Orientierungssatz
Zur Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumung durch Organisationsverschulden (hier: fristwahrender Schriftsatz an falschen Adressaten durch Sammelpost.)
Normenkette
SGG § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. Februar 1974 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Das Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 28. August 1973, mit welchem die Beklagte verpflichtet wurde, die Teilnahme des Klägers an einem Akademiekurs für leitende Tätigkeit in Sozial- und Jugendhilfe zu fördern, ist der Beklagten am 17. September 1973 zugestellt worden. Die mit dem Briefkopf an das "Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, 16. Senat, Essen, Zweigertstr. 54", gerichtete Berufungsschrift der Beklagten mit Datum vom 10. Oktober 1973 trägt den Eingangsstempel des Gerichts vom 24. Oktober 1973 und den - handschriftlich von der Posteingangsstelle angebrachten - Vermerk: "durch den Posteingang nicht gelaufen".
Nach den vom Landessozialgericht (LSG) getroffenen Feststellungen hat der für die Berufung beim Landesarbeitsamt (LAA) zuständige Sachbearbeiter die Berufungsschrift am 10. Oktober 1973 gefertigt und diese zur Poststelle zur Weiterbeförderung an das LSG gegeben. Die Berufungsschrift ist am 11. Oktober 1973 vom LAA abgesandt worden. Sie ist jedoch versehentlich in einen Umschlag gesteckt worden, der an den damaligen Richter am LSG - jetzt Vorsitzenden Richter am LSG - H (H.) adressiert war. Dem genannten Richter ist in diesem Umschlag gleichzeitig eine Ausgabe des Dienstblattes C der Bundesanstalt für Arbeit (BA) übersandt worden. H. befand sich vom 8. Oktober bis 2. November 1973 im Urlaub. Wegen der Teilnahme an einer Grippeimpfung hat er am 15. Oktober 1973 das Gericht und sein Dienstzimmer aufgesucht, dabei den fraglichen Brief auf seinem Schreibtisch vorgefunden, aber aus Zeitmangel nicht geöffnet, zumal er in dem Umschlag lediglich die Nachtragslieferung des Dienstblattes C vermutete. Nach den bisherigen Gepflogenheiten der Beklagten hat er nicht mit einer anderen Postsendung gerechnet.
Das LSG hat mit Urteil vom 28. Februar 1974 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG vom 28. August 1973 als unzulässig verworfen und ausgeführt: Die Berufung sei verspätet eingelegt worden. Die Frist zur Einlegung der Berufung, die am 17. Oktober 1973 abgelaufen sei, sei entgegen der Ansicht der Beklagten nicht gewahrt worden, obgleich das Berufungsschreiben "rein räumlich gesehen" innerhalb der Berufungsfrist in das Gerichtsgebäude gelangt sei. Dies genüge jedoch nicht zur Fristwahrung. Das Berufungsschreiben hätte in die "tatsächliche Verfügungsmacht" des LSG gelangen müssen, d.h., für das LSG hätte die Möglichkeit bestehen müssen, den Inhalt der Berufungsschrift zur Kenntnis zu nehmen. Daran fehle es hier auch noch nach Ablauf der Berufungsfrist bis zum 24. Oktober 1973, an welchem das Schriftstück an die Poststelle des Gerichts gelangt sei.
Der Beklagten könne keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gewährt werden. Die Fristversäumnis beruhe auf Umständen, die die Beklagte zu vertreten habe, und zwar insbesondere deshalb, weil sie in ihrer Geschäftsordnung keinerlei Vorsorge für einen zuverlässigen Versand von Rechtsmittelschriften getroffen habe. Fristwahrende Schriftsätze würden nämlich nicht anders behandelt als gewöhnliche Briefe. Die Versendung habe - wo dies möglich sei - nach den einschlägigen Verwaltungsvorschriften stets per Sammelpost zu erfolgen, und die entsprechende Zusammenfassung der Postausgänge bleibe den Hilfskräften der Postabsendestelle überlassen. Hinsichtlich der Behandlung von Rechtsmittelschriften hätten die Bediensteten insoweit keine besonderen Weisungen erhalten. Das Verschicken von Rechtsmittelschriften mit allgemeiner Sammelpost berge nicht nur die Gefahr einer verzögerten Absendung, sondern auch die der fehlsamen Zuordnung zu einer nicht den richtigen Adressaten betreffenden Sammelsendung in sich. Die Beklagte hätte daher - aus der Sicht eines gewissenhaften Prozeßführenden - in ihrer Geschäftsordnung entsprechende Vorsorge treffen müssen, um Zugangsfehlern vorzubeugen.
