Verfahrensgang
AG München (Beschluss vom 12.03.2003; Aktenzeichen 1501 IN 2102/02) |
Tenor
Der Beschluss des Amtsgerichts München – Insolvenzgericht – vom 12. März 2003 – 1501 IN 2102/02 – verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Der Beschluss wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht München – Insolvenzgericht – zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat den Beschwerdeführern die für das Verfahren der Verfassungsbeschwerde notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerden betreffen die richterliche Überprüfung der Stimmrechtsentscheidung des Rechtspflegers in einem Insolvenzverfahren (§ 77 Abs. 2 Satz 2 der Insolvenzordnung ≪InsO≫; § 18 Abs. 3 Satz 2 des Rechtspflegergesetzes ≪RPflG≫).
I.
1. Das streitgegenständliche Insolvenzverfahren wurde am 15. Oktober 2002 nach einem Eigenantrag der Schuldnerin eröffnet.
a) In der ersten Gläubigerversammlung mit Berichtstermin am 11. Dezember 2002 bestritt der Verwalter die von mehreren behaupteten Gläubigern geltend gemachten Ansprüche gegen die Schuldnerin beziehungsweise ihren Rang als vorrangige Insolvenzforderungen. Der Rechtspfleger entschied gemäß § 77 Abs. 2 Satz 2 InsO über die Stimmrechte. Den Beschwerdeführern erkannte er kein Stimmrecht zu. Andere Gläubiger erhielten volles oder anteiliges Stimmrecht zugesprochen. Eine Begründung enthält der Beschluss nach dem Terminprotokoll nicht. Im Anschluss daran wies die Gläubigerversammlung einen auch von den Beschwerdeführern befürworteten Antrag auf Eigenverwaltung zurück. Ausweislich des Terminprotokolls stellten daraufhin sechs Gläubiger, die volles oder anteiliges Stimmrecht erhalten hatten, den Antrag, die Stimmrechtsentscheidung gemäß § 18 Abs. 3 Satz 2 RPflG durch den Insolvenzrichter überprüfen zu lassen.
b) Am 17. Dezember 2002 entschied das Insolvenzgericht durch Beschluss, dass es „bei der Stimmrechtsentscheidung des Rechtspflegers vom 11. Dezember 2002 (…) sein Bewenden” habe. Zur Begründung ist angeführt, eine Überprüfung der Stimmrechtsentscheidung habe keinen Nachteil zu Lasten der sechs Gläubiger ergeben, die im Berichtstermin einen Überprüfungsantrag gestellt hätten.
c) Die Beschwerdeführer beantragten mit Schriftsatz vom 12. Februar 2003 ebenfalls die richterliche Überprüfung der Stimmrechtsentscheidung. Sie führten aus, auch sie hätten den Antrag auf Überprüfung schon im Termin vom 11. Dezember 2002 gestellt. Der Rechtspfleger habe sich jedoch geweigert, ihn zu protokollieren. Die Antragstellung im Termin reiche jedoch nach § 18 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 RPflG aus. Die Beschwerdeführer trugen vor, die von ihnen angemeldeten Forderungen seien wirksam und nicht nachrangig. Außerdem könnten sie eine Überprüfung sämtlicher Stimmrechtsentscheidungen verlangen, also auch jener, die andere Gläubiger als sie selbst betroffen hätten, weil diese Stimmrechtsentscheidungen Einfluss auf die Mehrheitsverhältnisse in der Gläubigerversammlung gehabt hätten. Zur Begründung hierfür verwiesen sie auf einen Beschluss des Amtsgerichts Mönchengladbach (NZI 2001, S. 48).
Mit Schriftsatz vom 21. Februar 2003 erstreckten die Beschwerdeführer ihr Überprüfungsbegehren auch auf jene Gläubiger, denen der Rechtspfleger volles Stimmrecht zugesprochen hatte. Diesen ständen keine Forderungen gegen die Schuldnerin zu. Soweit es um ihr eigenes Stimmrecht ging, trugen die Beschwerdeführer noch zum Bestand ihrer behaupteten Forderungen vor. Weiterhin bemängelten sie den Ablauf des Termins am 11. Dezember 2002. Dort habe der Rechtspfleger immer nur jene Gläubiger zu einem Widerspruch gegen angemeldete Forderungen befragt, denen zuvor ein Stimmrecht zuerkannt worden sei, nicht aber jene, über deren Forderung noch nicht beraten worden sei. Diese Behauptungen begründeten die Beschwerdeführer in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht und traten unter Vorlage eidesstattlicher Versicherungen Beweis dafür an.
