Orientierungssatz
Zur Frage der BU eines selbständigen Frisörmeister, der einen mittleren Betrieb betreibt.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 05.11.1976; Aktenzeichen L 14 J 271/75) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 10.10.1975; Aktenzeichen S 12 J 88/74) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. November 1976 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der am 19. April 1915 geborene Kläger ist seit dem Jahre 1945 selbständiger Friseurmeister und betreibt seit mehreren Jahren ein Friseurgeschäft mit in der Regel drei Friseusen und drei Lehrlingen. Im Januar 1973 stellte er einen Rentenantrag. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20. März 1974 ab. Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Duisburg mit Urteil vom 10. Oktober 1975 abgewiesen. Die vom Kläger eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 5. November 1976 zurückgewiesen.
Nach den Feststellungen des LSG kann der Kläger noch leichte Innendiensttätigkeiten mit der Möglichkeit zu zeitweiligem Sitzen, insbesondere aufsichtsführende Tätigkeiten im eigenen Handwerksbetrieb, vollschichtig verrichten; eine wesentliche manuelle Arbeit komme aber nicht mehr in Betracht. Damit könne er zwar in seinem Friseurbetrieb wesentliche handwerkliche Arbeiten und mithin die Friseurtätigkeit am Kunden selbst nicht mehr ausüben. Gleichwohl sei er noch in der Lage, die sog. gesetzliche Lohnhälfte im eigenen Gewerbebetrieb zu erzielen. Es könne sonach dahinstehen, ob er als selbständiger Handwerker auch auf eine abhängige Beschäftigung verweisbar wäre. Der in der früheren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) aufgestellte Grundsatz, wonach selbständige Handwerker immer berufsunfähig seien, wenn sie in ihrem Handwerk die wesentlichen körperlichen und geistigen oder auch nur eine dieser Tätigkeiten nicht oder nicht mehr in hinreichendem Umfang ausüben können, dürfe nicht schlechthin für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit eines Handwerkers herangezogen werden, weil er in dieser Form infolge unzureichender Berücksichtigung der individuellen Gestaltung der einzelnen Handwerksbetriebe zu unbefriedigenden und nicht systemgerechten Ergebnissen führen könne. Wenn ein Handwerker vor dem gesundheitlich bedingten Leistungsabfall einen größeren Betrieb lediglich geleitet habe, ohne selbst handwerklich mitzuarbeiten, dann trete durch den Wegfall der Fähigkeit zur Verrichtung körperlicher Arbeit für ihn kein Wechselfall des Lebens ein, weil sein Gewerbebetrieb in der bisherigen Art und Weise voll funktionsfähig bleibe und gegenüber einem vergleichbaren Handwerksbetrieb keine Veränderung eintrete. Maßgebend sei, welche Tätigkeiten der Handwerker vor dem gesundheitlich bedingten Leistungsabfall tatsächlich ausgeführt habe und inwieweit der zuvor tatsächlich eingeführt gewesene betriebliche Arbeitsablauf infolge der Minderung seiner beruflichen Leistungsfähigkeit nunmehr beeinträchtigt werde. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe der Kläger bereits im Jahre 1971, als sein berufliches Leistungsvermögen noch nicht in nennenswertem Umfang herabgesetzt gewesen sei, ein größeres Friseurgeschäft betrieben, in welchem er schon damals überwiegend beaufsichtigend und beratend gearbeitet habe. Seine persönliche Arbeit am Kunden sei geringer gewesen als die Hälfte seiner Gesamttätigkeit für seinen Betrieb. Somit könne er auch noch heute dem überwiegenden Teil seiner damaligen Arbeit im Geschäft nachgehen. Rechtlich unerheblich sei es, wenn der Kläger die aufsichtsführenden und beratenden Tätigkeiten heute nur noch etwa vier Stunden und in einem geringeren Umfang als früher ausübe. Es komme lediglich auf die objektiv vorhandene Leistungsfähigkeit an und es sei auch nicht bedeutsam, daß der Kläger den Herrensalon inzwischen geschlossen habe und aus dem Warenverkauf nur unwesentliche Einkünfte erzielt würden. Vielmehr müsse entscheidend ins Gewicht fallen, daß der Geschäftsumfang im wesentlichen gleichgeblieben sei. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Mit der Revision macht der Kläger eine Abweichung von der Rechtsprechung des BSG in BSGE 2, 91 ff und SozR Nr 3 zu § 27 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) aF geltend. Nach dieser Rechtsprechung sei er berufsunfähig. Außerdem habe das LSG den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Insbesondere hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, Widersprüche in der Aussage der Zeugin P aufzuklären. Dann hätte es nicht zu dem Ergebnis kommen können, daß seine persönliche Arbeit am Kunden bereits vor dem Eintreten der Minderung seiner beruflichen Leistungsfähigkeit geringer gewesen sei als die Hälfte seiner gesamten Tätigkeit für seinen Betrieb. Schließlich habe das LSG bei der Würdigung einer Sachauskunft der Friseurinnung Essen sein Recht auf freie Beweiswürdigung überschritten.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Urteils und Aufhebung der zugrunde liegenden Entscheidungen zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Februar 1973 zu gewähren,
hilfsweise,
die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beklagte hält das Urteil des LSG für richtig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet, soweit der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen worden ist.