Aber auch dann, wenn man eine gesonderte - erhöhten Anforderungen Rechnung tragende - Regelung für den Versand von Rechtsmittelschriften in der Geschäftsordnung des LAA für entbehrlich halten wollte, läge ein Verschulden der Beklagten vor. Sie hätte dann nämlich in jedem Falle durch besondere, die Behandlung von Rechtsmittelschriften betreffende Belehrungen ihrer auf der Poststelle beschäftigten Hilfskräfte und entsprechende Überwachungsmaßnahmen einer fehlerhaften Übersendung entgegenwirken müssen.
Da somit die Berufungsfrist versäumt sei, sei das Rechtsmittel der Berufung unzulässig.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 67, 103, 128, 158 SGG durch das LSG und bringt hierzu insbesondere vor, daß das Berufungsgericht zu Unrecht ein Prozeßurteil erlassen habe. Es habe der Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG gewähren müssen, weil die Berufungsfrist ohne ihr Verschulden versäumt worden sei. Das LSG habe die Anforderungen an ihre - der Beklagten - Sorgfaltspflichten überspannt. Es habe im übrigen übersehen, daß das von ihm angenommene Organisationsverschulden überhaupt nicht für die Versäumung der Berufungsfrist ursächlich gewesen sei. Sie habe dargelegt, daß die Poststelle beim LAA von einer langjährigen erfahrenen Kraft beaufsichtigt werde, die Hilfskräfte über ihre Pflichten unterrichtet und durch Stichproben geprüft worden sei, ob die ausgehende Post ordnungsgemäß behandelt werde. Für eine besondere Behandlung der streitigen Berufungsschrift habe deshalb keine Notwendigkeit bestanden, weil von der Übergabe der Berufungsschrift an die Poststelle bis zum Ablauf der Berufungsfrist noch eine Woche Zeit gewesen sei. Im übrigen sei die in der Geschäftsordnung enthaltene Bestimmung, daß mehrere an denselben Adressaten gerichtete Schriftstücke durch Sammelpost zugesandt werden sollten, schon deshalb nicht für den verspäteten Eingang der Berufungsschrift ursächlich, weil bei einer Versendung durch Sammelpost (mit der richtigen Anschrift auf dem Umschlag) das Berufungsschreiben spätestens am 15. Oktober 1973 - wie sich aus dem dienstlichen Vermerk des H. ergebe - an die Geschäftsstelle des LSG gelangt wäre, also noch vor Ablauf der Berufungsfrist.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten und hat keinen Antrag gestellt.
Im übrigen wird zur weiteren Darstellung des Sachverhalts auf die Akten sowie die Revisionsbegründung der Beklagten vom 15. Juli 1974 verwiesen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Abs. 2 SGG zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG in der vor dem 1. Januar 1975 geltenden Fassung (aF) zugelassen hat, ist sie im vorliegenden Fall nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG i.S. des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG aF gerügt wird und vorliegt (BSGE 1, 150). Die Beklagte rügt zu Recht, daß das LSG anstelle einer Sachentscheidung ein Prozeßurteil erlassen hat. Darin liegt ein wesentlicher Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts i.S. des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG aF.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Berufungsschrift der Beklagten vom 10. Oktober 1973 erst am 24. Oktober 1973 (Eingangsstempel der Geschäftsstelle des LSG) und nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt - etwa mit Eingang des an H. gerichteten Briefes bei Gericht - eingegangen ist. Die Berufungsschrift muß an denjenigen gelangen, der für die Entgegennahme derartiger Schriftsätze zuständig ist (vgl. BGHZ 2, 31). Da die Berufungsfrist am 17. Oktober 1973 ablief, ist die Berufungsschrift somit verspätet eingegangen.