Der Verwalter erwiderte mit Schriftsatz, der am 26. Februar 2003 beim Amtsgericht einging. Er hielt den Überprüfungsantrag der Beschwerdeführer für unzulässig und unbegründet. Er habe die fraglichen Forderungen bestritten, weil sie im Termin nicht ausreichend plausibel dargelegt, von Rangrücktritten betroffen, eigenkapitalersetzend gewesen oder nicht genügend unter Beweis gestellt worden seien.
d) Am 12. März 2003 erging der mit der vorliegenden Verfassungsbeschwerde angegriffene Beschluss des Insolvenzgerichts. Im Rubrum nennt er nur die Schuldnerin. Sodann enthält er den Satz: „Bei dem Beschluss vom 17. Dezember 2002 hat es sein Bewenden”. Es folgt die Unterschrift des Richters. Der Beschluss ging den Beschwerdeführern zusammen mit der Stellungnahme des Verwalters am 17. März 2003 zu.
2. Mit ihren am 8. April 2003 erhobenen Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführer die Verletzung mehrerer Grundrechte. Sie sind der Auffassung, der Beschluss verletze Art. 103 Abs. 1 GG. Er enthalte keine wirkliche Begründung. Dies zeige, dass ihr Antrag inhaltlich nicht geprüft worden sei. Außerdem hätten sie keine Möglichkeit zur Replik gehabt, weil ihnen die Stellungnahme des Verwalters erst nach 14 Tagen zusammen mit dem Beschluss zugeleitet worden sei. Daneben greifen die Beschwerdeführer Teile des Insolvenzrechts an. Eine effektive, insbesondere richterliche Kontrolle des Verwalters sei kaum möglich und werde auch nicht praktiziert.
3. Parallel zu ihren Verfassungsbeschwerden haben die Beschwerdeführer am 3. April 2003 Gegenvorstellung erhoben. Hierüber ist bislang nicht entschieden worden.
4. Die Verfassungsbeschwerden sind zur gemeinsamen Entscheidung verbunden worden. Der Freistaat Bayern und der Verwalter als Beteiligter des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerden gemäß § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an und gibt ihnen nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG statt.
1. Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig.
a) Soweit die Beschwerdeführer rügen, der Beschluss des Insolvenzgerichts vom 12. März 2003 verletze Art. 103 Abs. 1 GG, genügen ihre Verfassungsbeschwerden den Begründungsanforderungen der §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG. Aus den eingereichten Schriftsätzen und dem angegriffenen Beschluss ergibt sich, wie sie ihren Überprüfungsantrag begründet hatten und in welchem Maße die vorgebrachten Gründe berücksichtigt wurden. Dagegen ist der Vortrag der Beschwerdeführer zur angeblichen Verfassungswidrigkeit der Insolvenzordnung nicht ausreichend substanziiert. Die Annahme der Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung wird davon jedoch nicht berührt.
b) Die Verfassungsbeschwerden genügen auch dem Grundsatz der materiellen Subsidiarität aus § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Hierbei kann offen bleiben, ob die Beschwerdeführer den Rechtsweg schon erschöpft haben, weil über ihre Gegenvorstellung noch nicht entschieden wurde. Außerordentliche Rechtsbehelfe, wie die Gegenvorstellung gegen eine angebliche Verletzung des rechtlichen Gehörs, gehören nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30. April 2003 (NJW 2003, S. 1924 ≪1928 f.≫) nicht zum Rechtsweg, den ein Beschwerdeführer vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde beschreiten muss, weil sie nicht dem Gebot der Rechtsmittelklarheit genügen.
2. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu den sich aus Art. 103 Abs. 1 GG ergebenden Anforderungen an die Begründung letztinstanzlicher Gerichtsentscheidungen sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausreichend geklärt.
3. Hiernach erweisen sich die Verfassungsbeschwerden als offensichtlich begründet. Der angegriffene Beschluss des Amtsgerichts verletzt die Beschwerdeführer in ihrem Recht auf Gehör.
a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet ein Gericht unter anderem, den Vortrag der Beteiligten zu berücksichtigen, also zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidung in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 83, 24 ≪35≫). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass dies geschieht. Die Gerichte brauchen nicht jedes Vorbringen in der Entscheidung ausdrücklich zu bescheiden. Eine generelle Pflicht zur Begründung besteht jedenfalls für letztinstanzliche Gerichtsentscheidungen nicht (vgl. BVerfGE 81, 97 ≪106≫; 104, 1 ≪7 f.≫). Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann nur dann festgestellt werden, wenn sich aus besonderen Umständen ergibt, dass das Gericht seiner Pflicht zur Berücksichtigung nicht nachgekommen ist (vgl. BVerfGE 47, 182 ≪187≫; 96, 205 ≪216 f.≫). Solche Umstände liegen etwa dann vor, wenn es auf den wesentlichen Kern des Vortrags eines Beteiligten zu einer zentralen Frage des jeweiligen Verfahrens in den Entscheidungsgründen nicht eingeht. In diesen Fällen ist auch bei einer letztinstanzlichen Entscheidung von einem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG auszugehen (vgl. BVerfGE 86, 133 ≪146≫; BVerfG, 1. Kammer des Zweiten Senats, NVwZ-RR 2002, 802).
b) Aus dem angegriffenen Beschluss ergibt sich nicht deutlich genug, dass das Insolvenzgericht die Ausführungen der Beschwerdeführer in ihren Schriftsätzen vom 12. und 21. Februar 2003 ausreichend berücksichtigt hat.
