Verfahrensgang
LG Aachen (Beschluss vom 12.11.2012; Aktenzeichen 61 Qs-601 Js 715/12-98/12) |
LG Aachen (Beschluss vom 15.10.2012; Aktenzeichen 61 Qs-601 Js 715/12-98/12) |
LG Aachen (Beschluss vom 10.10.2012; Aktenzeichen 444 OWi-601 Js 715/12-630/12) |
LG Aachen (Beschluss vom 22.08.2012; Aktenzeichen 444 OWi-601 Js 715/12-630/12) |
Tenor
Die Beschlüsse des Landgerichts Aachen vom 12. November 2012 und vom 15. Oktober 2012 – 61 Qs-601 Js 715/12-98/12 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes).
Die Beschlüsse des Landgerichts werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A.
1. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Ablehnung der Wiederaufnahme dreier Bußgeldverfahren wegen Nichtzahlung von Beiträgen zur privaten Pflegeversicherung (§ 23 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 121 Abs. 1 Nr. 6 SGB XI). Den Wiederaufnahmeantrag stützte er insbesondere darauf, er sei zahlungsunfähig gewesen; dies habe er in den Ausgangsverfahren nicht mitgeteilt, weil ihm nicht bekannt gewesen sei, dass es in einem solchen Fall am Vorsatz fehle. Das Amtsgericht verwarf mit dem angegriffenen Beschluss vom 22. August 2012 den Wiederaufnahmeantrag mit der Begründung, es liege kein Wiederaufnahmegrund im Sinne des § 359 StPO vor. Der Irrtum des Beschwerdeführers über die Rechtslage sei keine neue Tatsache im Sinne des § 359 StPO. Dieser Beschluss, dem keine Rechtsmittelbelehrung beigefügt war, wurde dem Beschwerdeführer am 27. August 2012 zugestellt. Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 19. September 2012 legte er Beschwerde ein. Nachdem das Amtsgericht der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 10. Oktober 2012 nicht abgeholfen hatte, verwarf das Beschwerdegericht das Rechtsmittel mit Beschluss vom 15. Oktober 2012 als unzulässig, weil es nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von einer Woche eingelegt worden sei. Dieser Beschluss wurde dem Beschwerdeführer am 20. Oktober 2012 zugestellt. Mit Schreiben vom 30. Oktober 2012 beantragte er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, weil der Beschluss des Amtsgerichts vom 22. August 2012 nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen gewesen sei. Das Landgericht half diesem „als Gegenvorstellung zu wertenden Schreiben” mit Beschluss vom 12. November 2012 nicht ab. Zur Begründung führte es aus, der Beschluss vom 15. Oktober 2012 sei nicht anfechtbar. Soweit der Beschwerdeführer rüge, der Beschluss des Amtsgerichts sei ohne Rechtsmittelbelehrung zugestellt worden, hätte er Wiedereinsetzung bereits mit der Einlegung des Rechtsmittels beantragen müssen.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung des Grundsatzes der fairen Prozessführung. Wegen der fehlenden Rechtsbehelfsbelehrung habe er angenommen, den Verwaltungsakt binnen Jahresfrist anfechten zu können, und sei ansonsten von einer Rechtsmittelfrist von einem Monat ausgegangen. Das Landgericht hätte seinen Wiederaufnahmeantrag nicht als unzulässig behandeln und seine sofortige Beschwerde nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern hätte sich mit seinen Argumenten auseinandersetzen müssen. Er habe nicht nur geltend gemacht, sich in einem Rechtsirrtum befunden zu haben, sondern auch, nicht zur Zahlung der Versicherungsbeiträge in der Lage gewesen zu sein. Diese Tatsache, die im Verwaltungsverfahren nicht bekannt gewesen und daher neu im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO sei, könne zu einer anderen Beurteilung seines Verhaltens führen.
3. Das Justizministerium Nordrhein-Westfalen hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
Entscheidungsgründe
B.
Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidungen des Landgerichts zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Kammerentscheidung sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
Die gegen den Beschluss des Amtsgerichts und die Bußgeldbescheide gerichtete Verfassungsbeschwerde nimmt das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung an. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
I.