Entgegen der Auffassung des LSG ist der Beklagten jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG zu gewähren. Nach dieser Vorschrift ist einem Beteiligten, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ein Verschulden i.S. des § 67 Abs. 1 SGG liegt nicht vor, wenn der Beteiligte die Sorgfaltspflicht beachtet hat, die einem gewissenhaften Prozeßführenden nach den jeweiligen Umständen zuzumuten ist. Dabei kommt es nicht nur auf das Verhalten des Beteiligten selbst an; auch das Verschulden seines Prozeßbevollmächtigten schließt die Wiedereinsetzung aus (vgl. BSGE 11, 158; ferner SozR SGG Nrn. 2 und 7 zu § 67). Im vorliegenden Fall ist bei der Beurteilung der Frage, ob der Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, zunächst davon auszugehen, ob der von ihr mit der Einlegung von Berufungen Beauftragte die im Prozeßrecht erforderliche Sorgfalt hat walten lassen; insoweit ist er - sofern ihm ein Verschulden bei der Einlegung der Berufung zuzurechnen ist - wie ein Prozeßbevollmächtigter eines Beteiligten - hier der Beklagten - zu behandeln. Ein solches Verschulden ist nicht ersichtlich. Der mit der Einlegung von Berufungen betraute Beamte des LAA hat das mit einer ordnungsgemäßen Anschrift versehene Berufungsschreiben am 10. Oktober 1973, also eine Woche vor Ablauf der Berufungsfrist, gefertigt; dieses Schreiben ist am 11. Oktober 1973 an die Poststelle des LAA gelangt. Insoweit brauchte der beauftragte Beamte keine besonderen Vorkehrungen zu treffen, um den rechtzeitigen Eingang der Berufungsschrift beim LSG zu gewährleisten, insbesondere war er nicht verpflichtet - etwa wegen der demnächst ablaufenden Berufungsfrist - besondere Maßnahmen zu treffen, so z.B. einen Vermerk auf der Berufungsschrift selbst wegen der Eilbedürftigkeit anzubringen. Bei der vom Tage der Übergabe an die Poststelle des LAA an noch zur Verfügung stehenden Laufzeit bis zum Ablauf der Berufungsfrist am 17. Oktober 1975 konnte er - ohne Verletzung seiner ihm obliegenden Sorgfaltspflicht - damit rechnen, daß das Berufungsschreiben noch rechtzeitig an die zuständige Stelle, also die Geschäftsstelle des LSG, gelangen würde. Das Versehen, durch welches die Berufungsschrift nicht rechtzeitig an den zuständigen Adressaten gelangt ist, liegt an der Behandlung der Berufungsschrift durch die Poststelle. Ein Verschulden von Hilfspersonen des Beteiligten oder seines Vertreters ist im Rahmen des § 67 Abs. 1 SGG nur dann beachtlich, wenn es von dem Beteiligten oder dem Vertreter selbst zu vertreten ist. Ist dies nicht der Fall, so ist das Verschulden der Hilfsperson nicht dem Beteiligten oder Vertreter zuzurechnen (vgl. BGH in Versicherungsrecht, 1971, 372; BVerwG, NJW 1972, 1434). Da der von der Beklagten beauftragte Sachbearbeiter - wie ausgeführt - der Hilfsperson in der Poststelle des LAA im vorliegenden Fall keine besonderen Hinweise oder Anweisungen für eine "besondere Behandlung" der Berufungsschrift zu geben brauchte, kommt es also wie das LSG richtig gesehen hat - darauf an, ob ein Verschulden der Beklagten selbst, insbesondere ein sogenannter Organisationsmangel, ursächlich für die Fristversäumnis gewesen ist. Das ist - entgegen der Auffassung des LSG - nicht der Fall. Es kann dahinstehen, ob ein Organisationsmangel darin liegt, daß nach der Geschäftsordnung des LAA (Nr. 52 iVm Nr. 32) die fristwahrenden Schriftsätze grundsätzlich