Verfahrensgang
AG Schleswig (Beschluss vom 15.11.2011; Aktenzeichen 21 C 240/11) |
AG Schleswig (Urteil vom 07.10.2011; Aktenzeichen 21 C 240/11) |
Tenor
1. Das Urteil des Amtsgerichts Schleswig vom 7. Oktober 2011 – 21 C 240/11 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben, und die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Der Beschluss des Amtsgerichts Schleswig vom 15. November 2011 – 21 C 240/11 – wird damit gegenstandslos.
2. Das Land Schleswig-Holstein hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft das rechtliche Gehör in einem Zivilrechtsstreit.
1. Der Beschwerdeführer war im fachgerichtlichen Verfahren als Grundstückseigentümer auf Zahlung von Entgelt aus einem Stromlieferungsvertrag in Anspruch genommen worden.
Das Amtsgericht beschloss, dass im schriftlichen Verfahren nach billigem Ermessen gemäß § 495a ZPO entschieden werden solle, und bestimmte als Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden könnten, zunächst den 15. August 2011, schließlich mit Beschluss vom 16. August 2011 den 1. Oktober 2011. Dieses Datum fiel auf einen Sonnabend. Mit Schriftsatz vom 15. August 2011 trug der Beschwerdeführer vor, bei der Verbrauchsstelle handle es sich um ein Mietobjekt, und Vertragsbeziehungen seien nur mit den jeweiligen Mietern begründet worden. Zum Beweis dieser Tatsachen benannte er mit Schriftsatz vom 4. Oktober 2011, der bei Gericht am selben Tag einging, seine Tochter als Zeugin.
Mit angegriffenem Urteil vom 7. Oktober 2011 gab das Gericht der Klage überwiegend statt. Zwischen den Parteien bestehe ein Energielieferungsvertrag. Ein substantiierter Vortrag zu einem anderen Abnehmer unter Beweisantritt sei erst mit Schriftsatz vom 4. Oktober 2011 erfolgt. Dieser Schriftsatz sei allerdings nach Ablauf der Schriftsatzfrist am 1. Oktober 2011 bei Gericht eingegangen.
2. Mit seiner hiergegen erhobenen Anhörungsrüge trug der Beschwerdeführer vor, sein am 4. Oktober 2011 eingegangener Schriftsatz sei zu Unrecht nicht berücksichtigt worden. Gemäß § 222 Abs. 2 ZPO ende die Frist mit Ablauf des ersten Werktags, wenn das Ende der Frist auf einen Sonntag, einen allgemeinen Feiertag oder einen Sonnabend falle.
Mit angegriffenem Beschluss vom 15. November 2011 wies das Amtsgericht die Anhörungsrüge als unbegründet zurück. Die Schriftsatzfrist sei abgelaufen gewesen, denn es habe sich bei der gesetzten Frist um eine datierte Frist gehandelt, auf die § 222 Abs. 2 ZPO nur anzuwenden sei, wenn der Fristablauf auf einen Sonn- oder Feiertag falle (unter Verweis auf Stöber, in: Zöller, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 222 Rn. 1 „mit entsprechendem Nachweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts”).
3. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) durch Nichtberücksichtigung des am 4. Oktober 2011 beim Amtsgericht eingegangenen Schriftsatzes und verweist auf Rechtsprechung und Literatur, aus der sich ergebe, dass entgegen der Annahme des Amtsgerichts § 222 Abs. 2 ZPO uneingeschränkt auch für Fristen mit datiertem Ende gelte.
4. Das Ministerium für Justiz, Kultur und Europa des Landes Schleswig-Holstein und die Klägerin des Ausgangsverfahrens hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben der Kammer vorgelegen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Danach ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet.
1. Das Urteil des Amtsgerichts vom 7. Oktober 2011 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG.
a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gericht verstößt gegen diesen Grundsatz, wenn es einen ordnungsgemäß eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt (vgl. BVerfGE 11, 218 ≪220≫; 62, 347 ≪352≫; 70, 215 ≪218≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. August 1992 – 2 BvR 1129/92 –, NJW 1993, S. 51, und Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 12. Dezember 2012 – 2 BvR 1294/10 –, NJW 2013, S. 925).
b) Danach wird die angegriffene Entscheidung dem Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör nicht gerecht. Die Annahme des Amtsgerichts, die Schriftsatzfrist habe am 1. Oktober 2011, einem Sonnabend, geendet, ist nicht nachvollziehbar und konnte daher die Nichtberücksichtigung des am 4. Oktober 2011 eingegangenen Schriftsatzes nicht rechtfertigen.
Nach § 222 Abs. 2 ZPO endet eine Frist, deren Ende auf einen Sonntag, einen allgemeinen Feiertag oder einen Sonnabend fällt, mit Ablauf des nächsten Werktags. Die Regelung des § 222 Abs. 2 ZPO gilt nach einhelliger Meinung unabhängig davon, ob die Frist, deren Ende zu bestimmen ist, berechnet oder datiert ist (vgl. nur BGH, Urteil vom 21. Juni 1978 – VIII ZR 127/76 –, juris, Rn. 6, 7, 9 m.w.N.; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 72. Aufl. 2014, § 222 Rn. 2; Gehrlein, in: Münchener Kommentar, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 222 Rn. 6; Stadler, in: Musielak, ZPO, 11. Aufl. 2014, § 222 Rn. 1; Gerken, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl. 2013, § 222 Rn. 14; Roth, in: Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl. 2005, § 222 Rn. 11; bei den nach der Auflage von 2013 oder 2014 zitierten Kommentaren ebenso jeweils auch bereits die früheren, zum Zeitpunkt der angegriffenen Entscheidungen verfügbaren Auflagen).
Aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. September 1982 (BVerfGE 61, 119), auf die das Amtsgericht sich durch Verweis auf eine sie zitierende Kommentarstelle beruft, folgt nichts Gegenteiliges (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 14. August 2013 – 2 BvR 425/12 –, juris, Rn. 14). Schon angesichts des Wortlauts der kommentierten Vorschrift, die sich eindeutig auch auf Fristen bezieht, deren Ende auf einen Sonnabend fällt, hätte für das Gericht Anlass bestanden, der Frage nachzugehen, ob und warum der Fall, in dem das Ende der datierten Frist auf einen Sonnabend fällt, anders zu behandeln sein sollte als der Fall einer datierten Frist, deren Ende auf einen Sonn- oder Feiertag fällt. Eine unterschiedliche Behandlung lässt sich auch nicht mit den Motiven rechtfertigen, die den Gesetzgeber dazu bewegten, in den Anwendungsbereich der Regelung des § 222 Abs. 2 ZPO auch Fristen einzubeziehen, deren Ende auf einen Sonnabend fällt. Denn damit sollte lediglich den im Rechtsverkehr aufgetretenen Unzuträglichkeiten Rechnung getragen werden, die mit der Einführung der Fünf-Tage-Woche für weite Kreise der arbeitenden Bevölkerung einhergegangen waren (vgl. BTDrucks 4/3394, S. 3). Es ist nicht ersichtlich, weshalb diese Gründe für datierte Fristen nicht gelten sollten.
2. Das Urteil des Amtsgerichts vom 7. Oktober 2011 beruht auf dem Gehörsverstoß. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass das Gericht zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre, wenn es dessen Schriftsatz vom 4. Oktober 2011 berücksichtigt hätte. Das Urteil unterliegt infolgedessen der Aufhebung, und die Sache ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Der ebenfalls angegriffene Beschluss des Amtsgerichts über die Anhörungsrüge vom 15. November 2011 wird damit gegenstandslos.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Voßkuhle, Landau, Hermanns
Fundstellen