Die Beschlüsse des Landgerichts vom 12. November 2012 und vom 15. Oktober 2012 verletzen den Beschwerdeführer, dem eine Verweisung auf den Weg eines erneuten Wiedereinsetzungsantrages nicht zumutbar ist (§ 90 Abs. 2 BVerfGG), in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz.
1. Der in Art. 19 Abs. 4 GG verankerte Anspruch auf effektiven Rechtsschutz gegen Akte öffentlicher Gewalt überlässt zwar die nähere Ausgestaltung des durch die Vorschrift garantierten Rechtsweges der jeweiligen Prozessordnung. Bei der Auslegung und Anwendung dieser Prozessordnung dürfen die Gerichte aber den Zugang zu den den Rechtsuchenden eingeräumten Instanzen nicht in unzumutbarer Weise erschweren (vgl. BVerfGE 44, 302 ≪305≫; 52, 203 ≪207≫; 69, 381 ≪385≫). Der Rechtsschutzsuchende muss es insbesondere nicht hinnehmen, dass er seine Rechte deshalb nicht durchsetzen kann, weil er aufgrund einer fehlenden gerichtlichen Rechtsmittelbelehrung ein Rechtsmittel nicht in der dafür gesetzlich vorgeschriebenen Frist eingelegt hat. Ihm steht dann die Möglichkeit offen, mittels eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eine Beeinträchtigung seiner Rechte im fachgerichtlichen Verfahren abzuwehren. Von dieser Möglichkeit hat der Beschwerdeführer mit seinem Antrag vom 30. Oktober 2012 Gebrauch gemacht, den das Landgericht als Wiedereinsetzungsantrag hätte behandeln und bescheiden müssen.
a) Nach dem vom Beschwerdeführer vorgetragenen und glaubhaft gemachten Sachverhalt beruhte die vom Landgericht mit Beschluss vom 15. Oktober 2012 angenommene Unzulässigkeit der sofortigen Beschwerde darauf, dass das Amtsgericht dem Beschwerdeführer entgegen § 85 Abs. 1 OWiG, § 372 Satz 1, § 35a Satz 1 StPO keine Rechtsmittelbelehrung erteilt hatte. Der Annahme, die fehlende Rechtsmittelbelehrung sei kausal für die Fristversäumnis, steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer eine Rechtsanwältin eingeschaltet hat (s. auch, zur Frage der Zurechnung anwaltlichen Verschuldens, unten b)).
b) Die beantragte Wiedereinsetzung in die Frist zur Erhebung der sofortigen Beschwerde konnte dem Beschwerdeführer im vorliegenden Fall nicht ohne Weiteres deshalb versagt werden, weil die Wochenfrist des § 46 Abs. 1 OWiG, § 45 StPO für den Wiedereinsetzungsantrag nicht eingehalten wurde.
Jedenfalls in den Fällen, in denen – wie hier – der Wiedereinsetzungsgrund in einem den Gerichten zuzurechnenden Fehler liegt, fordert der Grundsatz fairer Verhandlungsführung eine Belehrung des Betroffenen über die Möglichkeit, effektiven Rechtsschutz im Wege der Wiedereinsetzung zu erreichen. Erst diese Belehrung setzt die Wiedereinsetzungsfrist in Lauf (vgl. nur BVerfGK 8, 303 ≪304≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Oktober 2012 – 2 BvR 1095/12 –, NJW 2013, S. 446 ≪447≫).
