraftradfahrer müsse - in Anbetracht der höheren Anforderungen, die an seine Verkehrssicherheit gestellt werden - der für den Nachweis der Fahruntüchtigkeit maßgebende Grenzwert im Vergleich zu dem für Kraftwagenfahrer anerkannten Wert von 1,5 ‰ herabgesetzt werden; indessen ist das BSG hierbei nicht bis auf 1 ‰ heruntergegangen, sondern hat 1,3 ‰ als angemessenen Grenzwert für Kraftradfahrer bezeichnet (vgl. BSG 12, 242; 13, 172). Dieser Grenzwert gilt auch bei Nachtfahrten (SozR RVO § 542 Bl. Aa 19 Nr. 30). Von dieser Rechtsprechung abzuweichen besteht keine Veranlassung.

Auf den hier zu entscheidenden Sachverhalt angewandt ergeben diese Grundsätze, daß G. nicht als absolut fahruntüchtig zur Zeit des Unfalls angesehen werden kann; denn nach den auch von der Revision nicht angezweifelten Feststellungen des LSG betrug der Blutalkoholgehalt möglicherweise nur 1,2 ‰ jedenfalls aber nicht mehr als 1,29 ‰. Dies ist den vom LSG angeführten Darlegungen des Prof. Dr. W... zu entnehmen, in denen ein Blutalkoholgehalt zwischen 1,25 und 1,3 ‰ für den Unfallzeitpunkt als wahrscheinlich bezeichnet worden ist.

Auf den Nachweis der Fahruntüchtigkeit kommt es indessen nach der neueren Rechtsprechung des erkennenden Senats nicht allein an, vielmehr schließt nach dieser Rechtsprechung (BSG 12, 242) die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit eines Kraftfahrers den Versicherungsschutz nicht ohne weiteres, sondern nur dann aus, wenn sie die unternehmensbedingten Umstände derart in den Hintergrund drängt, daß sie als die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls anzusehen ist. Dies erfordert eine Prüfung der Frage, ob nach der Lebenserfahrung der Kraftfahrer in nüchternem Zustand bei sonst gleichen Verkehrsbedingungen wahrscheinlich nicht verunglückt wäre. Die im angefochtenen Urteil vertretene Auffassung, die Versagung des Versicherungsschutzes für G. erfordere den Nachweis, daß dieser ein alkoholbedingtes, für das Zustandekommen des Unfalls ursächliches Fehlverhalten im Straßenverkehr gezeigt habe, stimmt hiermit - trotz abweichender Formulierung - im wesentlichen überein. Es bedarf keiner näheren Darlegung, daß bei Anwendung dieser Grundsätze der Blutalkoholgehalt, den G. - nach Meinung des Prof. Dr. W... - etwa zwei Stunden vor dem Unfall gehabt haben mag, als unerheblich ausscheidet; vielmehr hat die Beurteilung sich lediglich auf die Verhältnisse unmittelbar vor Eintritt des Unfalls zu erstrecken.

Aus dem Unfallhergang hat das LSG - entgegen der von der Revision vertretenen Ansicht - rechtlich bedenkenfrei gefolgert, der Unfall sei nicht dadurch wesentlich verursacht worden, daß G. unter einer Alkoholeinwirkung stand, welche zur fraglichen Zeit noch einem Blutalkoholgehalt zwischen 1,25 und 1,3 ‰ entsprach. Das Revisionsvorbringen läßt jedenfalls nicht erkennen, inwieweit das LSG hierbei die Grenzen seines Beweiswürdigungsrechts überschritten, insbesondere gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze des täglichen Lebens verstoßen haben könnte. Zwar hat das LSG in diesem Zusammenhang das von Prof. Dr. W... erstattete Gutachten nicht ausdrücklich angeführt, es hat sich jedoch offensichtlich mit den darin enthaltenen Argumenten auseinandergesetzt und sie als nicht überzeugend abgelehnt. Damit hat sich das LSG noch im Rahmen einer gesetzmäßigen Beweiswürdigung gehalten. Da es sich bei der hier zu prüfenden Frage nicht um eine solche rein medizinischer Natur handelte, war das LSG nicht gehindert, eine vom gerichtsmedizinischen Gutachten abweichende eigene Auffassung zu vertreten. Das LSG hat diese eigene Auffassung zwar etwas knapp, aber doch immerhin noch ausreichend schlüssig begründet. Jedenfalls stellt die auf das Gutachten des Prof. Dr. W... gestützte gegenteilige Ansicht der Beklagten keineswegs etwa die allein der Lebenserfahrung entsprechende Deutung des Unfallgeschehens dar. Sie läßt vielmehr einen Umstand völlig außer acht, der möglicherweise die von G. gefahrene, zum Zustandekommen des Unfalls wesentlich beitragende überhöhte Geschwindigkeit besser erklären könnte als die Annahme einer alkoholbedingten Enthemmung: Da nämlich G. sich - ohne sein Zutun - auf der Heimfahrt durch mehrere Aufenthalte erheblich verspätet hatte, liegt die Vermutung nahe, daß er versuchen wollte, durch Übernahme der Lenkung und schnelleres Fahrtempo möglichst etwas von dem Zeitverlust wieder aufzuholen, um nicht allzu spät nach Hause zu gelangen. Dieses Verhalten würde er bei gleicher Sachlage wahrscheinlich auch gezeigt haben, wenn er zur fraglichen Zeit keinen Alkohol genossen hätte. Die Voraussetzungen für einen Wegfall des Versicherungsschutzes sind hiernach vom LSG mit Recht als nicht gegeben erachtet worden.

Die Revision ist demgemäß unbegründet; sie war deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2308663

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