Der erkennende Senat hält an seiner im Urteil vom 28. Januar 1977 (SozR 2200 Nr 14) ausgesprochenen und auf die vorhergehende Rechtsprechung des BSG (BSGE 2, 91, 93 und SozR Nr 3 zu § 27 AVG aF) aufbauende Rechtsansicht fest. Danach darf ein selbständiger Handwerksmeister, der einen Handwerksbetrieb bis zu einer mittleren Größe betreibt und der die wesentlichen körperlichen Tätigkeiten seines Handwerks nicht mehr verrichten kann, bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit nicht auf die ihm verbliebenen übrigen Tätigkeiten in seinem Handwerksbetrieb verwiesen werden. Wie der Senat in der genannten Entscheidung dargelegt hat, ergibt sich dies aus der Eigenart selbständiger handwerklicher Berufsausübung, die darin besteht, daß ein solcher Handwerker in der Regel zugleich Unternehmer und persönlich mitarbeitender Leiter seines Betriebes ist. Der Beruf fordert von einem selbständigen Handwerker auch dann, wenn er einen mittleren Betrieb betreibt, handwerkliche Fähigkeiten und geistige Leistungen. Bei einem Friseurbetrieb mit drei Friseusen und drei Lehrlingen handelt es sich um einen mittleren Betrieb.
Da der Kläger nach den Feststellungen des LSG in seinem Friseurbetrieb wesentliche handwerkliche Arbeiten und die Friseurtätigkeit am Kunden nicht mehr verrichten kann, ist er als selbständiger Handwerksmeister zur Abwendung der Berufsunfähigkeit nicht auf die Tätigkeiten (zB kaufmännischen Tätigkeiten) zu verweisen, die er in seinem Betrieb noch ausüben könnte. Wenn selbständige Handwerker, die wegen ihres Gesundheitszustandes die wesentlichen körperlichen Tätigkeiten ihres Handwerks nicht mehr verrichten und auch nicht mehr auf abhängige Beschäftigungen verwiesen werden können, noch auf beaufsichtigende oder kaufmännische Tätigkeiten im eigenen Betrieb verweisbar wären, würden sie gegenüber anderen Versicherten benachteiligt.
Aus den Feststellungen des LSG ergibt sich, daß der Kläger vor dem gesundheitlich bedingten Leistungsabfall noch die Friseurtätigkeit am Kunden ausüben konnte. Es kommt nicht darauf an, ob seine persönliche Arbeit am Kunden damals geringer als die Hälfte seiner gesamten Tätigkeit für seinen Betrieb gewesen ist. Entscheidend ist allein, daß er jetzt diese handwerkliche Tätigkeit nicht mehr ausüben kann. Aus der Rechtsprechung des BSG ergibt sich auch kein besonderer unzulässiger Gruppenschutz für selbständige Handwerker, denn eine Verweisung auf abhängige Beschäftigungen ist grundsätzlich auch bei selbständigen Handwerksmeistern zulässig (vgl. SozR Nr 69 zu § 1246 RVO, SozR 2200 § 1246 Nr 16 und Urteil des BSG vom 29. Juli 1976 - 4/12 RJ 74/75 -). Hierbei ist allerdings zu beachten, daß bei einem selbständigen Handwerksmeister von der Gruppe auszugehen ist, deren Leitberuf der des Meisters oder des Hilfsmeisters im Arbeitsverhältnis bzw. der des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion ist. Er kann also zumutbar nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die in die Gruppe der Facharbeiter fallen oder die tariflich etwa gleich hoch eingestuft sind (vgl BSG in SozR 2200 § 1246 Nr 16).
Da das LSG nach der von ihm vertretenen Ansicht die Möglichkeit einer Verweisbarkeit auf abhängige Beschäftigungen nicht zu prüfen brauchte und diese Möglichkeit in seinem Urteil ausdrücklich hat dahingestellt sein lassen, konnte der Senat nicht abschließend entscheiden. Die Rechtssache mußte daher an das LSG zurückverwiesen werden, damit die unterlassene Prüfung nachgeholt werden kann, ohne daß es auf die von der Revision noch geltend gemachten Verfahrensrügen ankommt.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.
Fundstellen