Dies gilt allerdings im Regelfall dann nicht, wenn ein Verschulden hinsichtlich der Fristversäumnis gleichermaßen auf Seiten des Rechtsschutzsuchenden vorliegt oder ein Belehrungsbedarf auf Seiten des Rechtsschutzsuchenden offenkundig nicht besteht (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Oktober 2012 – 2 BvR 1095/12 –, a.a.O.). Ob von einem solchen Mitverschulden grundsätzlich auszugehen ist, wenn der Rechtsschutzsuchende anwaltlich vertreten war, und ob bei fortdauernder anwaltlicher Vertretung ein Belehrungsbedarf hinsichtlich der Wiedereinsetzungsmöglichkeit im Allgemeinen auszuschließen ist, bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Jedenfalls wenn es um eine Wiedereinsetzung im Strafverfahren – einschließlich des Wiederaufnahmeverfahrens – geht, widerspräche die Zurechnung anwaltlichen Mitverschuldens an der Fristversäumung wie auch die Annahme, dass im Falle anwaltlicher Vertretung eine sonst gebotene Belehrung über die Wiedereinsetzung entbehrlich wird, offenkundig den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die für die Zurechnung anwaltlichen Verschuldens bei der Wiedereinsetzung aus den Besonderheiten des Strafverfahrens folgen (vgl. BVerfGE 60, 253 ≪299 f.≫; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. November 1990 – 2 BvR 591/90 –, juris; vom 11. April 1991 – 2 BvR 1996/89 –, juris), und den demgemäßen Wertungen des Strafprozessrechts. Dieses unterscheidet hinsichtlich der Pflicht zur Rechtsbehelfsbelehrung und hinsichtlich der Folgen diesbezüglicher Verstöße (§ 35a Satz 1 StPO, § 44 Satz 2 StPO) nicht danach, ob der Betroffene anwaltlich vertreten ist oder nicht.
Ob und inwieweit nach den für das Strafverfahren geltenden verfassungsrechtlichen Maßstäben durchweg – hinsichtlich der Wiederaufnahme wie hinsichtlich der Berücksichtigung anwaltlicher Vertretung bei der Frage der Wiedereinsetzung – zwingend auch das ordnungswidrigkeitenrechtliche Verfahren auszugestalten ist, muss hier nicht entschieden werden. Jedenfalls soweit der Gesetzgeber sich für die Übernahme strafprozessualer Regelungen entschieden hat (§ 46 Abs. 1, § 85 Abs. 1 OWiG), kann zumindest nicht ohne nähere Begründung davon ausgegangen werden, dass hinsichtlich der Zurechnung von Anwaltsverschulden in Fristfragen nichtsdestoweniger im ordnungswidrigkeitenrechtlichen Verfahren andere Maßstäbe gelten als im Strafverfahren.
Die Belehrung über die Möglichkeit, nach § 46 Abs. 1 OWiG, § 44 StPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen, die unter der Voraussetzung der Anwendbarkeit strafrechtlicher Maßstäbe geboten war, ist dem Beschwerdeführer nicht erteilt worden. Der Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts vom 10. Oktober 2012 und der die sofortige Beschwerde verwerfende Beschluss des Landgerichts vom 15. Oktober 2012 enthalten zwar jeweils einen Hinweis auf die Verfristung, nicht aber darauf, wie dieser abgeholfen werden kann. Dass die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung für den Beschwerdeführer (weiterhin) bestand, ergibt sich aus diesen Beschlüssen nicht. Mit der Frage, weshalb angesichts der ausdrücklichen gesetzgeberischen Entscheidung für die Anwendbarkeit der Regeln des Strafverfahrens (§ 46 Abs. 1, § 85 Abs. 1 OWiG) der vorliegende Fall anders als nach den für das Strafverfahren geltenden Grundsätzen zu behandeln sein sollte, hat das Landgericht sich in seinen Beschlüssen vom 12. November 2012 und vom 15. Oktober 2012 nicht auseinandergesetzt.
2. Hierauf beruhen die letztgenannten Beschlüsse; es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das fachgerichtliche Verfahren nach ihrer Aufhebung zu einem für den Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis führt. Der Beschwerdeführer hat nicht nur geltend gemacht, sich in einem Rechtsirrtum befunden zu haben, sondern auch vorgetragen, nicht zur Zahlung der Versicherungsbeiträge in der Lage gewesen zu sein. Diese Tatsache, die im Verwaltungsverfahren nicht bekannt war und die daher neu ist (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl. 2013, § 359 Rn. 30), könnte zu einer anderen Beurteilung seines Verhaltens führen (vgl. zur tatbestandsausschließenden Wirkung von Zahlungsunfähigkeit bei der vergleichbaren Regelung des § 266a StGB: Fischer, StGB, 60. Aufl. 2013, § 266a Rn. 14).
II.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Da der nicht zur Entscheidung angenommene Teil der Verfassungsbeschwerde von untergeordneter Bedeutung ist, sind die Auslagen in vollem Umfang zu erstatten (vgl. BVerfGE 86, 90 ≪122≫).
Unterschriften
Lübbe-Wolff, Landau, Kessal-Wulf
Fundstellen