Verfahrensgang
BGH (Entscheidung vom 03.12.2010; Aktenzeichen 3 BJs 11/06-4) |
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Tatbestand
Die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die Vereinbarkeit von § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
I.
1. Der Beschwerdeführer, ein in Frankreich wohnhafter ruandischer Staatsangehöriger, wurde auf der Grundlage des Haftbefehls der Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofs vom 28. September 2010 – ICC-01/04-01/10 – in französische Auslieferungshaft genommen. Ihm wird vorgeworfen, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verantwortlich zu sein, die ihm unterstehende Milizionäre in der Demokratischen Republik Kongo zwischen Januar und Dezember 2009 begangen haben sollen.
2. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof leitete ebenfalls Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer ein. Im Hinblick auf das von der Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs betriebene Ermittlungsverfahren sah der Generalbundesanwalt jedoch mit dem angegriffenen Bescheid vom 3. Dezember 2010 nach § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO von der Verfolgung der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Straftaten ab, soweit dieser verdächtig sei, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen nach §§ 7, 8, 9 und 11 in Verbindung mit § 4 des Völkerstrafgesetzbuchs vom 26. Juni 2002 (VStGB – BGBl I S. 2254) begangen zu haben.
Entscheidungsgründe
II.
Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer trägt im Wesentlichen vor, dass er entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG seinem gesetzlichen Richter entzogen worden sei. Der Generalbundesanwalt habe mit dem Absehen der Verfolgung ihm zur Last gelegter Straftaten nach § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs nach Art. 17 Abs. 1 lit. a des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 (IStGH-Statut – BGBl II 2000 S. 1394) begründet. § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO überlasse die Bestimmung des zuständigen Gerichts einer politisch abhängigen, weisungsgebundenen Behörde. Im Gegensatz zur „beweglichen Zuständigkeit” nach § 24 Abs. 1 Nr. 3, § 74 Abs. 1 Nr. 2 GVG handele es sich bei § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO um eine reine Ermessensvorschrift, die zu einer Wahlfreiheit der Exekutive führe.
III.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist – mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg – insbesondere nicht zur Durchsetzung des als verletzt gerügten grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter angezeigt (§ 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist jedenfalls unbegründet.
1. § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO verstößt nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, da dessen Schutzbereich nicht berührt ist.
a) Das sonst bei Auslandstaten bestehende Ermessen der Staatsanwaltschaft (vgl. § 153c StPO) ist bei § 153f StPO für Auslandstaten, die unter das Völkerstrafgesetzbuch fallen, eingeschränkt, um die Straflosigkeit von Völkerstraftaten durch internationale Solidarität bei der Strafverfolgung zu verhindern (BTDrucks 14/8524, S. 37). Im Lichte des in § 1 VStGB verankerten Weltrechtsprinzips ist grundsätzlich davon auszugehen, dass für alle Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch unabhängig von Tatort und Nationalität der beteiligten Personen die deutsche Justiz zuständig und die Staatsanwaltschaft nach dem Legalitätsprinzip zum Einschreiten verpflichtet ist. Bei Fällen, die dem Weltrechtsprinzip unterliegen, besteht jedoch eine „gestufte Zuständigkeitspriorität” (BTDrucks 14/8524, a.a.O.). Primär sind zur Verfolgung der Tatortstaat und der Heimatstaat von Täter oder Opfer, sekundär der Internationale Strafgerichtshof und gegebenenfalls sonstige internationale Strafgerichte und tertiär die nach dem Weltrechtsprinzip vorgehenden Drittstaaten berufen. Darüber hinaus soll eine Überlastung der deutschen Ermittlungsressourcen durch Fälle, die keinen Bezug zu Deutschland aufweisen, vermieden werden (BTDrucks 14/8524, a.a.O.).
Auf dieser Grundlage erlaubt § 153f StPO die Ermessenausübung in zwei Richtungen. Für Fälle mit Inlandsbezug, das heißt wenn der Beschuldigte sich im Inland aufhält und/oder Deutscher ist, ergibt sich im Umkehrschluss aus § 153f Abs. 1 StPO eine grundsätzliche Verfolgungspflicht. Liegt keinerlei Inlandsbezug vor (vgl. § 153c Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO), „kann insbesondere” von der Strafverfolgung abgesehen werden, sofern ein internationales Gericht oder der Tatort- oder Heimatstaat von Täter oder Opfer die Verfolgung übernimmt (§ 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO).
b) Zwar kommt eine funktionale Verschränkung der deutschen Gerichtsbarkeit und der internationalen Gerichtsbarkeit dahingehend in Betracht, dass auch ein internationales Gericht vom Schutzbereich des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG umfasst sein kann. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Gerichtshof der Europäischen Union gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, weil dieser über das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV funktional in die nationale Gerichtsbarkeit eingegliedert ist und das von dem Gerichtshof ausgelegte Unionsrecht im nationalen Recht gilt und angewendet wird (vgl. BVerfGE 73, 339 ≪366 f.≫; 75, 223 ≪231≫; 82, 159 ≪192≫; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 6. Juli 2010 – 2 BvR 2661/06 –, NJW 2010, S. 3422 ≪3427≫).
