Leitsatz (amtlich)
Arbeitnehmer einer Molkereigenossenschaft sind nicht in der Landwirtschaft beschäftigt und daher nicht Mitglieder einer Landkrankenkasse.
Normenkette
RVO § 235 Abs. 1 Fassung: 1956-06-12, § 417 Fassung: 1924-12-15, § 776 Fassung: 1924-12-15, § 779 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. August 1960 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander Kosten des Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob versicherungspflichtige Beschäftigte von Molkereigenossenschaften mit Recht Mitglieder einer Landkrankenkasse (LKK) sind (§ 235 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
In den zum Verfahren beigeladenen sechs Molkereien - Beigeladene 1) bis 6) -, die sämtlich eingetragene Genossenschaften sind, werden die gleichfalls beigeladenen Arbeitnehmer - Beigeladene 7) bis 12) - beschäftigt. Sie sind bei der beklagten LKK gemeldet, die bis Ende 1958 mit der klagenden Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) eine gemeinsame Verwaltung hatte. Nach Aufgabe der Verwaltungsgemeinschaft nahm die AOK die in den Molkereien Beschäftigten als ihre Mitglieder in Anspruch. Da die LKK dem widersprach, erhob die AOK Klage mit dem Antrag festzustellen, daß die in den beigeladenen Molkereien Beschäftigten ihre Mitglieder seien.
Das Sozialgericht (SG) Stade wies die Klage ab: Die Beigeladenen seien in der Landwirtschaft beschäftigt; zu dieser gehörten alle Betriebe, deren Arbeitsrhythmus von dem natürlichen Rhythmus der Jahres- und Tageszeiten abhänge. Da die Molkereien zur Landwirtschaft gehörten, seien die von ihnen Beschäftigten bei der beklagten LKK zu versichern (Urteil vom 19. Juni 1959). Auf die Berufung der AOK hob das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen das Urteil des SG auf und stellte fest, daß die Beigeladenen zu 7) bis 12) Mitglieder der Klägerin sind.
Zur Begründung seiner Entscheidung führte das LSG im wesentlichen aus: Mitglieder der beklagten LKK könnten nach § 235 Abs. 1 RVO u. a. nur in der Landwirtschaft Beschäftigte sein. Unter Landwirtschaft sei die Nutzung von Grund und Boden zur Gewinnung pflanzlicher und tierischer Erzeugnisse sowie die unmittelbare Verwertung dieser Erzeugnisse einschließlich der erzeugten Pflanzen und Tiere selbst zu verstehen. Deshalb seien in der Landwirtschaft diejenigen beschäftigt, die ihre Arbeitskraft für die Bodenbewirtschaftung oder für die Erzeugung organischer Stoffe unmittelbar oder auch mittelbar einsetzten. Dazu gehörten jedoch nicht die Beschäftigten rechtsfähiger Molkerei-Genossenschaften. Unternehmer der Molkereien seien nicht die einzelnen der Genossenschaft angehörenden Landwirte, sondern die mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestatteten Genossenschaften selbst, die durch ihre gesetzlich und satzungsgemäß vorgesehenen Organe verwaltet würden. Die Genossenschaften betrieben keine Landwirtschaft im oben dargelegten Sinne, sondern reine Erwerbsgeschäfte mit der ihnen von den Genossen und anderen Milcherzeugern angelieferten Milch und Sahne. Zwar bestehe zwischen den Genossenschaften und den landwirtschaftlichen Betrieben ein enger wirtschaftlicher Zusammenhang, jedoch seien die Genossenschaften nach ihrem gesamten Aufbau wirtschaftlich und technisch eigenständige Unternehmen. Die Molkerei-Genossenschaften seien auch keine landwirtschaftlichen Nebenbetriebe im Sinne der §§ 417, 918 (aF) RVO, denn der Unternehmer der Landwirtschaft und des Nebenbetriebs müsse ein und dieselbe Person sein. Auch der Umstand, daß die Molkerei-Genossenschaften zu der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten gehörten, spreche dafür, daß es sich um gewerbliche Betriebe handele. - Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die beklagte LKK hat Revision eingelegt mit dem Antrag,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 9. August 1960 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 19. Juni 1959 zurückzuweisen.