als "gewöhnliche Briefpost" behandelt werden, denn ein solcher Organisationsmangel wäre für den verspäteten Eingang der Berufungsschrift jedenfalls nicht ursächlich gewesen. Einer besonderen Kennzeichnung bedurfte die am 10. Oktober 1973 gefertigte Berufungsschrift im vorliegenden Fall nicht, weil sie auch durch Übersendung als "gewöhnliche Briefpost" bei der erfolgten Absendung am 11. Oktober 1973 noch bis zum 17. Oktober 1973, also rechtzeitig, an das Gericht gelangt wäre, sofern sie nicht in einen falsch adressierten Umschlag (als Sammelpost an H.) gesteckt worden wäre. Gleichermaßen kann dahinstehen, ob sich aus der in Nr. 52 der Geschäftsordnung enthaltenen Regelung, wonach "Sendungen an denselben Empfänger zu einer Sendung zusammenzufassen" sind (Sammelpost) ein Organisationsverschulden der Beklagten ergibt. Auch diese Verfahrensweise ist für den verspäteten Zugang nicht ursächlich gewesen. Der Hinweis des LSG auf die Entscheidung des 1. Senats des Bundessozialgerichts vom 26. Oktober 1960 (Breithaupt 1961, 476) geht insoweit fehl. Diese Entscheidung befaßt sich mit sog. Sammelsendungen, die als Sendungen "mit anderem aufgelaufenen Schriftgut" versandt werden. Um eine derartige "Sammelpost" handelt es sich aber bei der in Nr. 52 der Geschäftsordnung der Beklagten vorgesehenen Sammelversendung der Post nicht. In dieser Bestimmung wird nur angeordnet, daß "Sendungen an denselben Empfänger" als Sammelpost, d.h. in ein und demselben Umschlag zu versenden sind; insoweit werden also nicht etwa Postsendungen mehrere Tage angesammelt und erst, nachdem das Schriftgut "aufgelaufen" ist, an den Adressaten abgeschickt. Sofern am 11. Oktober 1973, als der (verspätet eingegangene) Berufungsschriftsatz abgesandt worden ist, weiteres Schriftgut für das LSG in einer Sammelpost mit richtiger Adressierung abgesandt worden wäre, hätte dieser das Gericht noch rechtzeitig bis zum 17. Oktober 1973 erreicht. Im übrigen würde auch ein besonderer Hinweis in der Geschäftsordnung auf die Bedeutung fristwahrender Schriftsätze keine Gewähr dafür bieten, daß ein solcher Schriftsatz nicht in einen Umschlag mit falscher Adressierung gelangen könnte, und es so zu einer Versäumung der Frist käme. Zumindest ist also davon auszugehen, daß - sofern man mit dem LSG von einem Organisationsverschulden der Beklagten ausginge - dieses Verschulden für die Versäumung der Rechtsmittelfrist nicht ursächlich gewesen wäre.
Die Beklagte hat im übrigen glaubhaft gemacht, daß der Leiter der Poststelle sowie die Beschäftigten auf die sorgfältige Behandlung der Post hingewiesen und die Sorgfalt der Arbeit durch Stichproben überprüft worden ist. Nach allem ist also davon auszugehen, daß die Versäumung der Berufungsfrist unverschuldet i.S. des § 67 Abs. 1 SGG war, so daß der Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.
Das LSG hat somit § 67 Abs. 1 SGG verletzt; es hätte statt des Prozeßurteils ein Sachurteil fällen müssen. Hierin liegt ein wesentlicher Mangel in seinem Verfahren i.S. des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG aF, so daß die Revision statthaft ist. Das angefochtene Urteil beruht auf diesem Mangel.
Da für eine Sachentscheidung des Senats keine Feststellungen getroffen sind, muß die Sache an das LSG zur abschließenden Entscheidung zurückverwiesen werden.
Das Berufungsgericht wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen