Verfahrensgang
Tenor
1. Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Berlin vom 22. Februar 2005 – VG 25 A 6.05 – und des Oberverwaltungsgerichts Berlin vom 22. März 2005 – OVG 3 S 17.05 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Verwaltungsgericht Berlin zurückverwiesen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
2. Das Land Berlin hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerde-Verfahren und für das Verfahren betreffend den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.
Damit erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe.
Tatbestand
I.
Der Beschwerdeführer begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen eine für sofort vollziehbar erklärte Ausweisungsverfügung mit Abschiebungsandrohung.
1. Der 1945 geborene Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger. Er lebt seit 1971 in Deutschland und ist seit 1983 im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung. Er ist mit einer türkischen Staatsangehörigen verheiratet, die ebenfalls seit über 30 Jahren in Deutschland lebt und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besitzt. Beide haben einen 1973 geborenen Sohn, der mittlerweile deutscher Staatsangehöriger ist. Seit 1975 war der Beschwerdeführer im Vorstand verschiedener islamischer Organisationen tätig. Von 1979 bis 2002 war er in der Mevlana Moschee in Berlin-Kreuzberg als muslimischer Geistlicher und bis Ende März 2003 in einem Sozialprojekt der Islamischen Föderation beschäftigt. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er seit einiger Zeit von Arbeitslosengeld; als Imam war er seit 2002 nur noch ehrenamtlich tätig.
a) Im Juni 2004 nahm der Beschwerdeführer als Redner an einer Kundgebung unter dem Titel „Sofortiger Stopp der Unmenschlichkeit im Namen der Demokratie im Irak und Verurteilung des brutalen Vorgehens des israelischen Militärs in Palästina” in Berlin-Kreuzberg teil. Er trug ein Gebet in zunächst arabischer, dann türkischer Sprache vor, das der Beschwerdeführer um aktuelle Bezugnahmen auf die Situation in Jerusalem und Bagdad ergänzte, dessen Übersetzung im Einzelnen aber streitig ist. Ausweislich der vorliegenden Übersetzung einer Tonbandaufnahme in Erkenntnissen des Verfassungsschutzes sagte der Beschwerdeführer:
„Gnade uns um derentwillen, deren Namen neben deinem Namen erwähnt werden, um der Märtyrer willen, die ihr Blut im Irak vergießen, um der Lämmer willen, die gestern und heute in Jerusalem und in Bagdad ihr Leben lassen, lass uns nicht zusammen mit den Ungläubigen in deinem Feuer verbrennen (…). Sollte uns in jenem Land, in diesem Land, noch bevor der Vogel unserer Seele unseren als Käfig dienenden Körper verlässt, der Märtyrertod vergönnt sein, dann lasse uns den schönsten des Märtyrertodes zuteil werden (…). Gesegnet sei Euer Kampf, angesehen sei Euer Kampf vor den Augen Gottes.”
b) In einem Beitrag der ZDF-Fernsehsendung „Frontal 21” vom November 2004 war u.a. ein rd. anderthalbminütiger Ausschnitt aus einer Freitagspredigt des Beschwerdeführers in türkischer Sprache in der Mevlana-Moschee in Berlin zu sehen. Der Predigttext wurde in dem Beitrag in deutscher Sprache wiedergegeben. Danach sagte der Beschwerdeführer:
„Es gibt Deutsche, die auch gut sind. Aber sie sind und bleiben doch Atheisten. Wozu nutzen sie also? Haben wir jemals einen Nutzen von ihnen gehabt? Auf der ganzen Welt noch nicht. Weil Gott mit ihnen Mitleid hatte, gab er ihnen Freuden im Diesseits, aber im Jenseits kann der Deutsche wegen seiner Ungläubigkeit nur das Höllenfeuer erwarten (…). Bei diesen Deutschen gab es keine Toiletten. In den Wohnungen waren keine Toiletten, als wir hierher kamen (…). Diese Deutschen, diese Atheisten, rasieren sich nicht unter den Armen. Ihr Schweiß verbreitet einen üblen Geruch und sie stinken. Sie benutzen daher Parfüm und haben deshalb eine ganze Parfümindustrie aufgebaut (…).”