Zur Begründung der Revision trägt die LKK im wesentlichen vor: Der Begriff des landwirtschaftlichen Betriebs habe sich mit der Struktur der Landwirtschaft erheblich gewandelt, insbesondere seien nach dem zweiten Weltkrieg Änderungen eingetreten, die in der Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit noch nicht berücksichtigt worden seien. Nach der Neufassung des Dritten Buches der RVO durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) umfasse die landwirtschaftliche Unfallversicherung auch die in "landtechnischen Lohnunternehmen" Beschäftigten; die landwirtschaftliche Unfallversicherung sei nunmehr auch für die Beschäftigten solcher Unternehmen zuständig, die Erzeugnisse der Landwirtschaft be- und verarbeiteten. Aus der Verordnung über die Gewährung von Betriebsbeihilfen für Betriebe der Landwirtschaft, des Garten- und des Weinbaues vom 25. Februar 1956 gehe ebenfalls hervor, daß der Gesetzgeber gewillt sei, den strukturellen Veränderungen Rechnung zu tragen, und zum Teil auch schon getragen habe. Die am Rechtsstreit beteiligten Molkerei-Genossenschaften seien nur Zusammenschlüsse von Landwirten, die in diesen Betrieben zur Ergänzung der einzelnen landwirtschaftlichen Betriebe der Genossenschaftsmitglieder landwirtschaftliche Erzeugnisse verarbeiteten, wie es der einzelne Betrieb sonst selbst getan hätte. Nur infolge der wirtschaftlichen Entwicklung der Landwirtschaft seien die Betriebsinhaber dazu übergegangen, diese Arbeiten nicht mehr in ihren eigenen landwirtschaftlichen Betrieben, sondern in einem genossenschaftlichen Betrieb zur Ergänzung ihres Betriebs verrichten zu lassen.
Die beigeladenen Molkerei-Genossenschaften und die Versicherten selbst schließen sich dem Antrag und den Ausführungen der beklagten LKK an und tragen ihrerseits vor: Sowohl die Molkerei-Genossenschaften als auch die in ihnen Beschäftigten betrachteten sich als in der Landwirtschaft tätig. Nach dem Genossenschaftsgesetz handele es sich bei der Genossenschaft nicht um eine Kapital-, sondern um eine Personengesellschaft. Die Genossenschaft sei nicht auf einen Erwerb ausgerichtet, sondern diene nur der Förderung des Erwerbs oder der Wirtschaft ihrer Mitglieder. Vorstand und Aufsichtsratsmitglieder der Genossenschaft seien ausschließlich Bauern. Nach dem Statut jeder Molkerei-Genossenschaft könnten nur solche Personen Mitglieder der Genossenschaft werden, die Milch lieferten, sie seien auch zur Milchlieferung verpflichtet. Die Molkerei zahle für die Milch keinen Kaufpreis, sondern setze jeweils monatlich durch ihren Vorstand im Einvernehmen mit dem Aufsichtsrat den Milchauszahlungspreis fest, der sich aus den von der Genossenschaft erzielten Erlösen jeweils ergebe. Die Molkerei-Genossenschaften seien als "verlängerter Arm des Bauern" anzusehen, was sich auch daraus ergebe, daß Molkerei-Genossenschaften körperschaftssteuerfrei seien, wenn sich ihre Betätigung im "Bereich der Landwirtschaft" bewege.
Die klagende AOK hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II.
Die Revision ist nicht begründet.
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, ob die in Genossenschaftsmolkereien tätigen versicherungspflichtigen Arbeitnehmer als "in der Landwirtschaft Beschäftigte" im Sinne des § 235 RVO angesehen werden können. Das LSG hat dies mit Recht verneint.
