Verfahrensgang
AG Coburg (Beschluss vom 02.12.2008; Aktenzeichen 053 UR II 1025/08) |
AG Coburg (Beschluss vom 03.11.2008; Aktenzeichen 053 UR II 1025/08) |
AG Coburg (Beschluss vom 23.10.2008; Aktenzeichen 053 UR II 1025/08) |
AG Coburg (Beschluss vom 23.09.2008; Aktenzeichen 053 UR II 1025/08) |
AG Coburg (Beschluss vom 15.08.2008; Aktenzeichen 053 UR II 1025/08) |
Tenor
Die Beschlüsse des Amtsgerichts Coburg vom 2. Dezember 2008 – 053 UR II 1025/08 –, vom 3. November 2008 – 053 UR II 1025/08 –, vom 23. Oktober 2008 – 053 UR II 1025/08 –, vom 23. September 2008 – 053 UR II 1025/08 – und vom 15. August 2008 – 053 UR II 1025/08 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 und Absatz 3 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Coburg zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Beratungshilfe nach dem Gesetz über Rechtsberatung und Vertretung für Bürger mit geringem Einkommen (Beratungshilfegesetz – BerHG).
I.
1. Der Beschwerdeführer erhielt von dem zuständigen Jobcenter einen Bescheid, mit dem das Arbeitslosengeld II für drei Monate um 30 vom Hundert der maßgebenden Regelleistung abgesenkt wurde, weil er ein ihm zumutbares Arbeitsangebot als Leiharbeiter abgelehnt habe. Er beantragte beim Amtsgericht erfolglos Beratungshilfe für die Begründung des von ihm selbst eingelegten Widerspruchs. Die zuständige Rechtspflegerin wies den Antrag zurück. Es werde grundsätzlich keine Beratungshilfe für Widersprüche gegen Bescheide des Jobcenters gewährt.
Die Erinnerung, der die Rechtspflegerin durch Beschluss nicht abgeholfen hat, wurde mit richterlichem Beschluss zurückgewiesen. Dem Antragsteller stünde als andere Möglichkeit der Hilfe gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG das Jobcenter zur Verfügung. Das rechtliche Bedürfnis des Antragstellers könne durch eine behördliche Abhilfeentscheidung befriedigt werden. Der Antragsteller müsse zumindest versuchen, seine Auffassung zur Zumutbarkeit der angebotenen Arbeit und seine körperlichen Beschwerden selbst darzulegen.
In einem weiteren richterlichen Beschluss, mit dem ein versehentlich unberücksichtigter Schriftsatz des Beschwerdeführers als Gegenvorstellung behandelt wurde, wurde ausgeführt, dass die Inanspruchnahme anwaltlichen Beistands nicht zwingend erforderlich gewesen wäre. Der Beschwerdeführer habe ein Gesprächsangebot des Jobcenters nicht wahrgenommen. Es komme nicht darauf an, dass der Antragsteller Kenntnis von den gesetzlichen Regelungen habe.
Mit der Anhörungsrüge wies der Bevollmächtigte erneut darauf hin, dass bei dem Fall rechtliche Probleme wie insbesondere die Frage einer rechtzeitigen Rechtsfolgenbelehrung eine entscheidende Rolle gespielt hätten. Im zurückweisenden richterlichen Beschluss wurde ergänzend darauf hingewiesen, dass Rechtsprobleme erst dann eine Rolle spielen könnten, wenn vorher zumindest versucht worden sei, den Sachverhalt, der der rechtlichen Beurteilung unterzogen werden solle, umfassend darzustellen.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer, dass die angegriffenen Entscheidungen gegen Art. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip, Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG und sinngemäß gegen die Rechtswahrnehmungsgleichheit verstießen.
3. Von Seiten des Freistaats Bayern wurde von einer Stellungnahme abgesehen.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt.
2. Die Verfassungsbeschwerde erweist sich danach als begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG).
Es wird insoweit auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Mai 2009 – 1 BvR 1517/08, AnwBl 2009, S. 645-649 – verwiesen, wonach die vom Amtsgericht befürwortete Auslegung des Beratungshilfegesetzes, dass es einem Rechtsuchenden zumutbar sei, selbst kostenlos Widerspruch einzulegen und dabei die Beratung derjenigen Behörde in Anspruch zu nehmen, die zuvor den Ausgangsverwaltungsakt erlassen hat, nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht.
Das Amtsgericht hat keine ausreichenden Umstände angeführt, die die Notwendigkeit fremder Hilfe hier in Frage stellen könnten. Soweit es die Erforderlichkeit der anwaltlichen Hilfe deshalb verneint, weil es den Antragsteller in der Pflicht sieht, zunächst selbst die relevanten Tatsachen vorzutragen, wird dies im vorliegenden Fall dem Vergleich mit dem bemittelten Rechtsuchenden nicht gerecht. Eine effektive Verteidigung besteht hier nicht nur in der Richtigstellung eines auch ohne Rechtskenntnisse durchschaubaren Sachverhalts. Insoweit kann die Rolle des Widerspruchsführers auch nicht darauf reduziert werden, der Behörde im Gespräch Auskunft zu geben. Vielmehr ist die Kenntnis und Würdigung rechtlicher Normen erforderlich, um die entsprechenden relevanten Tatsachen vorzutragen. Dabei überschreitet die Verweisung auf die rechtliche Beratung durch dieselbe Behörde, deren Entscheidung die Beschwerdeführerin angreifen will, die Grenze der Zumutbarkeit (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 11. Mai 2009, a.a.O.).
III.
Die angegriffenen Entscheidungen werden gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht zurückverwiesen, das erneut zu entscheiden hat.
Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Hohmann-Dennhardt, Gaier, Kirchhof
Fundstellen