c) Unter Bezugnahme auf diese Ausstrahlung wurde auf der Internetseite der Islamischen Föderation eine Entschuldigungserklärung des Beschwerdeführers veröffentlicht, wonach seine Äußerungen ehrverletzend und falsch gewesen seien und er um Verzeihung bitte.
d) Im November 2004 nahm der Beschwerdeführer an einem sog. Sicherheitsgespräch mit der Ausländerbehörde teil. Er bestritt, die Äußerungen wie in der ZDF-Sendung dargestellt getätigt zu haben. Diese seien aus dem Zusammenhang gerissen worden. Er habe sich entschuldigt, weil die Sache Unruhe gestiftet habe.
2. Die Ausländerbehörde wies den Beschwerdeführer im Dezember 2004 unter Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit aus und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei an. Der Beschwerdeführer habe mit seinen Äußerungen im Juni 2004 den internationalen Terrorismus unterstützt und die Sicherheit der Bundesrepublik gefährdet. Von ihm gehe auch weiterhin eine schwere Gefährdung aus, was sich darin zeige, dass er in dem Sicherheitsgespräch von den Äußerungen nicht ernstlich abgegangen sei. Auch die Fernsehsendung belege die Gefahr weiterer Äußerungen.
3. Hiergegen erhob der Beschwerdeführer Klage und beantragte die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Zur Begründung berief er sich im Wesentlichen darauf, er habe sich im Juni 2004 lediglich in der lyrischen Form eines Bittgebets geäußert. Die Übersetzung des Gebets durch die Gegenseite sei unzutreffend, wie ein Sachverständigengutachten zeige, wonach nicht von Märtyrern, sondern von Kriegsheimkehrern die Rede gewesen sei und Opferlämmer nicht mit Selbstmordattentätern gleichgesetzt werden könnten. Die in der ZDF-Sendung ausgestrahlten Äußerungen habe er so nicht gemacht. Die Entschuldigung sei lediglich zur Beruhigung der Situation und nicht als Schuldeingeständnis abgegeben worden.
a) Mit Beschluss vom 22. Februar 2005 lehnte das Verwaltungsgericht Berlin den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ab: Der Beschwerdeführer habe den Tatbestand der § 47 Abs. 2 Nr. 4, § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AuslG verwirklicht. Die Sicherheit der Bundesrepublik sei gefährdet. Bei dem im Juni 2004 vorgetragenen Text handele es sich nach dem maßgeblichen Empfängerhorizont in der konkreten Situation um eine gewaltverherrlichende Äußerung. Der Beschwerdeführer habe selbst aktuelle Einschübe in den Text vorgenommen und die emotional aufgewühlten Zuhörer miteinbezogen. Unabhängig von der im Einzelnen streitigen Formulierung enthielten die Zeilen eine Verherrlichung derjenigen, die im aktiven Kampf ihr Blut vergössen. Auch der Gutachter schließe nicht aus, dass die Zuhörer an Selbstmordattentäter gedacht haben könnten. In Bezug auf die Bundesrepublik könne der in Bezug genommene Glaubenstod nur ein aktiver, als Märtyrer selbst herbeigeführter sein. Eine wirkliche Abkehr des Beschwerdeführers sei nicht erfolgt, vielmehr zeige die ZDF-Sendung wiederum eine erhebliche Störung der öffentlichen Ordnung. Die dortigen Äußerungen seien intolerant, desintegrativ und beleidigend. Die in diesem Zusammenhang vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen seien unglaubhaft. Die dem Beschwerdeführer zuzurechnende Entschuldigung bestätige sein Fehlverhalten. Seine erhebliche Autorität wirke während der Anwesenheit im Bundesgebiet fort. Die Verfügung entspreche auch den europarechtlichen Anforderungen. Die Ermessensausübung sei fehlerfrei und berücksichtige die persönliche und familiäre Lebenssituation angemessen. Es bestehe auch ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Ausweisung.