Zwischen der deutschen und der internationalen Strafgerichtsbarkeit besteht auch ein funktionaler Zusammenhang insoweit, als die Staatsanwaltschaft nach § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO von der Strafverfolgung einer Tat, die nach den §§ 6 bis 14 VStGB strafbar ist, im Hinblick auf ein vor dem Internationalen Strafgerichtshof geführtes Strafverfahren absehen kann. Dieser Zusammenhang führt jedoch nicht zu einer Verschränkung dergestalt, dass der Internationale Strafgerichtshof funktional in die nationale Gerichtsbarkeit eingegliedert wäre.
aa) Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers begründet das Absehen von der Strafverfolgung nach § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO nicht die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs. Die formelle, materielle und zeitliche Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs ergibt sich vielmehr aus Art. 5, 11 und 12 des IStGH-Statuts. Der von dem Beschwerdeführer angesprochene Art. 17 Abs. 1 des IStGH-Statuts enthält den Grundsatz der Komplementarität (vgl. Benzing, Max Planck UNYB 2003, S. 591 ff.) und betrifft die Zulässigkeit eines Verfahrens vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Danach kann der Internationale Strafgerichtshof nur tätig werden, wenn der zuständige Staat nicht willens oder fähig ist, Ermittlungen oder die Strafverfolgung durchzuführen. Ein Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof ist daher grundsätzlich unzulässig, wenn ein nationales Verfahren stattfindet beziehungsweise bereits stattgefunden hat (Art. 17 Abs. 1 lit. a bis c des IStGH-Statuts) oder die in Rede stehende Tat nicht ausreichend schwer ist, um ein Eingreifen durch den Internationalen Strafgerichtshof zu rechtfertigen (Art. 17 Abs. 1 lit. d des IStGH-Statuts).
Das Beschwerdevorbringen könnte zwar dahingehend interpretiert werden, dass das Absehen von der Strafverfolgung nach § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO zumindest zur Zulässigkeit eines Verfahrens vor dem Internationalen Strafgerichtshof führt. Auch dies ist jedoch nicht der Fall. Wenn Art. 17 Abs. 1 lit. a und b des IStGH-Statuts wörtlich zu verstehen und der zuständige Staat der Staat wäre, „der Gerichtsbarkeit […] hat”, müsste das Absehen von der Strafverfolgung in Deutschland zur Unzulässigkeit eines Strafverfahrens vor dem Internationalen Strafgerichtshof führen (Art. 17 Abs. 1 lit. b des IStGH-Statuts). Wenn Art. 17 Abs. 1 lit. a und b des IStGH-Statuts hingegen mit dem juristischen Schrifttum restriktiv dahingehend ausgelegt werden würde, dass nur dem Tatortstaat und dem Heimatstaat von Täter oder Opfer, nicht aber dem nach dem Weltrechtsprinzip vorgehenden Drittstaat eine Vorrangzuständigkeit gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof eingeräumt werde (vgl. Kreß, NStZ 2000, S. 617 ≪625≫; Schoreit, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl. 2008, § 153f StPO Rn. 3; Ambos, in: Münchener Kommentar zum StGB, Bd. 6/2, 1. Aufl. 2009, § 1 VStGB Rn. 23), wäre ein Strafverfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof bereits unabhängig von dem Absehen von der Strafverfolgung nach § 153f Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 StPO zulässig.
bb) Gegen eine funktionelle Verschränkung der nationalen und der internationalen Strafgerichtsbarkeit spricht zudem, dass die Staatsanwaltschaft anders als bei den „beweglichen Zuständigkeiten” (vgl. BVerfGE 9, 223 ≪226≫; 22, 254 ≪260≫), die der Beschwerdeführer zum Vergleich heranzieht, kein Wahlrecht hat, vor welchem Gericht sie wegen einer Tat, die nach den §§ 6 bis 14 VStGB strafbar ist, anklagt. Sie kann nur vor einem deutschen Gericht anklagen, nicht aber vor dem Internationalen Strafgerichtshof.
2. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung (vgl. § 40 Abs. 3 GOBVerfG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Di Fabio, Gerhardt, Hermanns
Fundstellen
NJW 2011, 2569 |
EuGRZ 2011, 186 |
NStZ 2011, 353 |
NPA 2012 |