Das Rubrum des Beschlusses nennt nur die Schuldnerin. Aus ihm geht nicht hervor, wer außerdem an dem Insolvenzverfahren beteiligt ist. Ebenso ist nicht erkennbar, über wessen Antrag der Beschluss entscheidet und welchen Inhalt dieser Antrag hatte. Da ein Tenor fehlt, ist unklar, ob der Antrag auf Stimmrechtsüberprüfung als unzulässig oder als unbegründet zurückgewiesen wurde. So kann nicht überprüft werden, ob die – materiellen – Anforderungen an eine willkürfreie Anwendung des § 77 Abs. 2 Satz 2 InsO und des § 18 Abs. 3 Satz 2 RPflG gewahrt wurden. Da weder der Sachverhalt, auf Grund dessen die Entscheidung ergangen ist, noch die rechtlichen Erwägungen des Gerichts wiedergegeben sind, bleibt unklar, welche rechtlichen Anforderungen das Gericht seiner Prüfung zu Grunde gelegt hat. Es ist insbesondere nicht erkennbar, auf welche Weise nach Ansicht des Gerichts Insolvenzgläubiger ihre vermeintliche Forderung darlegen und glaubhaft machen oder beweisen müssen, damit ihnen nach § 77 Abs. 2 Satz 2 InsO ein Stimmrecht zuerkannt wird. Ebenso ist unklar, aus welchen Gründen das Gericht den Vortrag der Beschwerdeführer zum Bestand ihrer Forderungen und zu den anerkannten Forderungen anderer Gläubiger nicht für ausreichend gehalten und die rechtlichen Anforderungen an die Zubilligung eines Stimmrechts nicht als gegeben erachtet hat.
Der einzige Satz des Beschlusses, nämlich der Verweis auf den „Beschluss vom 17. Dezember 2003”, kann diesen Mangel nicht beseitigen. Er spricht sogar eher gegen eine ausreichende Berücksichtigung. Jener Beschluss hatte eine Gruppe von Gläubigern betroffen, die volles oder anteiliges Stimmrecht erhalten und die Versagung des Stimmrechts für andere Gläubiger gerügt hatten. Die Beschwerdeführer hatten dagegen deutlich gemacht, dass ihnen kein Stimmrecht zugebilligt worden war und dass sie sich hiergegen und gegen die Gewährung von Stimmrechten für andere Gläubiger wandten.
c) Eine aussagekräftige Begründung war auch nicht deshalb entbehrlich, weil die Beschwerdeführer die Gründe hierfür schon gekannt hätten. Der Rechtspfleger hatte seine Stimmrechtsentscheidung ebenfalls nicht begründet. Die Stellungnahme des Verwalters mit den umfangreichen tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen, auf die sich das Amtsgericht bei seiner Entscheidung möglicherweise stützte, wurde den Beschwerdeführern erst zusammen mit dem Beschluss des Insolvenzgerichts vom 12. März 2003 selbst übermittelt.
d) Der hier angegriffene Beschluss beruht auch auf dieser Gehörsverletzung. Es ist zwar denkbar, dass die vom Verwalter in seiner Stellungnahme vorgetragenen tatsächlichen und rechtlichen Gründe stichhaltig sind, so dass auch bei einer erneuten richterlichen Überprüfung die Stimmrechtsentscheidung des Rechtspflegers vom 11. Dezember 2002 bestätigt wird. Andererseits ist nicht auszuschließen, dass das Insolvenzgericht nach Aufklärung der Vorgänge im Termin vom 11. Dezember 2002 das Stimmrecht anders verteilt und dass dann eine neue Abstimmung über die damals gestellten Anträge notwendig wird.
e) Da sich die Rüge einer Verletzung des rechtlichen Gehörs als begründet erweist, kann offen bleiben, ob der angegriffene Beschluss inhaltlich den Anforderungen an eine willkürfreie Rechtsprechung genügt.
4. Gemäß § 95 Abs. 1 und 2 BVerfGG sind die Gehörsverletzung festzustellen und der angegriffene Beschluss aufzuheben. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG. Auslagenschuldner ist der Freistaat Bayern, weil die Beschwerdeführer allein durch dessen Gericht in ihrem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt wurden.
Unterschriften
Papier, Steiner, Hohmann-Dennhardt
Fundstellen