b) Mit seiner Beschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, das Verwaltungsgericht gehe von falschen Anschlusstatsachen aus. Die zugrunde gelegte Übersetzung des Gedichts sei fehlerhaft. Das Zitieren des Gedichts sei zudem von der Meinungs- und Religionsfreiheit gedeckt und der Text entsprechend seiner historischen und religiösen Bedeutung auszulegen. Das Verwaltungsgericht nehme unzulässige Unterstellungen vor; ihm fehle die gebotene Sachkompetenz für die vorgenommene Würdigung. Die Voraussetzungen der §§ 54 f. AufenthG seien nicht erfüllt. Die Äußerungen in der ZDF-Sendung seien nicht hinreichend verifiziert, die nachträgliche Erklärung sei fehlerhaft gewürdigt worden. Die Prüfung des Sofortvollzugs sei nicht tragfähig.
c) Das Oberverwaltungsgericht Berlin wies die Beschwerde mit Beschluss vom 22. März 2005 zurück: Die Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 Nr. 8a AufenthG lägen vor. Der Gedichtvortrag sei nach der zutreffenden Interpretation des Verwaltungsgerichts eine gewaltverherrlichende, eine Assoziation zu Selbstmordattentaten und damit zu terroristischen Taten herstellende Äußerung, die in erheblichem Maße geeignet sei, die öffentliche Sicherheit der Bundesrepublik zu stören, und damit zugleich ein Grundinteresse der Gesellschaft im Sinne der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben berühre. Der Beschwerdeführer habe einen Bezug seiner Äußerungen zur Gegenwart hergestellt und Assoziationen nahe gelegt, die die vorgenommene Auslegung nach dem Empfängerhorizont stützten. Die Annahme einer gegenwärtigen schweren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie die Begründung der sofortigen Vollziehbarkeit seien nicht zu beanstanden.
4. Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung der Art. 2, Art. 4, Art. 5, Art. 6, Art. 19 Abs. 4, Art. 101 und Art. 103 Abs. 1 GG durch die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen. Die sofortige Vollziehbarkeit bedürfe nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der Rechtfertigung durch ein besonderes öffentliches Interesse. Dem würden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht, die lediglich die Ausweisungsgründe wiederholten. Begründete Anhaltspunkte für eine Wiederholungsgefahr bis zur Hauptsacheentscheidung lägen offenkundig nicht vor und seien auch nicht fehlerfrei festgestellt worden. Das vorgetragene Gedicht stelle in der zutreffenden Übersetzung und Interpretation weder eine Unterstützung terroristischer Organisationen noch eine Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik dar. Es handele sich um ein religiöses Bekenntnis, das unzulässigerweise tendenziös ausgelegt worden sei. Die Ebene der Meinungsäußerung sei nicht verlassen worden. Im Hinblick auf die Fernsehausstrahlung vom November 2004 fehle es an einer ernsthaften Verifizierung der bestrittenen Äußerungen. Das Verhalten des Beschwerdeführers nach der Sendung sei unzulässig interpretiert worden. Es sei eine präzise Grenzziehung zwischen tatsächlich schwer wiegenden Tathandlungen und bloßen, wenn auch moralisch verwerflichen Meinungsäußerungen geboten.
Die Unschuldsvermutung und der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs seien verletzt, weil ein bislang nicht bewiesener und nicht hinreichend aufgeklärter Sachverhalt unterstellt werde.
5. Die Senatsverwaltung für Justiz des Landes Berlin hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Von dieser Möglichkeit wurde nicht Gebrauch gemacht.
Entscheidungsgründe
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen Art. 19 Abs. 4 GG.