Für die Beurteilung, ob eine Beschäftigung in der Landwirtschaft vorliegt, kommt es entscheidend auf die Zugehörigkeit zu einem landwirtschaftlichen Betrieb an (vgl. BSG 10, 85, 87; 14, 78, 79; 17, 22, 23). Wie der Senat in seiner Entscheidung vom 28. Februar 1961 (BSG 14, 78 80) näher dargelegt hat, ist der Begriff "Landwirtschaft" in der gesetzlichen Krankenversicherung (KrV) und Unfallversicherung (UV) grundsätzlich derselbe. Nach der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts (RVA), der sich der Senat angeschlossen hat, liegt ein landwirtschaftlicher Betrieb grundsätzlich nur dann vor, wenn der Unternehmer über Grund und Boden verfügt, der zum Zwecke der Gewinnung organischer Naturerzeugnisse bearbeitet wird. Dazu gehören jedoch nicht die mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestatteten Molkerei-Genossenschaften, auch wenn ihnen im wesentlichen Landwirte angehören.
Zu den landwirtschaftlichen Unternehmen, die von der landwirtschaftlichen UV erfaßt werden, gehören in erster Linie die bisher in § 915 Abs. 1 Buchst. a) RVO genannten Unternehmen. Diese sind nunmehr in § 776 Abs. 1 Nr. 1 RVO nF aufgeführt, der mit Wirkung vom 1. Juli 1963 in Kraft getreten ist (Art. 4 § 16 Nr. 1 UVNG vom 30. April 1963, BGBl I 241). Landwirtschaftliche Unternehmen in diesem Sinne sind aber nicht Molkereien, sei es, daß sie von einem Einzelunternehmer oder von einer Genossenschaft betrieben werden. Sie sind zwar mit der Landwirtschaft wirtschaftlich eng verbunden, denn sie be- und verarbeiten die in landwirtschaftlichen Betrieben erzeugte Milch. Sie sind aber keine landwirtschaftlichen Unternehmen im Sinne des § 915 Abs. 1 Buchst. a) RVO aF (= § 776 Abs. 1 Nr. 1 RVO nF), weil sie sich nicht mit der Bodenbewirtschaftung befassen. Die Be- und Verarbeitung der in landwirtschaftlichen Betrieben erzeugten Milch ist grundsätzlich Aufgabe der Molkereien, die nach § 1 Abs. 4 des Milch- und Fettgesetzes in der Fassung vom 10. Dezember 1952 (BGBl I 811) verpflichtet sind, Milch und Sahne (Rahm) von den Milcherzeugern abzunehmen, welche die oberste Landesbehörde einzeln oder ortsweise bestimmt. Die Milcherzeuger sind nach § 1 Abs. 1 des Milch- und Fettgesetzes verpflichtet, Milch und Sahne (Rahm), die sie in den Verkehr bringen, an eine von der obersten Landesbehörde für Ernährung und Landwirtschaft bestimmte Molkerei zu liefern und bedürfen zur Abgabe dieser Erzeugnisse an Milchhändler, Groß- und Einzelverbraucher einer Ausnahmegenehmigung (§ 1 Abs. 3 des Milch- und Fettgesetzes). Aus dieser gesetzlich geregelten Aufgabenverteilung ist ebenfalls zu schließen, daß die Molkereien nicht als landwirtschaftliche Unternehmen im Sinne des § 915 Abs. 1 Buchst. a) RVO aF (= § 776 Abs. 1 Nr. 1 RVO nF) anzusehen sind.
Nach § 915 Abs. 2 RVO aF konnte das RVA bestimmen, welche Unternehmenszweige "als landwirtschaftliches Unternehmen gelten". Auf Grund dieser Vorschrift wurden zum Beispiel Lohndreschereien und Lohnpflügereien (AN 1934, 82), Kartoffeldämpfbetriebe (AN 1937, 299) und Landeskontrollverbände - Milchkontrollvereine - (AN 1938, 133) einem landwirtschaftlichen Unternehmen gleichgestellt. Eine Bestimmung nach § 915 Abs. 2 RVO aF ist aber für Molkereibetriebe nicht ergangen.
