Verfahrensgang
AG München (Beschluss vom 12.05.2010; Aktenzeichen 411 C 4993/10) |
AG München (Urteil vom 14.04.2010; Aktenzeichen 411 C 4993/10) |
Tenor
Das Urteil des Amtsgerichts München vom 14. April 2010 – 411 C 4993/10 – und der Beschluss des Amtsgerichts München vom 12. Mai 2010 – 411 C 4993/10 – verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 EUR (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Tatbestand
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Reichweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör in einem mietrechtlichen Rechtsstreit.
1. Die Beschwerdeführerin hatte an den Kläger des Ausgangsverfahrens bis zum Jahre 2009 eine Wohnung vermietet. Nach Beendigung des Mietverhältnisses behielt die Beschwerdeführerin einen Teil der Sicherheitsleistung des Mieters ein. Daraufhin wurde sie von ihrem Mieter auf Zahlung der Restsumme gerichtlich in Anspruch genommen und auf ihr Anerkenntnis vom Amtsgericht mit Anerkenntnisurteil vom 21. Januar 2010 (422 C 29689/09) zur Leistung verurteilt.
Im Jahre 2010 klagte der Mieter erneut gegen die Beschwerdeführerin und machte einen Anspruch wegen zu Unrecht durchgeführter Schönheitsreparaturen geltend. Das Amtsgericht setzte der Beschwerdeführerin in dem Klageverfahren 411 C 4993/10 eine Frist zur Klageerwiderung von zwei Wochen. Die Klageschrift und der Beschluss des Amtsgerichts wurden der Beschwerdeführerin am 24. März 2010 zugestellt.
Das Klageerwiderungsschreiben der Beschwerdeführerin vom 1. April 2010 erreichte das Amtsgericht am 6. April 2010 und wurde zur Akte 422 C 29689/09 gegeben, weil es von dem Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin versehentlich mit dem Aktenzeichen des abgeschlossenen Verfahrens versehen worden war. In dem Schriftsatz erhob die Beschwerdeführerin die Einrede der Verjährung und bestritt die Höhe des geltend gemachten Klageanspruchs.
Mit Urteil vom 14. April 2010 verurteilte das Amtsgericht die Beschwerdeführerin in Unkenntnis der Klageerwiderung vom 1. April 2010 zur Zahlung der mit der Klage geltend gemachten Geldleistung. Die Klage sei schlüssig begründet. Die Beschwerdeführerin habe sich trotz Fristsetzung zur Klageerwiderung und Hinweis auf die Folgen einer Fristversäumnis nicht zu der Klage geäußert, so dass auf der Grundlage des klägerischen Vortrags zu entscheiden gewesen sei.
2. Die Beschwerdeführerin erhob mit Schreiben vom 4. Mai 2010 Anhörungsrüge. Das fristgemäß bei Gericht eingegangene Schreiben vom 1. April 2010 sei bei der Urteilsfindung nicht berücksichtigt worden. Der Schriftsatz sei zwar mit dem Aktenzeichen 422 C 29689/09 versehen gewesen. In ihm seien jedoch Forderungen bestritten worden, die nicht Gegenstand des Anerkenntnisses in dem Verfahren 422 C 29689/09 gewesen seien. Bei Kenntnis des übergangenen Schreibens wäre das Endurteil anders ausgefallen; jedenfalls wäre im Hinblick auf die bestrittene Höhe der Klageforderung eine Beweisaufnahme erforderlich gewesen.
Das Amtsgericht wies die Anhörungsrüge mit Beschluss vom 12. Mai 2010 zurück. Dass der Schriftsatz vom 1. April 2010 unberücksichtigt geblieben sei, liege nicht in der Verantwortung des Gerichts, sondern in derjenigen des Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin, der auf dem Schreiben das falsche Aktenzeichen angegeben habe. Wenn wie hier bei demselben Gericht in einem engen zeitlichen Zusammenhang zwischen denselben Prozessbeteiligten mehrere Verfahren anhängig seien, die noch dazu hinsichtlich des Streitgegenstandes zumindest teilweise identisch seien, treffe den anwaltlichen Vertreter eine gesteigerte Sorgfaltspflicht und er habe dafür zu sorgen, dass Schriftsätze auch zum richtigen Verfahren eingereicht würden. Es sei in Fällen der vorliegenden Art nicht die Aufgabe des Gerichts, zu überprüfen, welcher Schriftsatz zu welchem Verfahren gehöre. Dies sei auch praktisch nicht umsetzbar, da aufgrund der Geschäftsverteilung des Gerichts die Verfahren, auch wenn dieselben Parteien beteiligt seien, nicht automatisch demselben Richterdezernat zugeteilt würden. Wegen der Nachlässigkeit des Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin liege auch kein so genannter „Pannenfall” vor, der nur Konstellationen erfasse, bei denen Schriftsätze aufgrund eines gerichtlichen Versehens nicht vorgelegt worden seien.
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin, dass das Gericht das Schreiben vom 1. April 2010 nicht berücksichtigt und damit ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt habe. In der Zivilprozessordnung finde sich keine Vorschrift, die für den fristgerechten Eingang eines Klageerwiderungsschriftsatzes die Angabe des korrekten Aktenzeichens fordere. Der Bundesgerichtshof entscheide in ständiger Rechtsprechung, dass ein fristwahrender Schriftsatz auch dann rechtzeitig bei Gericht eingegangen sei, wenn er ein falsches Aktenzeichen trage und deswegen im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht zu den Akten gelangt sei.
4. Der Kläger des Ausgangsverfahrens und das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz haben von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Dies ist zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die in der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt oder lassen sich ohne Weiteres auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung beantworten (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.
Das Urteil des Amtsgerichts München vom 14. April 2010 und der Beschluss des Amtsgerichts vom 12. Mai 2010 verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gericht verstößt gegen diesen Grundsatz, wenn es einen ordnungsgemäß eingegangenen Schriftsatz nicht berücksichtigt; auf ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an (vgl. BVerfGE 11, 218 ≪220≫; 62, 347 ≪352≫; 70, 215 ≪218≫; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 4. August 1992 – 2 BvR 1129/92 –, NJW 1993, S. 51).
2. Im vorliegenden Fall ist das Schreiben der Beschwerdeführerin vom 1. April 2010 mit der Klageerwiderung vom Amtsgericht nicht berücksichtigt worden, obwohl das Schreiben am 6. April 2010, also vor Ablauf der gerichtlich verfügten zweiwöchigen Frist zur Klageerwiderung, beim Amtsgericht eingegangen war.
Entgegen der in dem Beschluss vom 12. Mai 2010 deutlich werdenden Auffassung des Amtsgerichts war für den Eingang und daher für die Möglichkeit der Kenntnisnahme durch das Gericht allein entscheidend, dass die Klageerwiderungsschrift vor Ablauf der Frist an das zur Entscheidung berufene Amtsgericht gelangt war. Unerheblich ist dagegen, ob der Schriftsatz innerhalb dieser Frist in die für diese Sache bereits angelegte Akte eingeordnet war. Da der Rechtsuchende keinen Einfluss darauf hat, welche Richter im einzelnen durch die Geschäftsverteilung zur Bearbeitung der Sache bestimmt worden sind, braucht er keine Sorge dafür zu treffen, dass seine Eingabe innerhalb des angerufenen Gerichts unverzüglich in die richtige Akte gelangt. Demgemäß schreibt das Gesetz in den § 129 Abs. 1, § 130 ZPO die Angabe eines bereits zugeordneten und mitgeteilten Aktenzeichens nicht vor. Die Angabe eines Aktenzeichens soll die Weiterleitung innerhalb des Gerichts erleichtern und für eine rasche Bearbeitung sorgen. Es handelt sich um eine Ordnungsmaßnahme, die für die Sachentscheidung ohne Bedeutung ist (ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs; vgl. BGH, Beschluss vom 10. Juni 2003 – VIII ZB 126/02 –, NJW 2003, S. 3418; Beschluss vom 15. April 1982 – IVb ZB 60/82 –, VersR 1982, S. 673; Beschluss vom 2. Oktober 1973 – X ZB 7/73 (BPatG) –, NJW 1974, S. 48).
Diese in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelten und die Maßstäbe des Art. 103 Abs. 1 GG zutreffend berücksichtigenden Grundsätze gelten auch dann, wenn das Amtsgericht – wie hier – sein Verfahren gemäß § 495a ZPO nach billigem Ermessen bestimmt hat. Die Beschwerdeführerin traf mithin auch keine gesteigerten Sorgfaltspflichten etwa deshalb, weil – wie das Amtsgericht meint – bei demselben Gericht in einem engen zeitlichen Zusammenhang mehrere Verfahren zwischen denselben Prozessbeteiligten mit zumindest teilweise identischen Streitgegenständen anhängig gewesen seien. Abgesehen davon, dass es sich ohnehin nur um zwei Verfahren gehandelt hat, von denen eines bereits durch Anerkenntnisurteil erledigt war, besteht auch grundsätzlich kein Bedürfnis dafür, Klägern derartige Sorgfaltspflichten aufzuerlegen. Wie das vorliegende Verfahren zeigt, bietet die Anhörungsrüge die Möglichkeit, durch Zuordnungsschwierigkeiten entstandene Probleme zu bewältigen. Dem hat sich das Amtsgericht allerdings verschlossen und den Gehörsverstoß damit perpetuiert.
3. Die Entscheidungen des Amtsgerichts beruhen auf diesem Gehörsverstoß. Der unberücksichtigt gebliebene Vortrag der Beschwerdeführerin ist erheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass seine Einführung in das Gerichtsverfahren das Amtsgericht dazu bewogen hätte, den Anspruch des Klägers in einer für die Beschwerdeführerin günstigeren Weise zu beurteilen.
III.
Die Kammer hebt nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG das Urteil vom 14. April 2010 und den Beschluss vom 12. Mai 2010 auf und verweist die Sache an das Amtsgericht zurück.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Voßkuhle, Gerhardt, Landau
Fundstellen
NJW 2013, 925 |
AUR 2013, 229 |