1. Der Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht entgegen. Der Beschwerdeführer hat deutlich gemacht, dass er bereits durch die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes in verfassungsmäßigen Rechten verletzt ist (vgl. zu diesem Erfordernis BVerfGE 35, 382 ≪397 f.≫; 53, 30 ≪53 f.≫; 59, 63 ≪83 f.≫; 76, 1 ≪40≫). Er greift die in den angegriffenen Entscheidungen vorgenommene Interessenabwägung und die Bestätigung der Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit und damit eine spezifische Besonderheit des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes an. Gerade in der Frage der sofortigen Vollziehbarkeit der Ausweisungsverfügung liegen die gerügten grundrechtsrelevanten Nachteile. Der Beschwerdeführer war daher nicht gehalten, vor der Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts zunächst den Rechtsweg in der Hauptsache zu durchlaufen.
2. Die Verfassungsbeschwerde wirft keine Fragen grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung auf (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zum effektiven Rechtsschutz bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die Verfahrensgewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG beschränkt sich danach nicht auf die Einräumung der Möglichkeit, die Gerichte gegen Akte der öffentlichen Gewalt anzurufen, sie gibt dem Bürger darüber hinaus einen Anspruch auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes verlangt nicht nur, dass jeder Akt der Exekutive in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der richterlichen Prüfung unterstellt ist, vielmehr müssen die Gerichte den betroffenen Grundrechten auch tatsächliche Wirksamkeit verschaffen (vgl. BVerfGE 35, 263 ≪274≫; 40, 272 ≪275≫; 67, 43 ≪58≫; stRspr).
3. Die angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG. Beide Entscheidungen verkennen die grundrechtliche Bedeutung des Rechtsschutzbegehrens des Beschwerdeführers und die daran anknüpfenden Erfordernisse an die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.
a) Der in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgten Garantie eines umfassenden und effektiven Rechtsschutzes kommt wesentliche Bedeutung bereits für den vorläufigen Rechtsschutz zu, dessen Versagung vielfach irreparable Folgen hat. Die nach § 80 Abs. 1 VwGO für den Regelfall vorgeschriebene aufschiebende Wirkung von Widerspruch und verwaltungsgerichtlicher Klage ist insoweit eine adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie und ein fundamentaler Grundsatz des öffentlich-rechtlichen Prozesses. Andererseits gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG die aufschiebende Wirkung der Rechtsbehelfe im Verwaltungsprozess nicht schlechthin. Überwiegende öffentliche Belange können es rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Für die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit eines Verwaltungsaktes ist daher nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Der Rechtsschutzanspruch des Bürgers ist dabei umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwer wiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme der Verwaltung Unabänderliches bewirkt (vgl. BVerfGE 35, 382 ≪401 f.≫; 69, 220 ≪227 f.≫; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Januar 1996 – 2 BvR 2718/95 –, AuAS 1996, S. 62 ≪63≫).
b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht; sie lassen hinreichende, auf Tatsachen gestützte Feststellungen des Inhalts vermissen, es bestehe die begründete Besorgnis, die vom Beschwerdeführer ausgehende, mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr werde sich bereits vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens realisieren. Stattdessen wird lediglich behauptet, dass bis zu einer Hauptsacheentscheidung eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Deutschland drohe.
Ein überragendes öffentliches Vollzugsinteresse wird allein aus einer antizipierten Beweiswürdigung, der Anwesenheit des Beschwerdeführers im Bundesgebiet und seiner mangelnden Abkehr von Äußerungen, deren Inhalt streitig ist, gefolgert. Hierbei handelt es sich jedoch im Wesentlichen um bloße Vermutungen dahin, der Beschwerdeführer könne entgegen seinen Einlassungen im Hintergrund weiterwirken. Hinreichend festgestellte staatliche Sicherheitsinteressen von erheblichem Gewicht, die – jenseits des Interesses an der Beendigung des Aufenthalts des Beschwerdeführers – ausnahmsweise einen Sofortvollzug der Ausweisungsverfügung rechtfertigen könnten, werden nicht dargelegt.
c) Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung für diese Verkürzung effektiven Rechtsschutzes ist nicht ersichtlich. Die Prüfung des besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehbarkeit ist vorliegend nicht zuletzt deshalb unerlässlich, weil sich die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung – jedenfalls nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand – nicht ohne weiteres erschließt.
Das den angegriffenen Entscheidungen zugrunde gelegte Verständnis der Äußerungen des Beschwerdeführers ist angesichts des Wortlauts, der, wie beide Entscheidungen zutreffend erkannt haben, allenfalls assoziative Bezüge hat und in dem nach Einschätzung des Sachverständigen beispielsweise nicht von Märtyrern, sondern von Kriegsheimkehrern die Rede ist, keineswegs gesichert. Dass zahlreiche Zweifelsfragen bestehen, verdeutlichen nicht zuletzt die Ausführungen des Sachverständigen.
aa) Das Verwaltungsgericht legt seiner Einschätzung im Ansatz eine vom Sachverständigen so nicht bestätigte Übersetzung des religiösen Gedichts zugrunde und bewertet die Äußerung nach dem für maßgeblich erachteten Empfängerhorizont als gewaltverherrlichend. Das aber gibt das Sachverständigengutachten nicht her. Der Sachverständige hat lediglich nicht ausschließen können, dass die Zuhörer an Selbstmordattentäter gedacht haben könnten. Eine Verklärung von Selbstmordattentätern oder gar einen Aufruf zur Nachahmung hat er jedoch gerade ausdrücklich verneint. Das übergehen die angegriffenen Entscheidungen.
bb) Auch die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts steht mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht in Einklang. Dies folgt nicht nur daraus, dass das Gericht die Verfahrensweise des Verwaltungsgerichts billigt. Vielmehr entspricht das Oberverwaltungsgericht mit seiner Entscheidung auch selbst nicht dem verfassungsrechtlichen Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes.
Eröffnet das Prozessrecht eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG dem Bürger in diesem Rahmen die Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne eines Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Das Rechtsmittelgericht darf ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leerlaufen” lassen (vgl. BVerfGE 78, 88 ≪99≫; 96, 27 ≪39≫).
Das Oberwaltungsgericht hat hier erstmals die zum 1. Januar 2005 in Kraft getretene Ermächtigungsgrundlage des § 55 Abs. 2 Nr. 8a AufenthG herangezogen, wonach ein Ausländer ausgewiesen werden kann, wenn er öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht in einer Weise billigt oder dafür wirbt, die geeignet ist, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu stören. Damit soll „geistigen Brandstiftern” so frühzeitig wie möglich begegnet werden, um gewichtige staatliche (Sicherheits-)Interessen zu wahren. Das erfordert angesichts der schwer wiegenden Folgen der Ausweisung für den Beschwerdeführer unter dem Gesichtspunkt effektiven Rechtsschutzes hinreichend belastbare Feststellungen bereits im Eilverfahren.
Hier fehlt es jedoch schon an der erforderlichen Aufbereitung der Ermächtigungsgrundlage und ihrer tatbestandlichen Einzelelemente. Demgemäß bleibt die Rechtsanwendung des Oberverwaltungsgerichts unscharf und ermangelt der auch im summarischen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes unentbehrlichen Zuordnung von Fakten zu den einzelnen Merkmalen der Befugnisnorm. Sie ist deshalb nicht geeignet, die sofortige Beendigung des Aufenthalts des Beschwerdeführers zu tragen.
4. Die angegriffenen Beschlüsse beruhen auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerichte bei hinreichender Berücksichtigung der sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Vorgaben zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wären.
5. Die Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG die angegriffenen Beschlüsse auf und verweist die Sache an das Verwaltungsgericht zurück. Darauf, ob die weiter gerügten Verfassungsverstöße vorliegen, kommt es nicht an.
III.
Mit dieser Entscheidung erledigt sich zugleich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
IV.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
Mit der Anordnung der Erstattung der notwendigen Auslagen erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das vorliegende Verfahren (vgl. BVerfGE 62, 392 ≪397≫; 71, 122 ≪136 f.≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Unterschriften
Jentsch, Broß, Gerhardt
Fundstellen
NJW 2005, 3275 |
NVwZ 2005, 1053 |
InfAuslR 2005, 372 |
NPA 2006, 0 |
BAnz 2006, 28 |