Als in der Landwirtschaft Beschäftigter gilt nach § 417 RVO auch, wer in landwirtschaftlichen Nebenbetrieben (§§ 918 bis 921 RVO aF) oder in landwirtschaftlichen Betrieben beschäftigt wird, die Nebenbetriebe eines gewerblichen Betriebes sind und nicht nach § 547 Abs. 1 (früher § 540) RVO durch die Satzung einer gewerblichen Berufsgenossenschaft bei dieser versichert ist. Die Molkerei-Genossenschaften zählen nicht zu den landwirtschaftlichen Nebenbetrieben im Sinne des § 918 RVO aF (jetzt § 779 Abs. 1 RVO nF). Ein der landwirtschaftlichen UV unterliegender Nebenbetrieb liegt nach Wortlaut und Zweck des Gesetzes nur dann vor, wenn der Unternehmer des landwirtschaftlichen und des anderen Betriebes personengleich sind (vgl. BSG 17, 24). Eine solche Personengleichheit ist jedoch bei der von einer Genossenschaft betriebenen Molkerei selbst dann nicht gegeben, wenn der Genossenschaft nur Landwirte angehören. Die Genossenschaft dient zwar der Förderung des Erwerbs oder der Wirtschaft ihrer Mitglieder (§ 1 des Genossenschaftsgesetzes). Sie besitzt aber eigene Rechtspersönlichkeit und betreibt, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, ein von den landwirtschaftlichen Betrieben ihrer Mitglieder rechtlich unabhängiges eigenes Unternehmen.
Einer Entscheidung darüber, ob die Molkerei-Genossenschaften etwa als Unternehmen "zur Förderung der Landwirtschaft" im Sinne des § 776 Abs. 1 Nr. 4 RVO nF angesehen werden können, bedarf es nicht. Selbst wenn man annehmen wollte, daß die Molkerei-Genossenschaften auf Grund dieser Vorschrift nunmehr von der landwirtschaftlichen UV umfaßt werden, so können sie in der KrV nach der jetzt geltenden gesetzlichen Regelung (§§ 235, 417 RVO) doch nicht als landwirtschaftliche Betriebe oder Nebenbetriebe angesehen werden.
Daß die Molkerei-Genossenschaften von der Körperschaftssteuer befreit sind (§ 23 des Körperschaftssteuergesetzes in der Fassung vom 13. September 1961, BGBl I 1723 in Verbindung mit § 31 Abs. 1 Nr. 2 der Körperschaftssteuer-Durchführungsverordnung in der Fassung vom 6. Juni 1962, BGBl I 408), daß die in Molkereien gewonnenen Milchprodukte als landwirtschaftliche Erzeugnisse im Sinne des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen gelten (§ 1 der Verordnung über die Benennung von Waren als landwirtschaftliche Erzeugnisse im Sinne des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 29. Oktober 1960, BGBl I 837), und daß Betriebe, die für landwirtschaftliche Betriebe landwirtschaftliche Arbeiten ausführen - insbesondere Lohnbetriebe, Betriebe von Genossenschaften und Maschinengemeinschaften -, zu den landwirtschaftlichen Betrieben im Sinne der Verordnung über die Gewährung von Betriebsbeihilfen für Betriebe der Landwirtschaft, des Garten- und Weinbaues vom 25. Februar 1956 (BGBl I 87) zählen, rechtfertigt es nicht, die in Molkerei-Genossenschaften beschäftigten Arbeitnehmer entgegen der für die KrV maßgebenden gesetzlichen Regelung als "in der Landwirtschaft Beschäftigte" (§ 235 Abs. 1 RVO) anzusehen.
Schließlich sei auf die in der Arbeitslosenversicherung bestehende Sonderregelung hingewiesen, wonach als land- oder forstwirtschaftliche Beschäftigung im Sinne der §§ 59 und 60 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - AVAVG - in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. April 1957 (BGBl I 321) nur die Beschäftigung eines Arbeitnehmers gilt, die ihrer Art nach unmittelbar der Gewinnung land- oder forstwirtschaftlicher Naturprodukte in einem land- oder forstwirtschaftlichen Betriebe dient, während eine nur mittelbar der Land- oder Forstwirtschaft dienende Beschäftigung nichtlandwirtschaftlicher Art, insbesondere eine solche verarbeitender, handwerklicher oder kaufmännischer Art, auch dann nicht gemäß §§ 59 und 60 AVAVG versicherungsfrei ist, wenn sie in einem land- oder forstwirtschaftlichen Betrieb ausgeübt wird (§ 61 AVAVG).
Die Revision ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen